Urteil des BGH vom 27.04.2004
Leitsatzentscheidung
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 34/03
Verkündet am:
27. April 2004
Böhringer-Mangold,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
BGB § 823 Aa, C; ZPO § 286 G
Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich einge-
tretenen Art herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Be-
weislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und
dem Gesundheitsschaden. Dafür reicht aus, daß der grobe Behandlungsfehler ge-
eignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahelegen oder wahrschein-
lich machen muß der Fehler den Schaden hingegen nicht.
BGH, Urteil vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03 - OLG Braunschweig
LG Braunschweig
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 27. April 2004 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter
Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Braunschweig vom 16. Januar 2003 im Ko-
stenpunkt, soweit nicht über die Kosten des Beklagten zu 2 ent-
schieden worden ist, und insoweit aufgehoben, als im Verhältnis
zu den Beklagten zu 1, 3, 4 und 5 zum Nachteil der Klägerin er-
kannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen be-
haupteter ärztlicher Behandlungsfehler.
Nach einem Motorradunfall am 10. Mai 1998 wurde die Klägerin in das
von der Beklagten zu 1 betriebene Krankenhaus, in dem die Beklagten zu 3 bis
5 als Ärzte tätig waren, eingeliefert. Es wurde festgestellt, daß sie sich einige
Rippen, den dritten Lendenwirbelkörper und das Schulterblatt gebrochen hatte.
Nicht bemerkt wurde, daß sie darüber hinaus eine Beckenringfraktur mit einem
Sakrumkompressionsbruch rechts davongetragen hatte. Zunächst wurde ihr
Bettruhe verordnet. Ab 11. Juni 1998 wurde die Klägerin mobilisiert. Eine Entla-
stung durch Unterarmgehstützen erfolgte dabei nicht. Einen Tag nach Beginn
der Mobilisierung verspürte sie Schmerzen beim Gehen, worauf sie die Schwe-
stern und die behandelnden Ärzte hinwies. Die Beklagten zu 3 bis 5 untersuch-
ten die Klägerin zwar, veranlaßten jedoch keine Röntgenaufnahmen, so daß die
Beckenringfraktur weiterhin nicht festgestellt wurde. Sie verordneten auch bei
der weiteren Mobilisierung keine (Teil)entlastung durch Unterarmgehstützen.
Am 17. Juni 1998 wurde die Klägerin entlassen. Wegen fortdauernder Be-
schwerden begab sie sich anderweitig in ärztliche Behandlung. Im Rahmen die-
ser Behandlung wurde am 3. Juli 1998 mit Hilfe einer Beckenübersichtsauf-
nahme der Beckenringbruch diagnostiziert. Dieser Bruch ist mit einer leichten
Verschiebung zusammengewachsen. In einem Gutachten des ärztlichen Dien-
stes vom 17. Februar 1999 wurde eine nicht korrekte Ausheilung der Fraktur mit
verbliebener Pseudarthrose festgestellt.
Die Klägerin behauptet, es sei behandlungsfehlerhaft gewesen, daß die
Beckenringfraktur nicht schon im Krankenhaus erkannt und mit der Mobilisie-
rung nicht zugleich eine Teilentlastung angeordnet worden sei. Auf diese Be-
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handlungsfehler sei die bei ihr festgestellte Pseudarthrose zurückzuführen. Als
Folge der Fehlbehandlung leide sie außerdem unter ständigen Schmerzen u.a.
in der rechten Leiste, der rechten Gesäßhälfte, beim Liegen und beim Ge-
schlechtsverkehr sowie unter einem Dranggefühl.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin die Zahlung eines
Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 20.451,68 € sowie die Feststel-
lung, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihr sämtliche
nach dem 1. April 2000 entstehenden materiellen Schäden aus ihrer stationären
Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 1 zu erstatten, soweit solche
Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegan-
gen sind.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat
die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abwei-
sung der Klage gegen den Beklagten zu 2 richtete. Auf die Berufung der Kläge-
rin hat es die Beklagten zu 1, 3, 4 und 5 zur Zahlung eines Schmerzensgelds in
Höhe von 3.000 € nebst Zinsen verurteilt. Die weitergehende Berufung hat es
zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Revision der Klägerin,
mit der diese den vollen Klageantrag gegen die Beklagten zu 1, 3, 4 und 5 wei-
terverfolgt.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Klägerin könne von der Be-
klagten zu 1 und von den Beklagten zu 3 bis 5 die Zahlung eines Schmerzens-
geldes in Höhe von 3.000 € verlangen. Den Beklagten sei als Behandlungsfeh-
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ler anzulasten, daß sie keine Röntgenaufnahme des Beckens anfertigen ließen,
obwohl die Klägerin im Anschluß an die Mobilisierung über Schmerzen geklagt
habe. Mit Hilfe dieser - medizinisch gebotenen - diagnostischen Maßnahme
wäre die Beckenringfraktur nämlich festgestellt worden. Alsdann wäre es
schlechthin unverständlich und grob fehlerhaft gewesen, die Mobilisierung ohne
Teilentlastung durch Unterarmgehstützen fortzusetzen. Als Folgen des Behand-
lungsfehlers habe die Klägerin vom Abend des zweiten Tages nach Beginn der
Mobilisierung bis zur Feststellung des Beckenringbruchs am 3. Juli 1998 unter
vermeidbaren Schmerzen gelitten. Dazu habe sich der Heilungsprozeß ent-
sprechend verzögert. Zwar könne die Klägerin nicht den Vollbeweis dafür füh-
ren, daß diese Schadensfolgen auf den Behandlungsfehler zurückzuführen sei-
en. Ihr kämen jedoch hinsichtlich der Ursächlichkeit Beweiserleichterungen
nach den Grundsätzen zur Verletzung der Pflicht zur Erhebung und Sicherung
medizinischer Befunde zugute, weshalb insoweit die Wahrscheinlichkeit der
Verursachung für den Kausalitätsnachweis ausreiche.
Hingegen könne nicht festgestellt werden, daß das Nichterkennen der
Beckenringfraktur nach Beginn der Mobilisierung zu weitergehenden negativen
Folgen für die Klägerin geführt habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
sei davon auszugehen, daß es weder während der Bettlägerigkeit der Klägerin
noch bei ihrer anschließenden Mobilisierung zu einer Verschiebung des Bru-
ches gekommen sei. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte sich am Heilungsver-
lauf nichts verändert, wenn die Beckenringfraktur bereits früher festgestellt und
dementsprechend eine Teilentlastung durch Unterarmgehstützen bei Beginn
der Mobilisierung angeordnet worden wäre. Zwar sei nicht völlig auszuschlie-
ßen, daß der festgestellte Behandlungsfehler gewisse Auswirkungen auf den
Heilungsverlauf und das Heilungsergebnis gehabt habe. Dies sei im Ergebnis
aber so unwahrscheinlich, daß auch unter Berücksichtigung der grundsätzlich
möglichen Beweiserleichterungen nicht von einer Mitursächlichkeit des Behand-
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lungsfehlers für die von der Klägerin geltend gemachten weiteren Folgen aus-
gegangen werden könne. Allerdings scheide nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs zum groben Behandlungsfehler eine mögliche Beweislast-
umkehr nur dann aus, wenn es gänzlich unwahrscheinlich sei, daß der grobe
Behandlungsfehler zu dem eingetretenen Körperschaden des Patienten geführt
habe. Ein derartiger Grad an Unwahrscheinlichkeit werde hier nicht anzuneh-
men sein, weil der Sachverständige einen Wahrscheinlichkeitsgrad von bis 90%
dafür genannt habe, daß sich am Heilungsverlauf nichts verändert habe. Je-
doch müßten dem Patienten Beweiserleichterungen zur Kausalität auch dann,
wenn die Voraussetzungen dafür grundsätzlich vorlägen, nicht notwendigerwei-
se zugebilligt werden. Außerdem müsse nicht stets die sehr weitgehende Form
der Umkehr der (subjektiven) Beweislast zum Tragen kommen. Vielmehr gebe
es auch Beweiserleichterungen unterhalb der Schwelle der Beweislastumkehr.
Es liege in der Verantwortung des Tatrichters, im Einzelfall über die Zubilligung
von Beweiserleichterungen sowie über deren Umfang, Qualität und jeweilige
Reichweite zu entscheiden.
Nach diesen Grundsätzen komme vorliegend eine Beweislastumkehr in
der Kausalitätsfrage jedenfalls nicht für denjenigen Körperschaden in Betracht,
der über vermeidbare Schmerzen und eine verzögerte Heilung in dem Zeitraum
zwischen Beginn der Mobilisierung und Feststellung des Beckenringbruchs hi-
nausgehe. Dafür sei neben der vergleichsweise hohen Wahrscheinlichkeit, daß
sich das verzögerte Erkennen des Beckenringbruchs auf den weiteren Hei-
lungsverlauf nicht ausgewirkt habe, der Umstand maßgeblich, daß die versäum-
te Befunderhebung für die Aufklärung des Sachverhalts keine wesentlichen
Schwierigkeiten herbeigeführt habe. Daß eine Beckenringfraktur des später
festgestellten Typs schon beim Unfall entstanden sei, lasse sich auch aus den
nachträglich angefertigten Röntgenaufnahmen feststellen. Unabhängig vom
Zeitpunkt der Feststellung der Fraktur stehe fest, daß die konservative Behand-
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lung mit der tatsächlich erfolgten vierwöchigen Bettruhe eine zumindest gut ver-
tretbare Behandlungsmethode gewesen sei. Schließlich komme es bei derarti-
gen Frakturen in einer größeren Zahl der Fälle auch bei fehlerfreier Behandlung
zur Ausbildung einer Pseudarthrose und zu einem für den Patienten unbefriedi-
genden Heilungsergebnis. Die Klägerin sei daher beweisfällig geblieben. Be-
weiserleichterungen unterhalb der Beweislastumkehr würden ihr angesichts der
hohen Wahrscheinlichkeit, daß sich bei früherem Erkennen der Fraktur und
Mobilisierung unter Teilentlastung durch Unterarmgehstützen am späteren Hei-
lungsverlauf nichts geändert hätte, nicht weiterhelfen.
Die Berufung habe auch hinsichtlich des Feststellungsantrags keinen Er-
folg. Da Folgen des Behandlungsfehlers ausschließlich für die Zeit bis zum
3. Juli 1998 hätten festgestellt werden können, bestünden keine Anhaltspunkte
für die Möglichkeit künftiger materieller Schäden als Folge des Behandlungsfeh-
lers.
II.
Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand.
1. Ohne Rechtsfehler und von der Revision als ihr günstig nicht angegrif-
fen hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, daß eine Abklärung der
von der Klägerin nach Beginn der Mobilisierung geklagten Schmerzen durch
eine Röntgenaufnahme hätte veranlaßt werden müssen, daß die Beckenring-
fraktur bei dieser Untersuchung erkannt worden wäre und daß eine Fehlreakti-
on auf diesen Befund, insbesondere eine Fortsetzung der Mobilisierung ohne
gleichzeitige (Teil)Entlastung durch Unterarmgehstützen schlechthin unver-
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ständlich und grob fehlerhaft gewesen wäre. Die Revision wendet sich auch
nicht gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, es sei zwar nicht auszu-
schließen, daß der festgestellte Behandlungsfehler die Pseudarthrose und die
weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin mitverursacht habe,
dies sei jedoch unwahrscheinlich, wenn auch nicht gänzlich unwahrscheinlich.
2. Auf dieser Grundlage beanstandet die Revision jedoch zu Recht, daß
das Berufungsgericht eine Beweislastumkehr hinsichtlich der ursächlichen
Auswirkungen des Behandlungsfehlers verneint hat.
a) Das Berufungsgericht meint, aus der Rechtsprechung des erkennen-
den Senats ergebe sich, daß es in der Verantwortung des Tatrichters im Einzel-
fall liege, über die Zubilligung von Beweiserleichterungen sowie über Umfang
und Qualität der eintretenden Beweiserleichterungen zu entscheiden. Das trifft
jedoch in dieser Form nicht zu.
b) Zwar hat der erkennende Senat verschiedentlich die Formulierung
verwendet, daß ein grober Behandlungsfehler, der geeignet sei, einen Schaden
der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, für den Patienten „zu Beweis-
erleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast“ führen könne (vgl. Senats-
urteile BGHZ 72, 132, 133 f.; 85, 212, 215 f.; vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80 -
VersR 1981, 954, 955; vom 7. Juni 1983 - VI ZR 284/81 - VersR 1983, 983,
984; vom 29. März 1988 - VI ZR 185/87 - VersR 1988, 721, 722; vom 18. April
1989 - VI ZR 221/88 - VersR 1989, 701 f.; vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 -
VersR 1997, 362, 363). Insofern kommt jedoch dem Begriff "Beweiserleichte-
rungen" gegenüber der Beweislastumkehr keine eigenständige Bedeutung bei.
Soweit es in einigen Entscheidungen heißt (vgl. Senatsurteile vom
28. Juni
1988 - VI ZR 217/87 – VersR 1989, 80, 81; vom 26. Oktober 1993
- VI ZR 155/92 - VersR 1994, 52, 53; vom 4. Oktober 1994 - VI ZR 205/93 -
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VersR 1995, 46, 47), daß das Ausmaß der dem Patienten zuzubilligenden Be-
weiserleichterungen im Einzelfall danach abzustufen sei, in welchem Maße we-
gen der besonderen Schadensneigung des Fehlers das Spektrum der für den
Mißerfolg in Betracht kommenden Ursachen verbreitert oder verschoben wor-
den sei, betrifft dies die Schadensneigung des groben Behandlungsfehlers, also
die Frage seiner Eignung, den Gesundheitsschaden des Patienten herbeizufüh-
ren. Insoweit geht es um die Bewertung und beweisrechtlichen Konsequenzen
eines groben Behandlungsfehlers im konkreten Einzelfall.
c) Das hat der erkennende Senat in zahlreichen neueren Entscheidun-
gen verdeutlicht und dabei klargestellt, daß es der Sache nach um die Umkehr
der Beweislast geht und daß deren Verlagerung auf die Behandlungsseite im
Hinblick auf die geringe Schadensneigung des Fehlers nur ausnahmsweise
dann ausgeschlossen ist, wenn der Ursachenzusammenhang zwischen grobem
Behandlungsfehler und Schaden gänzlich bzw. äußerst unwahrscheinlich ist
(vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 6, 12; 138, 1, 8; vom 24. September 1996
- VI ZR 303/95 - VersR 1996, 1535, 1536; vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 -
VersR 1997, 362, 364; vom 27. Januar 1998 - VI ZR 339/96 - VersR 1998, 585,
586; vom 27. Juni 2000 - VI ZR 201/99 - VersR 2000, 1282, 1283).
d) Bei dieser Betrachtungsweise kann der Formulierung „Beweiserleich-
terungen bis hin zur Beweislastumkehr“ nicht die Bedeutung zukommen, die
das Berufungsgericht ihr beilegen will. Vielmehr führt ein grober Behandlungs-
fehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbei-
zuführen, grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ur-
sächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Ge-
sundheitsschaden. Dafür reicht aus, daß der grobe Behandlungsfehler geeignet
ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahelegen oder wahrscheinlich
machen muß der Fehler den Schaden hingegen nicht (vgl. Senatsurteile BGHZ
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85, 212, 216 f.; vom 24. September 1996 - VI ZR 303/95 - aaO - jeweils m.w.N.;
vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 - aaO; Nichtannahmebeschluß vom 3. Mai
1994 - VI ZR 340/93 - VersR 1994, 1067). Deshalb ist eine Verlagerung der
Beweislast auf die Behandlungsseite nur ausnahmsweise ausgeschlossen,
wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst un-
wahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 6, 12; 138, 1, 8; vom
24. September 1996 - VI ZR 303/95 - aaO; vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 -
aaO; vom 27. Januar 1998 - VI ZR 339/96 - aaO; vom 27. Juni 2000
- VI ZR 201/99 - aaO). Gleiches gilt, wenn sich nicht das Risiko verwirklicht hat,
dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen läßt (vgl. Senatsurteil
vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80 - aaO) oder wenn der Patient durch sein Ver-
halten eine selbständige Komponente für den Heilungserfolg vereitelt hat und
dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu
beigetragen hat, daß der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr auf-
geklärt werden kann (vgl. KG, VersR 1991, 928 mit Nichtannahmebeschluß des
Senats vom 19. Februar 1991 - VI ZR 224/90; OLG Braunschweig, VersR 1998,
459 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 20. Januar 1998
- VI ZR 161/97). Das Vorliegen einer derartigen Ausnahmekonstellation hat al-
lerdings der Arzt zu beweisen (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 1981
- VI ZR 38/80 - aaO; vom 28. Juni 1988 - VI ZR 217/87 - aaO; Groß, Festschrift
für Geiß, S. 429, 431).
e) Liegen die oben dargestellten Voraussetzungen für eine Beweislast-
umkehr vor, so darf sich der Tatrichter nicht darauf beschränken, dem Patienten
statt der vollen Beweislastumkehr lediglich abgestufte Beweiserleichterungen
zu gewähren, die im übrigen - wie das Berufungsgericht erkennt - der durch den
Behandlungsfehler geschaffenen Beweisnot nicht abhelfen könnten.
Diese Be-
trachtungsweise trägt auch den im Schrifttum geäußerten Bedenken Rechnung,
daß ein "Ermessen" des Tatrichters bei der Anwendung von Beweislastregeln
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dem Gebot der Rechtssicherheit zuwiderlaufen würde. Nach diesem müssen
der Rechtssuchende bzw. sein Anwalt in der Lage sein, das Prozeßrisiko in tat-
sächlicher Hinsicht abzuschätzen. Des weiteren würde die Gleichheit der
Rechtsanwendung infolge richterlicher Willkür gefährdet sein (vgl. Laumen,
NJW 2002, 3739, 3741 m.w.N.; Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivil-
prozeß S. 21, 26; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 468 f.; Baumgärtel, Handbuch
der Beweislast, 2. Aufl., § 823 Anhang C II Rdn. 3; Laufs-Uhlenbruck, Hand-
buch des Arztrechts, § 110 Rdn. 3). Deshalb erfolgt die Zuweisung des Risikos
der Klärung eines entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmals und damit
die Verteilung der objektiven Beweislast in abstrakt-genereller Form. Sie muß
vor dem Prozeß grundsätzlich feststehen und kann auch während des Prozes-
ses nicht ohne weiteres vom Gericht nach seinem Ermessen verändert werden
(vgl. BVerfG, NJW 1979, 1925; Laumen, NJW 2002, aaO). Eine flexible und
angemessene Lösung wird im Arzthaftungsprozeß im Einzelfall dadurch ge-
währleistet, daß dem Tatrichter die Wertung des Behandlungsgeschehens als
grob fehlerhaft vorbehalten ist, wobei er freilich die Ausführungen des medizini-
schen Sachverständigen zugrundezulegen hat (vgl. Senatsurteile BGHZ 138, 1,
6 f.; vom 3. Juli 2001 - VI ZR 418/99 - VersR 2001, 1116 f. und vom 29. Mai
2001 - VI ZR 120/00 - VersR 2001, 1030 f. jeweils m.w.N.).
f) Diese dargestellten Grundsätze gelten nicht nur für den Nachweis des
Kausalzusammenhangs zwischen einem groben Behandlungsfehler und dem
eingetretenen Gesundheitsschaden, sie gelten entsprechend für den Nachweis
des Kausalzusammenhangs bei einem einfachen Befunderhebungsfehler, wenn
- wie im vorliegenden Fall - zugleich auf einen groben Behandlungsfehler zu
schließen ist, weil sich bei der unterlassenen Abklärung mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte,
daß sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als
grob fehlerhaft darstellen würde, d.h. für die zweite Stufe der vom Senat ent-
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wickelten Beweiserleichterungen nach einem einfachen Befunderhebungsfehler
(vgl. dazu Senatsurteile BGHZ 132, 47, 52 ff.; vom 6. Juli 1999 - VI ZR 290/98 –
VersR 1999, 1282, 1283; vom 29. Mai 2001 – VI ZR 120/00 – aaO; vom 8. Juli
2003 - VI ZR 394/02 – VersR 2003, 1256, 1257; vom 23. März 2004
- VI ZR 428/02 - zur Veröffentlichung vorgesehen - jeweils m.w.N.; Groß, aaO,
S. 429, 432 ff.; Steffen, Festschrift für Hans Erich Brandner, S. 327, 334 ff.). Ist
das Verkennen des gravierenden Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn gene-
rell geeignet, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizufüh-
ren, tritt also - wenn nicht ein Ursachenzusammenhang zwischen dem ärztli-
chen Fehler und dem Schaden äußerst unwahrscheinlich ist - grundsätzlich ei-
ne Beweislastumkehr ein. In einem derartigen Fall führt nämlich bereits das
- nicht grob fehlerhafte - Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein
grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsicht-
lich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gra-
vierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge,
daß hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht
kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird (Groß, aaO,
S. 435).
g) So verhält es sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts
auch im vorliegenden Fall. Der (einfache) Befunderhebungsfehler der Beklagten
hat die gebotene und zur Vermeidung des eingetretenen Schadens geeignete
Reaktion auf die Beckenringfraktur verhindert und damit die Aufklärung des
hypothetischen weiteren Krankheitsverlaufs, der für die Klägerin erheblich gün-
stiger hätte sein können, erschwert. Mithin hätte sich ohne das Fehlverhalten
der Beklagten gezeigt, ob bei der Klägerin auch bei fehlerfreier Behandlung des
Beckenringbruchs Dauerfolgen in Form einer Pseudarthrose und von andau-
ernden Schmerzen aufgetreten wären.
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III.
Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Es ist auf-
zuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuver-
weisen.
Müller
Greiner
Diederichsen
Pauge
Zoll