Urteil des BGH vom 18.10.2004

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, zpo, ausbildung, freiburg, beginn, begründung, organisation, verletzung, sicherung, aufklärungspflicht)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
II ZB 30/03
vom
18. Oktober 2004
in dem Rechtsstreit
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Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat am 18. Oktober 2004
durch
den
Vorsitzenden
Richter
Dr. h.c. Röhricht
und
die
Richter
Prof. Dr. Goette, Kraemer, Dr. Strohn und Caliebe
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde der Beklagten gegen den Beschluß des
Oberlandesgerichts Karlsruhe - 14. Zivilsenat in Freiburg - vom
15. Oktober 2003 wird auf ihre Kosten als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
50.106,60 €.
Gründe:
I. Das Landgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 13. Juli 2001 verurteilt,
an den Kläger 98.000,00 DM zu zahlen. Das Urteil wurde der Beklagten am
17. Juli 2001 zugestellt. Am 17. August 2001 hat sie hiergegen Berufung einge-
legt. Auf Antrag der Beklagten wurde die Frist zur Begründung der Berufung bis
zum 17. November 2001 - einem Samstag - verlängert. Die Berufungsbegrün-
dung ging am Montag, dem 19. November 2001, beim Landgericht Freiburg ein,
das sie am 20. November 2001 an das Oberlandesgericht Karlsruhe, Außense-
nate Freiburg, weitergeleitet hat. Der Schriftsatz ist von der bei den Prozeßbe-
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vollmächtigten der Beklagten in der Ausbildung befindlichen S. B. am
Spätnachmittag des 19. November 2001 in den Nachtbriefkasten des Landge-
richts Freiburg eingeworfen worden. Nachdem die Beklagte mit Verfügung vom
26. November 2001 auf den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung
hingewiesen worden ist, hat sie am 11. Dezember 2001 Antrag auf Wiederein-
setzung in den vorigen Stand gestellt.
Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs hat die Beklagte vor-
getragen und durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft gemacht, daß die
Überbringung fristwahrender Schriftsätze zu Gerichten und Behörden im Regel-
fall von fest angestellten Bürobotinnen der Kanzlei ihrer Prozeßbevollmächtig-
ten erledigt werde. Im Bedarfsfall - nach Feierabend oder bei Verhinderung die-
ser Botinnen - würden die Botengänge von Sekretärinnen oder Auszubildenden
übernommen. Der Bürovorsteher, dem die Organisation und Überwachung der
Botengänge übertragen sei und der seit 23 Jahren fehlerfrei gearbeitet habe,
weise die Auszubildenden zu Beginn ihrer Ausbildung ausdrücklich darauf hin,
daß fristwahrende Schriftstücke nach Dienstschluß der Gerichte in den betref-
fenden Nachtbriefkasten des jeweils zuständigen und nicht eines anderen Ge-
richts einzuwerfen seien. Darüber hinaus müßten die Auszubildenden zu Be-
ginn ihrer Ausbildung mehrfach eine der fest angestellten Bürobotinnen auf de-
ren täglichen Botengängen begleiten. Diese Bürobotinnen seien von dem Büro-
vorsteher angewiesen, den Auszubildenden zu zeigen, wo sich die einzelnen
Gerichte befinden und wo die Schriftsätze abzugeben bzw. einzuwerfen seien.
Am Nachmittag des 19. November 2001 sei die Auszubildende S. B.
von einer Sekretärin und dem Bürovorsteher unter Hinweis auf die am selben
Tag ablaufende Frist beauftragt worden, die Berufungsbegründungsschrift zum
Oberlandesgericht Karlsruhe, Außensenate Freiburg, zu bringen. S.
B. habe sich seit dem Beginn ihrer Ausbildung am 3. September 2001 stets
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als zuverlässige Bürokraft erwiesen; im September 2001 habe sie eine der fest
angestellten Botinnen auf deren Botengängen begleitet. Frau B., die ge-
meint habe, der Nachtbriefkasten des Oberlandesgerichts Karlsruhe, Außense-
nate Freiburg, befinde sich am Eingang des Oberlandesgerichts, der ihr von
früheren Botengängen bekannt gewesen sei, habe den am Eingang des Ober-
landesgerichts Karlsruhe, Salzstraße 28, angebrachten Hinweis auf den um die
Ecke - am Augustinerplatz - befindlichen Nachtbriefkasten übersehen, weil es
bereits dunkel gewesen sei. In dem Glauben, daß der Schriftsatz fristwahrend
an das Oberlandesgericht weitergeleitet werde, habe sie die Berufungsbegrün-
dung in den - ihrer Vorstellung nach gemeinsamen - Nachtbriefkasten des
Landgerichts, Salzstraße 17, gegenüber dem Gebäude Salzstraße 28, in dem
auch Kammern des Landgerichts untergebracht sind, eingeworfen.
Das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten
zurückgewiesen und ihre Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung
hat es im wesentlichen ausgeführt: Bei einem Botengang zu Gericht handele es
sich zwar um eine einfache Tätigkeit, die auch einem Auszubildenden übertra-
gen werden könne, wenn dieser sich in der bisherigen Ausbildung als zuverläs-
sig erwiesen habe. Voraussetzung dafür sei jedoch, daß der Auszubildende
ausreichende Hinweise und Belehrungen erhalten habe, die ihn in die Lage
versetzten, den Botengang zuverlässig auszuführen. Einer vom Bürovorsteher
zu Beginn der Ausbildung erteilten Belehrung, daß ein Schriftsatz nach Dienst-
schluß in den Nachtbriefkasten des jeweils zuständigen und nicht eines ande-
ren Gerichts einzuwerfen sei, hätten die Auszubildenden nicht entnehmen kön-
nen, welche Gerichte über einen eigenen Nachtbriefkasten verfügen und wo
sich diese befinden. Die zu Beginn der Ausbildung erfolgte Vorbereitung auf die
Botengänge habe deshalb keine Gewähr dafür geboten, daß die Auszubilden-
den wüßten, in welchen Nachtbriefkasten für das Oberlandesgericht bestimmte
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Schriftsätze einzuwerfen seien. Damit sei die - offenbar langjährig praktizierte -
Vorbereitung der Auszubildenden auf die Botengänge zum Oberlandesgericht
als solche unzulänglich gewesen. Von seiten der Rechtsanwälte hätte sicher-
gestellt werden müssen, daß ihr Bürovorsteher die mit Botengängen betrauten
Auszubildenden ausdrücklich auf den außergewöhnlichen Standort des Nacht-
briefkastens beim Oberlandesgericht Karlsruhe, Außensenate Freiburg, hin-
wies. Bei kritischer Überprüfung der Praxis dieser Botengänge wäre vorherseh-
bar gewesen, daß ein für das Oberlandesgericht bestimmter Schriftsatz über
kurz oder lang in den Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen werde,
weil der Bote nicht wisse, daß das Oberlandesgericht einen eigenen Nacht-
briefkasten habe und wo sich dieser befinde.
Gegen diesen Beschluß richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklag-
ten.
II. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 522
Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 ZPO), aber unzulässig. Die Voraussetzungen des
§ 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Beru-
fung als unzulässig verwerfenden Beschluß gewahrt sein müssen (BGHZ 155,
21, 22; BGH, Beschl. v. 13. Juli 2004 - XI ZB 33/03, Juris), sind nicht erfüllt.
Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde hat die Rechtssache weder
grundsätzliche Bedeutung (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) noch erfordert die Siche-
rung einer einheitlichen Rechtsprechung ein Eingreifen des Bundesgerichtshofs
(§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Fragen der
Anforderungen, die an einen Prozeßbevollmächtigten hinsichtlich der Organisa-
tion seines Büros zu stellen sind, um die fristgerechte Einreichung eines
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Schriftsatzes bei Gericht sicherzustellen, grundsätzlich geklärt: Er muß die not-
wendigen Vorkehrungen und Kontrollmaßnahmen treffen, die geeignet sind,
zuverlässig sicherzustellen, daß fristwahrende Schriftsätze das Gericht recht-
zeitig erreichen (speziell zu Botengängen durch Auszubildende BGH, Beschl. v.
20. März 1997 - IX ZB 5/97, NJW-RR 1997, 551, 552; Urt. v. 17. Dezember
1997 - IV ZR 93/97, BGHR ZPO § 233 Büropersonal 12; zur Organisations-
pflicht beim Postausgang BGH, Urt. v. 11. Juli 1990 - XII ZR 55/89, BGHR ZPO
§ 233 Büropersonal 4). Ob der Rechtsanwalt die erforderlichen Vorkehrungen
getroffen hat, ist keine grundsätzliche Rechtsfrage, sondern eine solche des
Einzelfalls.
2. Die von der Rechtsbeschwerde darüber hinaus als grundsätzlich be-
zeichnete Rechtsfrage, ob auch im Rechtsbeschwerdeverfahren an dem früher
zur sofortigen Beschwerde entwickelten Grundsatz festgehalten werden kann,
daß in der Beschwerdebegründung das Wiedereinsetzungsvorbringen in tat-
sächlicher Hinsicht ergänzt werden kann, wenn seine Ergänzungsbedürftigkeit
auf eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 139 ZPO zu-
rückzuführen ist, ist nicht entscheidungserheblich. Die von der Rechtsbe-
schwerde reklamierte Ergänzungsbedürftigkeit ist hier nicht gegeben und beruht
vor allem nicht auf einer Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht. Dem
Berufungsgericht als dem Gericht, dessen Nachtbriefkasten die Auszubildende
nicht gefunden hat, waren, ohne daß es hierzu eines Vortrags seitens der Par-
teien bedurft hätte, die Örtlichkeiten bei seiner Entscheidung bekannt, wie sich
auch aus der Begründung des Beschlusses ergibt. Angesichts dessen handelt
es sich bei den Ergänzungen in der Rechtsbeschwerde nicht um neuen Vortrag,
sondern um gerichtsbekannte Tatsachen.
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Im übrigen ist die Frage der Zulässigkeit neuen Tatsachenvorbringens in
der Rechtsbeschwerde nicht mehr klärungsbedürftig. Diese Frage ist bereits
geklärt (vgl. BGH, Beschl. v. 15. Juni 2004 - VI ZB 9/04, Juris; Beschl. v. 21. Juli
2004 - XII ZB 27/03, Juris; BGHZ 156, 165, 167 f.).
3. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist auch keine Ent-
scheidung des Bundesgerichtshofs zur Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung erforderlich. Das Berufungsgericht hat die an die Sorgfaltspflichten
eines Rechtsanwalts zu stellenden Anforderungen nicht in verfassungsrechtlich
zu beanstandender Weise überspannt und daher nicht den Zugang der Beklag-
ten zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer,
aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert. Es hat vielmehr
ausgehend von den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aufgestell-
ten Grundsätzen und angesichts der den Prozeßbevollmächtigten bekannten
schwierigen örtlichen Verhältnisse es diesen zu Recht als mangelnde Organisa-
tion angelastet, daß sie ihren Bürovorsteher bei der - grundsätzlich zulässigen -
Übertragung der Organisation und Überwachung der Botengänge nicht dazu
angehalten haben, wegen der Lage des Nachtbriefkastens des Oberlandesge-
richts an einem Nebeneingang gerade für dieses Gericht besondere Vorkeh-
rungen bei der Einweisung und dem Einsatz von Auszubildenden zu treffen.
4. Auch die von der Rechtsbeschwerde angeführte Divergenz liegt nicht
vor. Das Bundesarbeitsgericht (Beschl. v. 12. März 1992 - 6 AZR 303/90, Juris)
hat nicht allgemein den Rechtssatz aufgestellt, ein Prozeßbevollmächtigter ge-
nüge seinen Sorgfaltspflichten, wenn er eine Büroangestellte anweise, einen
Schriftsatz in den Nachtbriefkasten einzuwerfen. Es hat vielmehr lediglich an-
gesichts der konkreten Umstände der Übergabe entschieden, daß der Rechts-
anwalt unter den dort genannten Voraussetzungen seinen Sorgfaltspflichten
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genügt habe. Eine Divergenz zu dem Beschluß des Bundesgerichtshofs vom
23. November 2000 (IX ZB 83/00, BGHR ZPO § 233 Büropersonal 14) liegt be-
reits deshalb nicht vor, weil das Berufungsgericht keinen hiervon abweichenden
Rechtssatz aufgestellt hat. Das Berufungsgericht ist, der eidesstattlichen Versi-
cherung der Auszubildenden folgend, nicht von einem bewußten, sondern von
einem irrtumsbedingten Abweichen der Auszubildenden von den ihr erteilten
Weisungen ausgegangen.
Röhricht
Goette
Kraemer
Strohn
Caliebe