Urteil des BGH vom 01.10.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 18/09
Verkündet
am:
1.
Oktober
2009
H o l m e s
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
BGB §§ 242 Cd, 393, 839 Fi; GG Art. 1, 2 Abs. 1, Art. 34
Es ist der Justizverwaltung unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechts-
ausübung (§ 242 BGB) grundsätzlich verwehrt, gegenüber dem Anspruch eines
Strafgefangenen auf Geldentschädigung wegen menschenunwürdiger Haftbe-
dingungen mit einer Gegenforderung auf Erstattung offener Kosten des Straf-
verfahrens aufzurechnen.
BGH, Urteil vom 1. Oktober 2009 - III ZR 18/09 - OLG Karlsruhe
LG Karlsruhe
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 1. Oktober 2009 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter Dörr,
Dr. Herrmann, Hucke und Tombrink
für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 12. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 16. Dezember 2008 wird
zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger nimmt das beklagte Land auf Zahlung einer Geldentschädi-
gung wegen menschenunwürdiger Haftunterbringung in Anspruch.
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Der Kläger befindet sich zur Verbüßung einer Gesamtfreiheitsstrafe von
zwölf Jahren wegen schweren Raubes in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt
B. . Dort war er in der Zeit vom 17. Januar bis 1. August 2006 (mit Aus-
nahme eines Krankenhausaufenthalts vom 2. bis zum 15. Februar 2006) in ei-
ner 9,09 m² großen Gemeinschaftszelle mit einem weiteren Strafgefangenen
untergebracht. Die in dieser Zelle befindliche Toilette war lediglich durch einen
Sichtschutzvorhang abgetrennt. Das beklagte Land ist dem Vorwurf der Amts-
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pflichtverletzung, des Verstoßes gegen die Menschenwürde und der Verletzung
des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers entgegen getreten und hat
hilfsweise die Aufrechnung mit einer - unstreitigen - Gegenforderung auf Erstat-
tung der von dem Kläger zu tragenden Kosten des Strafverfahrens erklärt. Der
Kläger hält diese Aufrechnung für unzulässig.
Die Vorinstanzen haben dem Kläger aus dem Gesichtspunkt der Amts-
haftung des Beklagten (§ 839 BGB, Art. 34 GG) übereinstimmend eine Ent-
schädigung in Höhe von 3.000 € zugesprochen. Das Landgericht hat die Hilfs-
aufrechnung des Beklagten für begründet erachtet und die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht den Beklagten zur
Zahlung verurteilt.
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Mit seiner - insoweit vom Berufungsgericht zugelassenen - Revision wen-
det sich das beklagte Land gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass
die Aufrechnung eine gemäß § 242 BGB unzulässige Rechtsausübung darstel-
le.
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Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet.
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I.
Das Berufungsgericht (VersR 2009, 360) hat ausgeführt, der Aufrech-
nung des beklagten Landes stehe § 394 Satz 1 BGB nicht entgegen, weil der
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Anspruch des Klägers der Pfändung unterworfen sei. Ob die Aufrechnung ge-
mäß § 393 BGB ausgeschlossen sei, könne offen bleiben. Denn jedenfalls stel-
le sich die Aufrechnung des Beklagten als gemäß § 242 BGB unzulässige
Rechtsausübung dar. Der Anspruch des Klägers ergebe sich aus einem Eingriff
in seine durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde. Bereits die über-
ragende Bedeutung dieses Grundrechts schließe eine Aufrechnung mit einer
Gegenforderung aus einer einfachgesetzlichen Regelung aus. Darüber hinaus
sei zu beachten, dass der Zubilligung einer Geldentschädigung bei Verletzung
der Menschenwürde gerade der Gedanke der Genugtuung des Verletzten und
der Sanktionierung des Grundrechtsverstoßes zu Grunde liege. Diesen Funkti-
onen würde man nicht gerecht, wenn man eine Aufrechnung des beklagten
Landes zuließe. Die Verletzung der Ehre und Würde des einzelnen Strafgefan-
genen bliebe dann nämlich letztlich ohne spürbare Sanktion. Bei der Gegenfor-
derung des Beklagten handele es sich ihrerseits auch nicht um einen Anspruch
aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung - was im Rahmen der bei § 242 BGB
anzustellenden "Gegenabwägung" bedeutsam sein könne -, da sie nicht aus
einer unerlaubten Handlung des Klägers gegenüber dem Beklagten herrühre.
II.
Das Berufungsgericht hat die Zulassung der Revision wirksam auf die
Aufrechnung des beklagten Landes beschränkt (siehe dazu Senat, Urteil vom
30. November 1995 - III ZR 240/94 - NJW 1996, 527 m.w.N.; Zöller/Heßler,
ZPO 27. Aufl., § 543 Rn. 24). Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass es
dem Land, das auf Zahlung einer Geldentschädigung für immaterielle Schäden
aufgrund unwürdiger Bedingungen der Haftunterbringung in Anspruch genom-
menen wird, gemäß § 242 BGB grundsätzlich verwehrt ist, gegenüber diesem
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Anspruch mit einer Gegenforderung auf Erstattung von offenen Strafverfah-
renskosten aufzurechnen, hält der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
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Die Aufrechnung ist nach § 242 BGB ausgeschlossen, wenn sie nach der
Eigenart des Schuldverhältnisses oder dem Zweck der geschuldeten Leistung
als mit Treu und Glauben unvereinbar erscheint (Senatsurteil BGHZ 95, 103,
113 m.w.N.; BGHZ 113, 90, 93; BGH, Urteil vom 21. November 2001 - XII ZR
162/99 - NJW 2002, 1130, 1132; Palandt/Grüneberg, BGB, 68. Aufl., § 387
Rn. 15; Erman/Wagner, BGB Band 1, 12. Aufl., § 387 Rn. 33 ff).
So liegt es auch hier.
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1.
Das aus § 242 BGB (unzulässige Rechtsausübung) hergeleitete Auf-
rechnungshindernis folgt für die vorliegend zu entscheidende Fallgestaltung
- unter Zugrundelegung einer typisierenden Betrachtung der hierbei relevanten
Umstände (insbesondere: Verschulden) - aus der Funktion und dem Zweck des
Geldentschädigungsanspruchs wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen
und der Eigenart des zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnis-
ses.
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Nach der Rechtsprechung des Senats (BGHZ 161, 33, 35 ff; Beschlüsse
vom 21. Dezember 2005 - III ZR 33/05 - NJW 2006, 1289 und vom 28. Sep-
tember 2006 - III ZB 89/05 - NJW 2006, 3572) steht dem Betroffenen unter
dem Gesichtspunkt der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) ein An-
spruch auf Geldentschädigung für immaterielle Schäden infolge menschenun-
würdiger Haftbedingungen zu, wenn die damit verbundene Beeinträchtigung ein
Mindestmaß an Schwere erreicht hat und nicht in anderer Weise befriedigend
ausgeglichen werden kann, wobei - ebenso wie bei einem Geldentschädi-
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gungsanspruch wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts - die
Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, der Anlass und Beweggrund des Han-
delnden sowie der Grad des Verschuldens zu berücksichtigen sind. Der An-
spruch auf Geldentschädigung gründet auf dem Schutzauftrag der Grundrechte
aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG und dient vornehmlich der Genugtuung
des Verletzten, aber auch den Zwecken der wirksamen Sanktion und Präventi-
on (Senat aaO BGHZ 161, 33, 35 ff; allgemein: BGHZ 128, 1, 12, 15; 143, 214,
218 f; 160, 298, 302 f, 306; 165, 203, 204 f, 206 f, 210 f).
a) Um seine Funktionen der Genugtuung, der Sanktion und der Präventi-
on - in dem Sinne, dass der verpflichtete Staat dazu angehalten wird, men-
schenunwürdige Haftbedingungen von vornherein zu vermeiden oder aber (zu-
mindest) alsbald zu beseitigen und nicht länger fortdauern zu lassen - wirksam
wahrnehmen zu können, muss der Geldentschädigungsanspruch für den er-
satzpflichtigen Staat spürbare Auswirkungen haben. Daran fehlte es vielfach,
wenn die Erfüllung des Geldentschädigungsanspruchs im Wege der Aufrech-
nung mit einer Gegenforderung auf Erstattung offener Strafverfahrenskosten
herbeigeführt werden könnte. Sehr viele Strafgefangene sind vermögenslos und
- wie hier - bei der Verfolgung ihrer Entschädigungsansprüche auf Prozesskos-
tenhilfe angewiesen. Die Ansprüche des Staates auf Erstattung von Kosten des
Strafverfahrens sind in all diesen Fällen im Grunde uneinbringlich und bei wirt-
schaftlicher Betrachtung wertlos. Könnte sich der Staat hier seiner Entschädi-
gungsverpflichtung durch Aufrechnung entledigen, so könnte von einem echten
Vermögensopfer nicht gesprochen werden; auch enthielte der Geschädigte kei-
nen wirklichen materiellen Ausgleich für den erlittenen Eingriff. Dass die Forde-
rungen des Staates infolge der Aufrechnung ebenso verringert würden wie die
Verbindlichkeiten des Betroffenen (§ 389 BGB), wirkte sich in dieser Situation
gleichsam nur "buchhalterisch" aus, ohne dass dies von den Beteiligten wirt-
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schaftlich als Vor- oder Nachteil empfunden würde. Nehmen darüber hinaus die
Forderungen des Staates gegen den Betroffenen auf Erstattung offener Straf-
verfahrenskosten - wie nicht selten und so auch hier (24.398,87 €) - einen be-
trächtlichen Umfang ein, so liegt die Besorgnis nicht fern, dass der ersatzpflich-
tige Staat aufgetretene menschenunwürdige Haftbedingungen nicht so zügig
wie geboten beseitigt, sondern (aus fiskalischen Gründen) längere Zeit hin-
nimmt und hierdurch nicht nur die Genugtuungs- und Sanktionsfunktion, son-
dern auch die Präventivfunktion des Entschädigungsanspruchs beeinträchtigt
wird.
b) Hinzu treten folgende Erwägungen:
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Der Anspruch auf Geldentschädigung wegen menschenunwürdiger Haft-
bedingungen gründet auf einem besonderen Rechtsverhältnis zwischen dem
Betroffenen und dem Staat, das einerseits von intensiven Eingriffs- und Anwei-
sungsbefugnissen gekennzeichnet ist, die weit in die persönliche Lebensfüh-
rung des Gefangenen hineinreichen, andererseits aber dem Staat besondere
Fürsorgepflichten, insbesondere für Leben und Gesundheit des Gefangenen,
auferlegt (vgl. Staudinger/Wurm, BGB, Neubearb. 2007, § 839 Rn. 665). Dabei
gehört die Pflicht, den Häftling menschenwürdig unterzubringen, zu den Kardi-
nalpflichten der Justizvollzugsorgane. Der aus der Verletzung dieser Pflicht sich
ergebende Entschädigungsanspruch erfordert eine schwerwiegende Beein-
trächtigung des Betroffenen, die weit über die mit der Haft als solche verbunde-
nen Belastungen hinausgeht.
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Bei der gebotenen wertenden Gesamtschau liegt diesem Anspruch im
Allgemeinen auch ein erhebliches Verschulden der verantwortlichen Staatsor-
gane zugrunde, das durchaus als "vorsatznah" einzustufen ist, mit der Folge,
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dass die Frage des Verbots der Aufrechnung nach § 393 BGB im Raum steht.
Den Justizvollzugsbeamten der betroffenen Vollzugsanstalt sind regelmäßig
- wie auch hier, worauf der Revisionsbeklagte in der mündlichen Verhandlung
vor dem Senat zu Recht hingewiesen hat (Schreiben der Justizvollzugsanstalt
B. vom 13. Juni 2006); auch das Berufungsgericht hat dies letztlich nicht
anders gesehen - die tatsächlichen Umstände der Unterbringung bekannt und
die Rechtswidrigkeit der Art und Weise dieser Unterbringung bewusst. Die Not-
lage, die darauf beruht, dass in der jeweiligen Justizvollzugsanstalt nicht genü-
gend Haftplätze zur Verfügung stehen, mag zwar dazu führen, dass die Beam-
ten "vor Ort" nicht vorsätzlich im Sinne des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB handeln;
dies kann aber den Staat - unter dem Aspekt des Organisationsverschuldens -
nicht entscheidend entlasten (vgl. Senat BGHZ 161, 33, 35; Beschluss vom
21. Dezember 2005 aaO Rn. 4).
2.
Da dem beklagten Land die Aufrechnung mit der Kostenforderung nach
§ 242 BGB versagt ist, kommt es nicht (mehr) darauf an, ob der Kläger den
Nachweis führen könnte, dass einzelne Beamte der haftenden Anstellungskör-
perschaft vorsätzlich gehandelt haben, und somit dem beklagten Land die Auf-
rechnung nach § 393 BGB verboten wäre. Dabei trifft es entgegen der Auffas-
sung der Revision nicht zu, dass die der Bestimmung des § 393 BGB zugrunde
liegende gesetzgeberische Wertentscheidung unterlaufen wird, wenn in Fällen
der vorliegenden Art ein grundsätzliches Aufrechnungshindernis aus dem Ge-
sichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) hergeleitet wird.
Der Umstand, dass (noch) nicht von einer das Aufrechnungsverbot des § 393
BGB auslösenden Vorsatztat ausgegangen werden kann, hindert nicht daran,
bei der Prüfung des Rechtsmissbrauchs neben der Gewährleistung der Funkti-
onen und des Zwecks des Geldentschädigungsanspruchs sowie den Beson-
derheiten des zwischen der Landesjustizverwaltung und dem Strafgefangenen
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bestehenden Rechtsverhältnisses auch die dem Gesamtgeschehen anhaftende
"Vorsatznähe" in den Blick zu nehmen.
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3.
Wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, ist der aus § 242
BGB hergeleitete Einwand gegen die Aufrechnung des beklagten Landes hier
- unter dem Aspekt einer "Gegenabwägung" - nicht deshalb ausgeschlossen,
weil sich die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung auf Zahlung offener
Kosten des Strafverfahrens ihrerseits als eine Forderung aus einer vorsätzlich
begangenen unerlaubten Handlung (des Klägers) darstellte. Denn Forderungen
des Staates auf Zahlung von Strafverfahrenskosten sind keine Ansprüche, die
aus einer vorsätzlich unerlaubten Handlung gegenüber dem Staat hervorge-
gangen sind.
Schlick
Dörr
Herrmann
Hucke
Tombrink
Vorinstanzen:
LG Karlsruhe, Entscheidung vom 19.02.2008 - 2 O 559/06 -
OLG Karlsruhe, Entscheidung vom 16.12.2008 - 12 U 39/08 -