Urteil des BGH vom 10.11.2010
BGH (vernehmung von zeugen, vernehmung, zpo, anhörung, entwendung, versicherer, versicherungsnehmer, verletzung, kenntnis, motorrad)
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IV ZR 122/09
vom
10. November 2010
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Terno, die Richter Wendt, Felsch, die Richterin
Harsdorf-Gebhardt und den Richter Dr. Karczewski
am 10. November 2010
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen
das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main vom 26. Mai 2009 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO
aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfah-
rens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 33.000 €
Gründe:
I. Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Kraftfahrzeug-
Teilversicherung wegen Entwendung eines Motorrades in Anspruch.
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Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger Eigentümer des
versicherten Motorrades ist und ob es entwendet wurde. Das Landgericht
hat zu beiden Punkten Beweis durch Vernehmung von zwei Zeugen er-
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hoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung von
33.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu zah-
len.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht nach An-
hörung des Klägers ohne erneute Vernehmung der Zeugen die Klage ab-
gewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich
der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
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II. Die Beschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO
zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der
Sache an das Berufungsgericht.
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1. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserhebli-
cher Weise verletzt, indem es die erstinstanzlich vernommenen Zeugen
nicht erneut gehört hat, obwohl es deren Aussagen anders als das Land-
gericht gewürdigt hat.
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a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grund-
sätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebun-
den. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entschei-
dungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme
zwingend geboten. Das gilt insbesondere für die erneute Vernehmung
von Zeugen, die grundsätzlich gemäß § 398 Abs. 1 ZPO im Ermessen
des Berufungsgerichts steht. Es ist aber verpflichtet, einen in erster In-
stanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine
Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokol-
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lierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will
(Senatsbeschluss vom 21. April 2010 - IV ZR 172/09, juris Rn. 5; BGH,
Beschlüsse vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5;
vom 15. September 2005 - I ZR 58/03, NJW-RR 2006, 267 unter II 1 a
aa; vom 12. März 2004 - V ZR 257/03, BGHZ 158, 269, 272 ff.; vom
8. Dezember 1999 - VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199 unter II 2 a; vom
10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222 unter II A 1 b; vom
30. September 1992 - VIII ZR 196/91, NJW 1993, 64 unter II 2 a; jeweils
m.w.N.). Würdigt das Berufungsgericht eine Zeugenaussage anders als
das erstinstanzliche Gericht, ohne den Zeugen erneut selbst zu verneh-
men, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (Se-
natsbeschluss vom 21. April 2010 aaO Rn. 4; BGH, Urteil vom 14. Juli
2009 aaO Rn. 4 m.w.N.). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen
kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf
solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungs-
vermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (d.h. seine Glaubwürdig-
keit) noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit (d.h. die Glaub-
haftigkeit) seiner Aussage betreffen (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009
aaO Rn. 5; Urteil vom 10. März 1998 aaO; jeweils m.w.N.).
b) Das Berufungsgericht ist seiner Pflicht zur Wiederholung der
Beweisaufnahme in zweifacher Hinsicht nicht nachgekommen.
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aa) Zum einen hat es den Zeugen R. nicht nochmals dazu ver-
nommen, ob der Kläger Eigentum an dem Motorrad erworben hatte. Das
Landgericht hat den Eigentumsnachweis durch die Aussage dieses Zeu-
gen als erbracht angesehen. Hingegen hat das Berufungsgericht die An-
gaben des Zeugen R. zum Ankauf der Maschine für "nebulös" und
nicht geeignet gehalten, um nachzuweisen, dass er selbst einmal Eigen-
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tümer des Motorrades gewesen war. Die Glaubhaftigkeit der Bekundun-
gen des Zeugen R. hat das Berufungsgericht deshalb verneint, weil
deutliche Anhaltspunkte für unrichtige Angaben vorlägen. Damit hat es
zugleich die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Zweifel gezogen. Zu dieser
von der Würdigung des Landgerichts abweichenden Beurteilung durfte
das Berufungsgericht nicht kommen, ohne den Zeugen R. selbst ver-
nommen zu haben.
bb) Zum anderen hat das Berufungsgericht eine erneute Verneh-
mung des Zeugen H. unterlassen. Aufgrund der Bekundungen die-
ses Zeugen hat das Landgericht das äußere Bild eines Diebstahls des
Motorrades für bewiesen gehalten. Es hat die Aussage des Zeugen als
stimmig und widerspruchsfrei und somit glaubhaft bezeichnet und an
seiner Glaubwürdigkeit keine Zweifel gehabt. Dagegen vermochte das
Berufungsgericht eine ausreichend sichere Überzeugung von der Ent-
wendung des Motorrades auf die Aussage des Zeugen H. nicht zu
stützen. Es hat seine Angaben zu der behaupteten Entwendung als
"dürftig und farblos" bezeichnet. Es hätte aber die Aussage des Zeugen
H. nur dann anders als das Landgericht verstehen dürfen, wenn es
ihn selbst gehört hätte.
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Von einer erneuten Vernehmung des Zeugen H. konnte das
Berufungsgericht nicht deshalb absehen, weil es den Kläger persönlich
angehört hat. Durch Anhörung des Versicherungsnehmers nach § 141
ZPO darf die Überzeugung vom Vorliegen des äußeren Bildes einer be-
dingungsgemäßen Entwendung nur dann gewonnen werden, wenn dem
Versicherungsnehmer ein Zeuge nicht zur Verfügung steht. Ist - wie
hier - ein Zeuge für das Abstellen und spätere Nichtwiederauffinden des
Fahrzeugs angeboten worden, so kann sich der Tatrichter nicht auf eine
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Anhörung des Versicherungsnehmers beschränken. Vielmehr muss er
dem Beweisangebot durch Vernehmung des benannten Zeugen nachge-
hen. Eine Anhörung des Versicherungsnehmers kommt erst dann in Be-
tracht, wenn sich der Kläger tatsächlich in Beweisnot befindet, d.h. wenn
ihm keine Beweismittel zur Verfügung stehen, um den erforderlichen Be-
weis des äußeren Bildes einer Entwendung zu erbringen (Senatsurteile
vom 30. Januar 2002 - IV ZR 263/00, VersR 2002, 431 unter 2 b; vom
22. September 1999 - IV ZR 172/98, VersR 1999, 1535 unter I 2; vom
19. Februar 1997 - IV ZR 12/96, VersR 1997, 691 unter 1 b; vom
21. Februar 1996 - IV ZR 300/94, BGHZ 132, 79, 82; vom 24. April 1991
- IV ZR 172/90, VersR 1991, 917 unter 2; jeweils m.w.N.).
cc)
Die
Gehörsverletzungen sind entscheidungserheblich. Es ist
nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach erneuter Verneh-
mung der Zeugen R. und H. zu einem anderen Beweisergebnis
gelangt wäre.
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2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
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a) Eine von der Beklagten geltend gemachte vorsätzliche Verlet-
zung der Aufklärungsobliegenheit nach § 7 I (2) Satz 3 AKB a.F. setzt
zunächst voraus, dass die Angaben des Klägers zum Kilometerstand des
Motorrades objektiv unrichtig waren. Dies ergibt sich nicht daraus, dass
der Kläger in seiner E-Mail vom 7. Oktober 2006 und in der ausführlichen
Schadenanzeige vom 22. November 2006 eine Gesamtlaufleistung von
1.600 km angab, ohne hinzuzufügen, dass der von dem gebrauchten Ta-
cho angezeigte Kilometerstand um 17.300 km höher lag. In der Scha-
denanzeige verneinte der Kläger die Frage, ob die Gesamtlaufleistung
mit dem Tachostand identisch sei. Zudem teilte er mit E-Mail vom selben
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Tag der Beklagten mit, dass der Tacho bei Erwerb 17.300 km angezeigt
habe. Dass das Motorrad tatsächlich eine um 17.300 km höhere oder
sonst abweichende Laufleistung aufwies, hat das Berufungsgericht nicht
festgestellt. Dazu genügt es nicht, dass der Kläger anlässlich seiner per-
sönlichen Anhörung nicht ausschließen konnte, dass das Motorrad nicht
schon im Straßenverkehr bewegt worden war, bevor er es von dem Zeu-
gen R. erwarb.
b) Außerdem müsste dem Kläger ein höherer Kilometerstand be-
kannt gewesen sein. Die Kenntnis der mitzuteilenden Umstände gehört
zum objektiven und vom Versicherer zu beweisenden Tatbestand der
Aufklärungsobliegenheit. Für deren Verletzung kommt es darauf an, ob
der Versicherungsnehmer bei der Beantwortung von Fragen Kenntnis
von Umständen oder Tatsachen hatte, die er dem Versicherer in Erfül-
lung der Obliegenheit mitzuteilen hatte. Fehlt ihm diese Kenntnis, so
kann er die Obliegenheit schon objektiv nicht verletzen, denn es gibt
nichts, worüber er nach seinem Kenntnisstand den Versicherer aufklären
könnte (Senatsbeschluss vom 12. Dezember 2007 - IV ZR 40/06, VersR
2008, 484 Rn. 4; Senatsurteil vom 13. Dezember 2006 - IV ZR 252/05,
VersR 2007, 389 Rn. 10, 13 ff. m.w.N., Anm. Prölss, VersR 2008, 674).
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c) Erst wenn eine objektive Obliegenheitsverletzung festgestellt
werden kann, hat der Kläger die Vorsatzvermutung des § 6 Abs. 3 Satz 1
VVG a.F. zu widerlegen und zu beweisen, dass ihn ein geringeres Ver-
schulden als Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit trifft (vgl. Senatsurteile
vom 12. Dezember 2007 aaO Rn. 7; vom 2. Juni 1993 - IV ZR 79/92,
VersR 1993, 960 unter I 2; vom 21. April 1993 - IV ZR 34/92, VersR
1993, 828 unter 2 c m.w.N.).
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d) Schließlich wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass
sich der Versicherer nach der Relevanzrechtsprechung auf völlige Leis-
tungsfreiheit nur dann berufen kann, wenn die vorsätzliche Verletzung
der Aufklärungspflicht zwar folgenlos geblieben, aber generell geeignet
ist, die berechtigten Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden
und dem Versicherungsnehmer ein erhebliches Verschulden zur Last
fällt, für dessen Fehlen er beweispflichtig ist (Senatsurteile vom 7. Juli
2004 - IV ZR 265/03, VersR 2004, 1117 unter 3; vom 21. Januar 1998
- IV ZR 10/97, VersR 1998, 447 unter 2 b; vom 21. April 1982 - IVa ZR
267/80, BGHZ 84, 84, 87; jeweils m.w.N.).
Terno Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Vorinstanzen:
LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 30.07.2008 - 2/8 O 113/07 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 26.05.2009 - 3 U 193/08 -