Urteil des BGH vom 17.09.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 95/13
Verkündet am:
17. September 2013
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 249 Abs. 2 Satz 1 Ga; § 823 Abs. 1 F; StVG § 7 Abs. 1, § 11 Satz 1
Ein Unfallgeschädigter kann die durch eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung
entstandenen Kosten vom Schädiger nur ersetzt verlangen, wenn der Unfall zu einer
Körperverletzung geführt hat. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Verlet-
zung genügt dafür nicht.
BGH, Urteil vom 17. September 2013 - VI ZR 95/13 - LG Chemnitz
AG Freiberg
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. September 2013 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter
Wellner, Pauge und Stöhr und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 6. Zivilkammer
des Landgerichts Chemnitz vom 25. Januar 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung
von dem beklagten Haftpflichtversicherer aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X
übergegangenem Recht die Erstattung von Aufwendungen, die sie für ihre Ver-
sicherten G. und F. nach einem Verkehrsunfall vom 9. Januar 2006 erbracht
hat. F. war Fahrerin ihres Pkws, in dem sich G. als Beifahrerin befand. Der Pkw
kollidierte mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Die volle Haftung des be-
klagten Haftpflichtversicherers ist dem Grunde nach unstreitig.
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Die Klägerin macht geltend, der Pkw der Versicherten F. habe eine Ge-
schwindigkeit von etwa 15 km/h gehabt, das entgegenkommende Fahrzeug sei
mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 km/h gefahren. An dem Fahrzeug der
Versicherten F. sei ein Sachschaden von etwa 4.500 € entstanden. G. habe
einen Tag nach dem Unfallgeschehen starke Verspannungen im Hals-, Nacken-
und Rückenbereich verspürt und am 11. Januar 2006 den Chirurgen Dr. Sch.
aufgesucht, der einen erheblichen Druckschmerz im Bereich der oberen und
mittleren Halswirbelsäule und die Vermeidung einer Drehung des Kopfes fest-
gestellt habe. Dr. Sch. habe G. wegen des Verdachts einer Querfortsatzfraktur
des dritten Halswirbelkörpers in ein Krankenhaus überwiesen. Eine dort durch-
geführte MRT-Untersuchung habe keine Anhaltspunkte für eine Fraktur oder
eine Verdrehung der Wirbelsäule ergeben. Nach Rückläufigkeit der Beschwer-
den sei G. am 13. Januar 2006 entlassen und anschließend physiotherapeu-
tisch weiterbehandelt worden. F. habe sich am 10. Januar 2006 wegen
Schmerzen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule in ärztliche Behand-
lung begeben. Sie habe Bewegungseinschränkungen und ein Ziehen wahrge-
nommen.
Die Klägerin erstattete für G. die Kosten der Erstbehandlung in Höhe von
55,47 €, die Kosten für die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes in Höhe
von 340,10 €, für die stationäre Behandlung in Höhe von 1.600,43 €, für Kran-
kengymnastik in Höhe von 146,08 €, für die Weiterbehandlung in Höhe von
30,93 € und für die verordnete Zervikalstütze in Höhe von 31,12 € sowie weitere
Kosten für die Behandlung im Krankenhaus in Höhe von 8,04 €. Für F. veraus-
lagte die Klägerin die Kosten der Erstbehandlung in Höhe von 18,
77 €, der Wei-
terbehandlung in Höhe von 41,17 € sowie der verordneten Krankengymnastik in
Höhe von 219,40 €. Die Beklagte lehnte eine Zahlung ab.
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Das Amtsgericht hat der Klage - nach Beweisaufnahme durch Zeugen-
vernehmung der Versicherten G. und F. und des Arztes Dr. Sch. und Einholung
von Sachverständigengutachten zur Kollisionsgeschwindigkeit und zur kollisi-
onsbedingten Geschwindigkeitsänderung - stattgegeben. Dagegen hat die Be-
klagte Berufung eingelegt. Das Landgericht hat ein biomechanisches und medi-
zinisches Gutachten eingeholt und die Klage unter Abänderung des amtsge-
richtlichen Urteils abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Re-
vision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht führt aus, ein Schadensersatzanspruch der Kläge-
rin sei nicht gegeben, weil Verletzungen der Halswirbelsäule (HWS-Syndrom)
bei beiden Versicherten nicht vorgelegen hätten. Der Sachverständige Dr. D.
sei nach Auswertung der vorliegenden medizinischen Befunde und einer Analy-
se der Zeugenaussagen der Versicherten sowie einer auf telefonischer Befra-
gung beruhenden Anamnese der Versicherten F. zu dem Ergebnis gelangt,
dass ein HWS-Syndrom mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus-
geschlossen werden könne. Da es an unfallursächlichen Verletzungen fehle,
seien die geltend gemachten Therapiekosten nicht auf den Unfall zurückzufüh-
ren und deshalb auch nicht ersatzfähig. Die Klägerin habe auch keinen An-
spruch auf Ersatz von Befunderhebungs- und Diagnosekosten für medizinische
Untersuchungen zur Abklärung bzw. zum Ausschluss möglicher Verletzungsfol-
gen. Auch wenn ein medizinischer Gutachter zu dem Ergebnis gelange, die ihm
geschilderten unfallbedingten Symptome seien abklärungsbedürftig gewesen
und weitere Untersuchungen seien nicht falsch gewesen, so seien die dadurch
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entstandenen Kosten, wenn eine unfallbedingte Verletzung nicht nachgewiesen
werde, vom Unfallgegner nicht zu ersetzen.
II.
1. Die Revision ist entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung
uneingeschränkt zulässig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs kann die Revision auf einen tatsächlich und rechtlich selbständigen
Teil des Gesamtstreitstoffs beschränkt werden, der Gegenstand eines selb-
ständig anfechtbaren Teil- oder Zwischenurteils sein könnte (Senatsurteile vom
19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03, VersR 2005, 84, 86; vom 3. August 2010
- VI ZR 113/09, VersR 2011, 896 Rn. 8 und vom 16. Juli 2013 - VI ZR 442/12,
VersR 2013, 1181 Rn. 13; Senatsbeschluss vom 17. April 2012 - VI ZR 140/11,
VersR 2012, 1140 Rn. 3; BGH, Beschluss vom 10. Februar 2011 - VII ZR
71/10, NJW 2011, 1228 Rn. 11, jeweils mwN). Hat das Berufungsgericht - wie
hier - die Zulassungsentscheidung ohne einschränkenden Zusatz in den Tenor
aufgenommen, kann sich eine Beschränkung der Zulassung aus der Begrün-
dung der Zulassungsentscheidung ergeben. Das setzt aber voraus, dass sich
die vom Berufungsgericht als zulassungsrelevant angesehene Frage nur für
einen eindeutig abgrenzbaren selbständigen Teil des Streitstoffs stellt (Senats-
urteil vom 3. August 2010 - VI ZR 113/09, aaO Rn. 9; Senatsbeschluss vom 17.
April 2012 - VI ZR 140/11, aaO Rn. 4), der sich aus den Entscheidungsgründen
des Berufungsurteils entweder betragsmäßig ergibt oder unschwer feststellen
lässt (BGH, Urteil vom 29. Januar 2003 - XII ZR 92/01, BGHZ 153, 358, 361 f.).
Daran fehlt es hier. Das Berufungsgericht hat zur Begründung der Revisionszu-
lassung ausgeführt, die Frage, ob die Schadensermittlungskosten im Bereich
der Körperschäden vom Unfallversicherer zu tragen seien, habe über den Ein-
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zelfall hinausgehende Bedeutung. Das Berufungsgericht hat aber keine Fest-
stellungen dazu getroffen, in welchem Umfang es sich bei den von der Klägerin
ersetzt verlangten Aufwendungen um Schadensermittlungskosten (und nicht
um Therapie- und Behandlungskosten) handelt.
2. Die Revision hat Erfolg.
a) Rechtsfehlerfrei geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass
ein Anspruch der Klägerin auf Ersatz der geltend gemachten Untersuchungs-
und Behandlungskosten nur gegeben ist, wenn der Unfall zu einer Körperver-
letzung ihrer Versicherten geführt hat (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB). Ist eine Pri-
märverletzung nicht bewiesen, fehlt es an einer Rechtsgutverletzung im Sinne
der Haftungstatbestände der §§ 823 BGB, 11 StVG. Der bloße Verletzungsver-
dacht steht einer Verletzung haftungsrechtlich nicht gleich (OLG Hamm, r+s
2003, 434, 436; Jahnke in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht,
22. Aufl., Vor § 249 BGB Rn. 87 mwN).
b) Das Berufungsgericht hält es für nicht bewiesen, dass die Versicher-
ten G. und F. infolge des Unfalls eine HWS-Distorsion erlitten haben.
Diese - vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbare (vgl. Senatsurteil
vom 8. Juli 2008 - VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rn. 7 mwN) - tatrichterliche
Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen und wird von der Revision auch
nicht in Frage gestellt.
c) Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg gegen die Annahme des
Berufungsgerichts, es fehle im Streitfall an dem Nachweis jeglicher Verletzun-
gen. Diese Beurteilung des Berufungsgerichts hält der revisionsrechtlichen
Nachprüfung nicht stand. Zwar ist die Würdigung der Beweise grundsätzlich
dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht
gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob
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sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozess-
stoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinan-
dergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist
und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. Se-
natsurteil vom 16. April 2013 - VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn. 13 mwN).
Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts
nicht.
aa) Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des
gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Be-
weisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche
Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die
Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
Vorliegend hat das Berufungsgericht nicht ausreichend berücksichtigt, dass die
vom Amtsgericht als Zeuginnen vernommenen Versicherten G. und F. bekundet
haben, am Tag nach dem Unfall Beschwerden bzw. Schmerzen im Halsbereich
verspürt zu haben. Das Amtsgericht hat diese Aussagen für glaubhaft erachtet
und sich die Überzeugung gebildet, dass die von G. und F. geklagten Be-
schwerden unfallursächlich waren. Die Entscheidungsgründe des Berufungsur-
teils lassen nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, ob das Berufungsge-
richt die Aussagen der Zeuginnen anders als das Amtsgericht für nicht glaub-
haft und die Beschwerden deshalb für nicht bewiesen erachtet oder ob und ge-
gebenenfalls weshalb es (nur) die Unfallursächlichkeit der geschilderten Be-
schwerden für nicht nachgewiesen hält. Sollte es der Meinung sein, für den
Beweis der Unfallursächlichkeit eines Körperschadens sei das Vorhandensein
äußerlicher körperlicher Unfallspuren erforderlich, könnte dieser Auffassung
nicht beigetreten werden.
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bb) Mangels gegenteiliger Feststellungen ist für das Revisionsverfahren
zugunsten der Klägerin zu unterstellen, dass die Versicherten G. und F. am Tag
nach dem Unfall an Beschwerden im Halsbereich litten. Ob diese Beschwerden
eher unspezifisch waren oder als unfallbedingte Körperverletzung zu bewerten
sind, unterliegt grundsätzlich der tatrichterlichen Beurteilung (vgl. Senatsurteil
vom 3. Juni 2008 - VI ZR 235/07, VersR 2008, 1133). Die Revision weist jedoch
mit Recht darauf hin, dass der Begriff der Körperverletzung im Sinne der § 823
Abs. 1 BGB, § 11 StVG weit auszulegen ist. Er umfasst jeden unbefugten, weil
von der Einwilligung des Rechtsträgers nicht gedeckten Eingriff in die Integrität
der körperlichen Befindlichkeit (vgl. Senatsurteile vom 9. November 1993
- VI ZR 62/93, BGHZ 124, 52, 54 und vom 18. März 1980 - VI ZR 247/78,
VersR 1980, 558, 559, insoweit in BGHZ 76, 259 nicht abgedruckt; vgl. auch
Senatsurteil vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 9). Ob
diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind, lässt sich den vom Berufungsge-
richt getroffenen Feststellungen nicht entnehmen.
d) Sollte das Berufungsgericht nach erneuter Befassung - gegebenen-
falls nach erneuter Zeugenvernehmung - zu dem Ergebnis gelangen, dass die
von den Versicherten G. und F. geklagten Beschwerden vorhanden und unfall-
bedingt waren, hätte die Klägerin Anspruch auf Ersatz der Kosten für erfolgte
medizinische Untersuchungen und Behandlungen, soweit diese erforderlich
waren. Dazu zählen solche Heilbehandlungsmaßnahmen, die aus medizini-
scher Sicht eine Heilung oder Linderung versprachen. Zu ersetzen sind ferner
die damit verbundenen Aufwendungen, zu denen auch etwaige Attestkosten
zählen (vgl. MünchKommBGB/Oetker, 6. Aufl., § 249 Rn. 409).
e) Sollte das Berufungsgericht dagegen zu dem Ergebnis gelangen, dass
die geklagten Beschwerden oder aber deren Unfallbedingtheit nicht bewiesen
seien, bestünde entgegen der Auffassung der Revision keine Grundlage für
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einen Anspruch der Klägerin auf Ersatz der geltend gemachten Kosten. Dies gilt
nicht nur für Behandlungskosten, sondern auch für Befunderhebungs- und Di-
agnosekosten. Die Aufwendungen für den Arzt und für die von ihm aufgrund
seiner Verdachtsdiagnose eingeleiteten Maßnahmen und auch die Kosten ei-
nes von ihm ausgestellten Attestes, das der Geschädigte zur Durchsetzung
seiner Ersatzansprüche wegen der vermeintlich erlittenen Personenschäden
verwenden will, sind nur entschädigungspflichtig, wenn die angenommene un-
fallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung tatsächlich verifiziert wird
(teilweise anders KG, NZV 03, 281), weil nur sie und nicht schon der Unfall als
solcher gesetzlicher Anknüpfungspunkt für die Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG,
§ 823 Abs. 1 BGB ist (OLG Hamm, r+s 2003, 434, 436 ff.; AG Nettetal, SP
2007, 211; AG Bottrop, SP 2008, 147 f.). In Fällen der Körperverletzung oder
der Herbeiführung eines Gesundheitsschadens ist nur eine tatsächlich eingetre-
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tene Schädigung haftungsbegründend. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht
einer Schädigung genügt dafür nicht.
Galke
Wellner
Pauge
Stöhr
von Pentz
Vorinstanzen:
AG Freiberg, Entscheidung vom 06.09.2011 - 4 C 559/09 -
LG Chemnitz, Entscheidung vom 25.01.2013 - 6 S 264/11 -