Urteil des BAG vom 26.09.2012
Geltungsbereich eines Tarifvertrages - Durchführung von Werttransporten
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 26.9.2012, 4 AZR 782/10
Geltungsbereich des Tarifvertrages
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Bremen vom 16. November 2010 - 1 Sa 128/10 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über tarifliche Entgeltansprüche für die Monate Mai und Juni 2009.
2 Der Kläger ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Gewerkschaft ver.di)
und seit 2006 bei der Beklagten, einem Unternehmen des Sicherheitsgewerbes mit Sitz in
Bremen, in deren dortiger Niederlassung, in der auch die Personalverwaltung angesiedelt
ist, als Geld- und Werttransporteur tätig. Die Beklagte ist Mitglied des Bundesverbandes
Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen e. V. (BDWS, nunmehr: Bundesverband der
Sicherheitswirtschaft (BDSW) Wirtschafts- und Arbeitgeberverband e. V.), Landesgruppe
Bremen, und der Bundesvereinigung Deutscher Geld- und Wertdienste e. V., Wirtschafts-
und Arbeitgeberverband (BDGW).
3 Zu den Aufgaben des Klägers gehört die Durchführung von Geld- und sonstigen
Werttransporten als Fahrer und Transportleiter. Die Werttransportdienste sind in
verschiedene Touren eingeteilt. Sie beginnen und enden in der Bremer Niederlassung, in
der dem Kläger auch die Arbeitsanweisungen erteilt werden. Die Touren des Klägers
führen ua. zu verschiedenen Kunden in Niedersachsen, teilweise auch in andere
Bundesländer. Vor der jeweiligen Tour werden das Fahrzeug in der Niederlassung in
Bremen beladen und die Tourenpläne, die Fahrzeugschlüssel sowie Waffen und Munition
ausgegeben. Nach Beendigung der Tour werden Fahrzeugschlüssel, Waffen, Munition
sowie die Geld- und Wertbehältnisse in der Niederlassung Bremen abgegeben. Die
Fahrzeuge sind mit GPS (Global Positioning System) und GPRS (General Packet Radio
Service) ausgestattet, so dass die Beklagte jederzeit Kenntnis von dem Standort des
Fahrzeugs hat.
4 Mit seiner Klage macht der Kläger der Höhe und der zugrunde gelegten Stundenanzahl
nach unstreitige Stundenlohndifferenzbeträge für 188 Stunden einer Tätigkeit in
Niedersachsen im Mai 2009 und für 138 Stunden im Juni 2009 geltend. Er hat die
Auffassung vertreten, dass ihm für diese Stunden der in Niedersachsen geltende höhere
tarifvertragliche Stundensatz von 12,34 Euro anstelle des von der Beklagten gezahlten, für
Bremen geltenden tarifvertraglichen Stundensatzes von 11,45 Euro brutto zustehe. Dies
ergebe sich aus dem „Erfüllungsortprinzip“ des § 13 des Mantelrahmentarifvertrages für das
Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland vom 1. Dezember
2006 (MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Bund 2006). Seine Tätigkeit erschöpfe sich
nicht darin, das Fahrzeug in Bremen mit Geld zu befüllen. Die Dienstleistung, die die
Beklagte durch ihn erbringe - und damit zugleich die Arbeitsleistung des Klägers -
verwirkliche sich vor Ort beim Kunden, wenn das Geld dort hingebracht oder abgeholt
sowie auf den Fahrten zu oder von diesen Orten bewacht werde. Aufgrund des Einsatzes
von GPS und GPRS sowie mit Hilfe einer entsprechenden Software sei die Ermittlung der
Tätigkeitszeiten in Niedersachsen problemlos möglich.
5 Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 290,14 Euro brutto nebst fünf Prozentpunkte
über dem Basiszinssatz liegenden Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
6 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Vergütungsanspruch des Klägers
ergebe sich allein aus dem Entgelttarifvertrag für Bremen. Der Erfüllungsort des
Arbeitsverhältnisses der Parteien sei der Standort der Beklagten in der Niederlassung in
Bremen.
7 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung
des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision
verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision
zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
8 Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung im
Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.
9 I. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Vergütung der
Arbeitsstunden, in denen seine Fahrroute durch das Land Niedersachsen führte, nach
dem dort tarifvertraglich geltenden Stundensatz.
10 1. Für das Arbeitsverhältnis gelten aufgrund beiderseitiger normativer Tarifgebundenheit
gemäß § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG sowohl die zwischen dem BDWS (Landesgruppe
Bremen) und der Gewerkschaft ver.di als auch die zwischen der BDGW und der
Gewerkschaft ver.di geschlossenen Tarifverträge, soweit der jeweilige tarifvertragliche
Geltungsbereich eröffnet ist.
11 2. Der Kläger kann seinen Anspruch nicht auf den zwischen der BDGW und der
Gewerkschaft ver.di, Landesbezirk Niedersachsen-Bremen, geschlossenen
Lohntarifvertrag für die Geld- und Wertdienste im Lande Niedersachsen vom 9. Januar
2008, gültig mit Wirkung vom 1. November 2007 bis 31. März 2010 (LTV Geld- und
Wertdienste NI 2008) stützen. Das Arbeitsverhältnis der Parteien unterliegt nicht dessen
Geltungsbereich.
12 a) Der LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 enthält folgende
Geltungsbereichsbestimmungen:
„§ 1
Geltungsbereich
Dieser Tarifvertrag gilt
räumlich: für das Land Niedersachsen
fachlich:
für alle Betriebe, die … Geldtransport-, … …dienste durchführen
persönlich: für alle gewerblichen Arbeitnehmer/innen, die im räumlichen
Geltungsbereich dieses Entgelttarifvertrages eingesetzt werden
…
1. PROTOKOLLNOTIZ
(„Ergänzende Bestimmungen“)
…
5.
Die Tarifvertragsparteien sind sich dahingehend einig, dass der
Geltungsbereich des Tarifvertrages sich nur auf Objekte und
Dienststellen bezieht, die sich im Lande Niedersachsen befinden.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Arbeitsbeginn und Arbeitsende
innerhalb des Landes Niedersachsen stattfindet, werden nach dem für
den Einsatzbeginn und das Einsatzende geltenden Tarifvertrag für das
Land Niedersachsen entlohnt.
Dies gilt insbesondere für Tätigkeiten gemäß § 2 Ziffern 2.1, 2.2, 2.3, 2.4
und 2.5 des Lohntarifvertrages. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
nach diesen Lohngruppen Tätigkeiten während der Dienstzeit im Lande
Niedersachsen ausüben, werden nach dem niedersächsischen
Tarifvertrag entlohnt.“
13 b) Danach gilt der LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 nicht für das Arbeitsverhältnis der
Parteien. Es wird von der Geltungsbereichsbestimmung des Tarifvertrages nicht erfasst.
Das ergibt sich aus der Auslegung der vorstehenden Tarifbestimmungen (zu den Kriterien
der Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages ua. BAG 23. Februar 2011 -
4 AZR 430/09 - Rn. 21 mwN, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bewachungsgewerbe Nr. 22;
4. April 2001 - 4 AZR 180/00 - zu I 2 a der Gründe, BAGE 97, 271).
14 aa) Nach § 4 Abs. 1 TVG hängt die Wirkung der Rechtsnormen des Tarifvertrages im
Arbeitsverhältnis der beiderseits Tarifgebundenen ua. davon ab, ob der Geltungsbereich
des Tarifvertrages eröffnet ist. Die Tarifvertragsparteien haben in § 1 LTV Geld- und
Wertdienste NI 2008 den Geltungsbereich dieses Tarifvertrages in räumlicher, fachlicher
und persönlicher Hinsicht geregelt. Die so bestimmten Voraussetzungen müssen
kumulativ erfüllt sein.
15 bb) Die Geltungsbereichsbestimmungen des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 erfassen
nur Arbeitsverhältnisse gewerblicher Arbeitnehmer von Betrieben, die
Geldtransportdienste durchführen und im Land Niedersachsen gelegen sind.
16 (1) Der räumliche Geltungsbereich des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 umfasst das
Gebiet des Bundeslandes Niedersachsen.
17 (2) Der fachlich-betriebliche Geltungsbereich ist begrenzt auf diejenigen Betriebe, die
Geld- und Werttransporte durchführen. Dabei sind nur solche Betriebe gemeint, die in
Niedersachsen gelegen sind. Dies ergibt sich aus der kumulierenden Wirkung der
Bestimmungen.
18 (a) Die Tarifvertragsparteien sind im Rahmen ihrer Tarifzuständigkeit (vgl. nur BAG
14. November 2001 - 10 AZR 76/01 - mwN, BAGE 99, 310) hinsichtlich des
Anknüpfungspunktes des räumlichen Geltungsbereichs frei (vgl. Schaub/Treber ArbR-
Hdb. 14. Aufl. § 204 Rn. 2; Däubler/Deinert TVG 3. Aufl. § 4 Rn. 190;
Kempen/Zachert/Stein TVG 4. Aufl. § 4 Rn. 21). Sie können etwa auch den
Unternehmenssitz als Anknüpfungspunkt wählen (Wiedemann/Wank TVG 7. Aufl. § 4
Rn. 144; Löwisch/Rieble TVG 3. Aufl. § 4 Rn. 161; ErfK/Franzen 12. Aufl. § 4 TVG Rn. 11,
jeweils mwN zur Rechtsprechung). Soweit die Tarifvertragsparteien an den Betriebssitz
anknüpfen, gilt der Tarifvertrag dann regelmäßig nur für Betriebe, die in seinem räumlichen
Geltungsbereich liegen (vgl. dazu BAG 3. Dezember 1985 - 4 AZR 325/84 - AP TVG § 1
Tarifverträge: Großhandel Nr. 5 = EzA BGB § 269 Nr. 1; 13. Mai 1987 - 4 AZR 632/86 -
ZTR 1987, 213 (LS)). Dies gilt selbst dann, wenn der Unternehmenssitz außerhalb des
Geltungsbereichs liegt (Däubler/Deinert § 4 Rn. 211 mwN). Umgekehrt soll der Tarifvertrag
im Zweifel nicht auf Betriebe angewandt werden, die außerhalb des räumlichen
Geltungsbereichs liegen, selbst wenn das Unternehmen dort seinen Sitz hat oder andere
Betriebe dort gelegen sind (Däubler/Deinert § 4 Rn. 212; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker
Tarifvertragsrecht § 5 Rn. 40, jeweils mwN). Auch muss für Betriebsnormen eines
Tarifvertrages der räumliche Geltungsbereich regelmäßig an den Betriebssitz anknüpfen,
da ansonsten die notwendig einheitliche Geltung im Betrieb verfehlt wird (Löwisch/Rieble
§ 4 Rn. 166).
19 (b) Danach gilt der LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 nur für Betriebe dieser Branche,
die innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Landes Niedersachsen gelegen sind.
Bereits aus dem Wortlaut der fachlichen Geltungsbereichsbestimmung ergibt sich, dass
die Tarifvertragsparteien grundsätzlich Betriebe in ihrer Gesamtheit erfassen wollten. Dies
spricht gegen die von der Revision vertretene Auffassung, wonach der Tarifvertrag
normativ einzelne Arbeitsverhältnisse unabhängig vom jeweiligen Betriebssitz erfassen
könne. Deshalb geht der Einwand der Revision ins Leere, es seien alle Betriebe erfasst,
die Mitglied im tarifschließenden Arbeitgeberverband sind. Verbandsmitglieder können nur
Unternehmen sein. Insofern sind tatsächlich alle Unternehmen, die Mitglied des
BDWS/BDSW sind, tarifgebunden. Der LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 findet jedoch
nur auf die Unternehmen hinsichtlich derjenigen Betriebe Anwendung, die von ihnen im
Land Niedersachsen betrieben werden, und nicht für jedweden Betrieb, der den
Mitgliedsunternehmen zuzuordnen ist.
20 (3) Die Geltung des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 wird weiterhin durch die
Bestimmung des persönlichen Geltungsbereichs eingeschränkt. Aus den sich aus den
beiden bisher behandelten Geltungsbereichsbestimmungen ergebenden, potentiell vom
Tarifvertrag erfassten Arbeitsverhältnissen werden diejenigen ausgegrenzt, die die nicht
gewerblichen Arbeitnehmer der Branche betreffen und die nicht im räumlichen
Geltungsbereich dieses Tarifvertrages eingesetzt werden.
21 Die dem entgegengesetzte Auffassung der Revision, es sei allein die persönliche
Geltungsbereichsbestimmung von Bedeutung, berücksichtigt nicht die fachlich-
betriebliche sowie die räumliche Eingrenzung. Dementsprechend bezieht sich der Begriff
„eingesetzt“, an den der Wortlaut der persönlichen Geltungsbereichsbestimmung anknüpft,
iVm. den übrigen Geltungsbereichsbestimmungen allein auf die in Niedersachsen
gelegenen Betriebe der im fachlichen Geltungsbereich bezeichneten Branche.
22 cc) Dieser Zusammenhang der Geltungsbereichsbestimmungen wird durch die
1. Protokollnotiz zum LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 bestätigt. Darin wird klargestellt,
dass lediglich Objekte und Dienststellen im Lande Niedersachsen Bezugspunkt der
tariflichen Geltung sind. Der Begriff „eingesetzt“ in der persönlichen
Geltungsbereichsbestimmung wird ferner dahingehend konkretisiert, dass von einem
solchen „Einsatz“ im tariflichen Sinne dann ausgegangen werden kann, wenn
Arbeitsbeginn und Arbeitsende im Land Niedersachsen liegen. Damit knüpft der
Tarifvertrag an die regelmäßig von dem Betrieb aus erfolgenden Einsätze der Geld- und
Transportdienstmitarbeiter an.
23 Auch auf Ziff. 5 Abs. 2 der 1. Protokollnotiz zum LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 kann
sich der Kläger für seine Auffassung, nach der auch bei einem nur stundenweisen
Personaleinsatz in Niedersachsen der jeweilige Geltungsbereich des LTV Geld- und
Wertdienste NI 2008 eröffnet sei, nicht stützen. Bereits aus der Eingangsformulierung
(„Dies gilt insbesondere für …“) wird deutlich, dass sich dieser Absatz auf den vorherigen
(Ziff. 5 Abs. 1 der 1. Protokollnotiz) bezieht und ihn weiter präzisiert. Dabei zeigt das Wort
„insbesondere“ im Zusammenhang mit „dies gilt“, dass mit diesem zweiten Absatz nicht
„etwas anderes“ geregelt werden soll, sondern das nach dem ersten Absatz geltende
verstärkend erläutert wird. Die Bezugnahme auf die „Tätigkeiten gemäß § 2 Ziffern 2.1, 2.2,
2.3, 2.4 und 2.5 des Lohntarifvertrages“ erfasst ausnahmslos alle im LTV Geld- und
Wertdienste NI 2008 geregelten Lohngruppen. Die in Ziff. 5 Abs. 1 der 1. Protokollnotiz
zum LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 festgehaltene übereinstimmende Auffassung der
Tarifvertragsparteien zu dessen Geltungsbereich wird mit Ziff. 5 Abs. 2 dahingehend
präzisiert, dass alle von den in diesem Tarifvertrag geregelten Lohngruppen erfassten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach dem niedersächsischen Tarifvertrag entlohnt
werden, wenn sie „Tätigkeiten während der Dienstzeit im Lande Niedersachsen ausüben“.
Damit wird klargestellt, dass auch der zwischen Einsatzbeginn und Einsatzende (vgl.
Ziff. 5 Abs. 1 der 1. Protokollnotiz zum LTV Geld- und Wertdienste NI 2008) liegende
Zwischenzeitraum zu der „Dienstzeit im Lande Niedersachsen“ gehört und die gesamte
Tätigkeit einheitlich nach dem niedersächsischen Tarif zu entlohnen ist.
24 dd) Für dieses Ergebnis spricht weiterhin die systematische Auslegung des LTV Geld- und
Wertdienste NI 2008. Dieser fügt sich erkennbar in das System der Tarifverträge für die
Wach- und Sicherheitswirtschaft insgesamt ein, indem er Sonderregelungen für die
Vergütung von Mitarbeitern im Sicherheitstransportgewerbe des Landes Niedersachsen
trifft, aber ansonsten ausdrücklich die Weitergeltung der bisherigen Regelungen bestimmt.
25 (1) Bis zum Abschluss des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 waren die tariflichen
Arbeitsbedingungen der niedersächsischen Sicherheitstransportmitarbeiter in
landesweiten Tarifverträgen für den gesamten Bereich der Sicherheitswirtschaft geregelt,
ua. dem Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Lande
Niedersachsen vom 10. Oktober 2005 (MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe NI 2005) und
dem am selben Tag hierzu vereinbarten Lohntarifvertrag mit demselben Geltungsbereich.
Diese Tarifverträge waren für die Arbeitgeberseite von der Landesgruppe Niedersachsen
des BDWS geschlossen worden. Die Tarifgebundenheit war auf die örtlich ansässigen
Mitgliedsunternehmen beschränkt. An diese Tarifverträge für Niedersachsen war
demgemäß die Beklagte nicht gebunden, da sie nicht Mitglied der Landesgruppe
Niedersachsen, sondern der Landesgruppe Bremen des BDWS (jetzt BDSW) ist, die -
weitgehend entsprechend - eigene Tarifverträge für das Land Bremen geschlossen hatte.
Der MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe NI 2005 gilt nach wie vor räumlich für das Land
Niedersachsen, betrieblich-fachlich für die Betriebe des Wach- und Sicherheitsgewerbes
sowie des Sicherheitstransportdienstes und persönlich für die in diesen Betrieben
beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer. Wegen insoweit fehlender Tarifgebundenheit
ist die Beklagte auch nach wie vor nicht an den MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe
NI 2005 gebunden, sondern an den entsprechenden Manteltarifvertrag für das Wach- und
Sicherheitsgewerbe im Lande Bremen vom 13. Dezember 2006, gültig mit Wirkung vom
1. März 2007 (MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe HB 2006).
26 (2) Der im Januar 2008 vereinbarte LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 sollte erkennbar
lediglich die speziellen Entgeltregelungen für Sicherheitstransportdienste an die Stelle der
bisherigen allgemeinen Entgeltregelungen für das gesamte Wach- und
Sicherheitsgewerbe setzen, aber nicht das Tarifgefüge im Übrigen ändern. So bestimmt
§ 5 Abs. 4 LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 ausdrücklich:
„Alle anderen bisherigen tarifvertraglichen Bestimmungen einschließlich
Protokollnotizen, die auch für Geld- und Wertdienstunternehmen maßgeblich
waren, finden weiterhin auf diese Unternehmen Anwendung. Dies gilt insbesondere
für den Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Lande
Niedersachsen vom 10. Oktober 2005 …“
27 Die ausdrückliche Bestimmung der Weitergeltung eines „verbandsfremden“
Manteltarifvertrages, der auf Arbeitgeberseite von der Landesgruppe Niedersachsen des
BDWS/BDSW vereinbart worden war, verdeutlicht die Absicht der Tarifvertragsparteien
des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008, mit ihrer neuen Vereinbarung in die Kontinuität
dieser Regelungen einzutreten. Dies schließt aus, dass der betriebliche Geltungsbereich
der tariflichen Entgeltregelungen von - bisher - dem Land Niedersachsen mit dem
Abschluss des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 auf - allein hinsichtlich der
Neuregelung - das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt werden sollte. Denn sowohl der
Anschluss an einen bzw. die Ersetzung eines bisherigen Tarifvertrages als auch die
Zuordnung eines Entgelttarifvertrages zu einem Manteltarifvertrag sprechen für die
Identität der jeweils in Bezug genommenen Geltungsbereichsbestimmungen
(Wiedemann/Wank § 4 Rn. 121; Däubler/Deinert § 4 Rn. 207).
28 (3) Diese Einbindung des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 ergibt sich auch aus dessen
„2. Protokollnotiz“. Diese ist nicht zwischen den Tarifvertragsparteien des LTV Geld- und
Wertdienste NI 2008 selbst vereinbart worden, sondern auf Arbeitgeberseite von der
Landesgruppe Niedersachsen des Arbeitgeberverbandes BDWS, die den MTV Wach- und
Sicherheitsgewerbe NI 2005 und den bis dahin geltenden entsprechenden
Lohntarifvertrag für Niedersachsen geschlossen hat. Diese Protokollnotiz hat folgenden
Wortlaut:
„
2. PROTOKOLLNOTIZ
(„Außer-Kraft-Treten von tariflichen Bestimmungen“)
zum Lohntarifvertrag
für die Geld- und Wertdienste
im Lande Niedersachsen vom 09. Januar 2008
Der Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen e. V. (BDWS),
Landesgruppe Niedersachsen, und ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft,
Landesbezirk Niedersachsen-Bremen, erklären übereinstimmend,
1. den Lohntarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Lande
Niedersachsen vom 10. Oktober 2005, gültig vom 01. November 2005
bis 31. Oktober 2007 und
2. die 1. Protokollnotiz zu dem unter Ziffer 1. aufgeführten Tarifvertrag vom
10. Oktober 2005, gültig vom 01. November 2005 bis 31. Oktober 2007,
jeweils durch die o. g. Tarifvertragsparteien geschlossen, zum 01. November 2007
für Geld- und Wertdiensteunternehmen der Bundesvereinigung Deutscher Geld-
und Wertdienste e. V. (BDGW) und deren Beschäftigte, die Mitglied der
tarifschließenden Parteien sind, außer Kraft zu setzen. Eine Nachwirkung ist für
BDGW-Unternehmen damit ausgeschlossen.
Hannover, 09. Januar 2008“
29 Da wegen der unterschiedlichen Tarifvertragsparteien des bisherigen Lohntarifvertrages
für den allgemeinen Wach- und Sicherheitsdienst in Niedersachsen von 2005 und des
neuen LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 die Regelungen des Lohntarifvertrages von
2005 durch den neuen Tarifvertrag nicht ohne weiteres abgelöst werden konnten, bedurfte
es zur Vermeidung der normativen Weitergeltung einer ausdrücklichen,
bereichsbezogenen Aufhebung des bisherigen Lohntarifvertrages von 2005 durch
diejenigen Tarifvertragsparteien, die diesen Tarifvertrag abgeschlossen hatten. Diese
Aufhebung ist Inhalt der 2. Protokollnotiz, die wegen der abweichenden
Tarifvertragsparteien in der Sache ein eigenständiger Tarifvertrag ist. Dies verdeutlicht
erneut, dass mit dem LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 lediglich Sonderregelungen für
die bisher dem - allgemeinen - Lohntarifvertrag des Wach- und Sicherheitsgewerbes in
Niedersachsen von 2005 und nach wie vor dem MTV Wach- und Sicherheitsgewerbe
NI 2005 unterfallenden Arbeitsverhältnisse im Geld- und Werttransportdienst aufgestellt
worden sind.
30 3. Der Kläger kann seinen Anspruch auch nicht auf die §§ 8, 13 des zwischen dem BDWS
und der Gewerkschaft ver.di geschlossenen MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe
Bund 2006 stützen.
31 a) Der MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Bund 2006 enthält ua. folgende
Regelungen:
„§ 1
Geltungsbereich
Dieser Tarifvertrag gilt
räumlich
für die Bundesrepublik Deutschland,
fachlich
für alle Betriebe des Wach- und Sicherheitsgewerbes, sowie für alle
Betriebe, die Kontroll- und Ordnungsdienste betreiben, für alle
Bewachungsobjekte und Dienststellen, sowie für Geld- und
Wertdienste,
persönlich
Ausnahme der Angestellten in den Bundesländern Brandenburg,
Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.
…
§ 8
Entgelt
1.
Die Entlohnung / Vergütung richtet sich nach dem jeweils gültigen
Entgelt-, Lohn- oder Gehaltstarifvertrag der Länder. …
…
§ 13
Erfüllungsortprinzip
Für die länderspezifischen Mantel-, Entgelt-, Lohn- und Gehaltstarifverträge gilt der
Anspruch aus den tariflichen Bestimmungen gemäß dem Ort der Erbringung der
Arbeitsleistung.“
32 b) Dabei kann dahinstehen, ob § 13 MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Bund 2006
nicht bereits durch § 4 des zwischen dem BDWS und der Gewerkschaft ver.di
geschlossenen Tarifvertrages über die Geltung tariflicher Vorschriften gemäß dem
Erfüllungsort für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland
vom 9. Juli 2007 (TV Erfüllungsort) aufgehoben worden ist. § 2 TV Erfüllungsort beinhaltet
zwar materiell dieselbe Regelung wie § 13 MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe
Bund 2006. In seinen ansonsten übereinstimmenden Geltungsbereichsbestimmungen
sind jedoch die „Geld- und Wertdienste“ anders als in der fachlichen
Geltungsbereichsregelung jenes Tarifvertrages nicht mehr aufgeführt. Deshalb ist fraglich,
ob für diese Branche § 13 MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Bund 2006 überhaupt
noch in Kraft ist.
33 c) Selbst wenn man zugunsten des Klägers die Geltung von § 13 MRTV Wach- und
Sicherheitsgewerbe Bund 2006 oder von § 2 TV Erfüllungsort für das Arbeitsverhältnis
unterstellt, ist die tarifliche Regelung zum „Erfüllungsortprinzip“ gemäß dem Ort der
Erbringung der Arbeitsleistung keine eigenständige Anspruchsgrundlage für die
Forderung des Klägers. Es handelt sich dabei vielmehr um eine tarifvertraglich festgelegte
Kollisionsregel, die dazu dient, eine eventuell bestehende Tarifkonkurrenz aufzulösen.
Vorausgesetzt sind dabei jeweils geltende Ansprüche nach länderspezifischen Mantel-,
Entgelt-, Lohn- und Gehaltstarifverträgen. Die Regelung schafft keinen eigenständigen
Anspruch unabhängig von der Geltung von (ggf. konkurrierenden) Ländertarifverträgen
und dem Vorliegen von deren Anspruchsvoraussetzungen. Im Streitfall liegt keine
auflösungsbedürftige Tarifkonkurrenz vor. Das Arbeitsverhältnis des Klägers wird nicht
von dem Geltungsbereich des LTV Geld- und Wertdienste NI 2008 erfasst.
34 d) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer Zusammenschau von § 8 iVm. § 13
MRTV Wach- und Sicherheitsgewerbe Bund 2006. Nach § 8 Abs. 1 MRTV Wach- und
Sicherheitsgewerbe Bund 2006 richtet sich die Entlohnung/Vergütung nach dem jeweils
gültigen Entgelt-, Lohn- und Gehaltstarifvertrag der Länder. Daraus geht nichts darüber
hervor, unter welchen der Länder-Tarifverträge ein Arbeitsverhältnis fällt und welcher
danach als „gültig“ im Sinne der Tarifvorschrift anzusehen ist.
35 4. Die Klageforderung ergibt sich schließlich nicht aus dem MTV Wach- und
Sicherheitsgewerbe HB 2006 oder aus dem Entgelttarifvertrag für die Geld- und
Wertdienste in Bremen vom 20. März 2009, gültig ab 1. März 2009 (ETV Geld- und
Wertdienste HB 2009). Insoweit ist zwischen den Parteien zwar unstreitig und aus
rechtlicher Hinsicht nicht zweifelhaft, dass diese für das Arbeitsverhältnis der Parteien
unmittelbar und zwingend gelten, weil beide Parteien an diese Tarifverträge gemäß § 3
Abs. 1 TVG tarifgebunden sind und ihrem Geltungsbereich unterfallen (§ 4 Abs. 1 TVG).
Keiner der Tarifverträge enthält jedoch eine Bezugnahme auf Lohnregelungen des
LTV Geld- und Wertdienste NI 2008.
36 II. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seines ohne Erfolg eingelegten
Rechtsmittels zu tragen.
Creutzfeldt
Rachor
Winter
Pieper
Hess