Das Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts ist – entgegen einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs – der Auffassung, dass die Kosten eines erbrechtlichen Prozesses nicht als außergewöhnliche Belastung bei der Einkommensteuer absetzbar sind.
Nach § 33 Abs. 1 EStG wird auf Antrag die Einkommensteuer ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie gleichen Familienstands erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen dann zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und somit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 S. 1 EStG).
§ 33 Abs. 2 S. 4 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 26.06.2013 – AmtshilfeRLUmsG –, wonach Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits (Prozesskosten) vom Abzug ausgeschlossen sind, es sei denn, es handelt sich um Aufwendungen, ohne die der Steuerpflichtige Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, gelangt im Streitfall nicht zur Anwendung. Da der Gesetzgeber keine besondere Anwendungsbestimmung aufgestellt hat, gilt die am 01.01. 2013 in Kraft getretene Norm (Art. 31 Abs. 1 des AmtshilfeRLUmsG) ab dem Veranlagungszeitraum 2013 (§ 52 Abs. 1 EStG).
Für die Entscheidung, ob Aufwendungen zwangsläufig im Sinne des § 33 EStG i. d. F. des Streitjahres angefallen sind, ist auf die wesentliche Ursache abzustellen, die zu den Aufwendungen geführt hat. Liegt diese in der vom Einzelnen gestaltbaren Lebensführung, kommt ein Abzug nicht in Betracht. Die Kosten eines Zivilprozesses wurden bis zum Ergehen der Grundsatzentscheidung des Bundesfinanzhofs vom 12.05.2011 lediglich in besonders gelagerten Fällen als außergewöhnliche Belastung anerkannt. Die erforderliche Zwangsläufigkeit der Kosten wurde nur dann bejaht, wenn die Durchführung eines Gerichtsverfahrens prozessrechtlich der einzige Weg war, das Klageziel zu erreichen. Nach der nunmehr vom Bundesfinanzhof im Urteil vom 12.05.2011 vertretenen Auffassung ergibt sich die rechtliche Zwangsläufigkeit der für die Durchführung eines Zivilprozesses entstandenen Kosten unabhängig vom Gegenstand des Verfahrens aus dem staatlichen Gewaltmonopol und der daraus folgenden Notwendigkeit für den Steuerpflichtigen, streitige Ansprüche gerichtlich durchzusetzen oder abzuwehren. Die für die Anerkennung außergewöhnlicher Belastungen im Sinne des § 33 Abs. 1 EStG erforderliche Unausweichlichkeit liegt für den Steuerpflichtigen bereits darin, dass er – will er sein Recht durchsetzen – im Verfassungsstaat des Grundgesetzes den Rechtsweg beschreiten muss. Unausweichlich sollen derartige Aufwendungen allerdings nur dann sein, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Zivilprozesskosten sollen zudem der Höhe nach nur insoweit abziehbar sein, als sie notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht überschreiten; etwaige Leistungen aus einer Rechtsschutzversicherung sind im Rahmen der Vorteilsanrechnung zu berücksichtigen.
Der IX. Senat des Bundesfinanzhofs hat offen gelassen, ob er dieser geänderten Rechtsprechung folgen könnte. Darüber hinaus hätte der VI. Senat nach dem Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs vom 09.10.2014 vor der Änderung der Rechtsprechung bei den anderen für außergewöhnliche Belastungen auch zuständigen Senate anfragen müssen. Dennoch ist die überwiegende Mehrzahl der Finanzgerichte der geänderten Rechtsprechung gefolgt.
Nach dieser neuen Rechtsprechung wären auch die in dem vom Schleswig-Holsteinischen Fall von den Klägern geltend gemachten Rechtsanwalts- und Gerichtskosten als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen. An der Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit der Anwalts- und Gerichtskosten bestehen aus Sicht des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts keine Zweifel. Auch der Höhe nach bestehen keine Bedenken in Bezug auf die Angemessenheit der Aufwendungen.
Dieser neuen Rechtsprechung des VI. Senats des Bundesfinanzhofs ist u.a. das Finanzgericht Düsseldorf entgegen getreten. In dieser Entscheidung führt das Finanzgericht Düsseldorf Folgendes aus:
„a) Leitmaxime des Einkommensteuerrechts ist die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, die das verfassungsrechtlich im Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verankerte Gebot der Steuergleichheit konkretisiert. Demzufolge sind Aufwendungen, die zu einer Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit führen, aus der Bemessungsgrundlage auszuscheiden. Abzugsfähig sind dabei nicht nur die sog. Erwerbsaufwendungen, die im Zusammenhang mit der Erwirtschaftung von Einkünften stehen und die objektive steuerliche Leistungsfähigkeit bestimmen (sog. objektives Nettoprinzip), sondern auch private Ausgaben, die der Deckung des existentiell notwendigen Lebensbedarfs dienen (sog. subjektives Nettoprinzip ). Nach dem subjektiven Nettoprinzip muss dem Steuerbürger ein „staatsfreies Existenzminimum“ verbleiben, da die Fähigkeit zur Steuerzahlung erst nach Deckung des allernotwendigsten Lebensbedarfs beginnt. Das EStG trägt dem subjektiven Nettoprinzip Rechnung, indem es z.B. im Tarif den Grundfreibetrag gem. § 32a Abs. 1 EStG berücksichtigt und für bestimmte Minderungen der subjektiven Leistungsfähigkeit Abzugsmöglichkeiten als Sonderausgaben oder als außergewöhnliche Belastungen vorsieht. Der Tatbestand des § 33 EStG ist daher zugleich Ausfluss und Konkretisierung des subjektiven Nettoprinzips.
b) Auf der Tatbestandsebene des § 33 EStG kommt der Zusammenhang mit dem subjektiven Nettoprinzip in dem Merkmal der „Außergewöhnlichkeit“ – umschrieben durch die (verunglückte) Formulierung „größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands“ – zum Ausdruck. Aufwendungen sind außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen, liegen. Der Tatbestand der außergewöhnlichen Belastungen ergänzt daher den Grundfreibetrag des § 32a Abs. 1 EStG. Beide Vorschriften betreffen den existenziell notwendigen Lebensbedarf. Sie unterscheiden sich aber dadurch, dass der Grundfreibetrag den regelmäßig entstehenden existentiellen Grundbedarf typisierend abbildet, während demgegenüber § 33 EStG den unregelmäßigen und untypischen und damit nicht typisierbaren existenznotwendigen Aufwand betrifft.
c) Dieser Systematik trägt die geänderte BFH-Rechtsprechung nach Auffassung des Senats nicht in ausreichendem Maße Rechnung. Der BFH sieht die „Außergewöhnlichkeit“ von Prozesskosten vor dem Hintergrund als gegeben an, dass diese nicht im sozialhilferechtlichen Regelbedarf enthalten seien. Nach Auffassung des Senats bestehen aber insoweit gerade im Hinblick auf Prozesskosten Besonderheiten. Ebenso wie das EStG unterscheidet auch das Sozialrecht zwischen dem laufenden, regelmäßig entstehenden Grundbedarf, der sich in dem sog. Regelbedarf ausdrückt (vgl. § 20 SGB II, § 27a SGB XII), und – vergleichbar den außergewöhnlichen Belastungen im EStG – dem sog. Mehr- und Sonderbedarf aufgrund atypischer Lebenssituationen (vgl. etwa §§ 21 ff. SGB II und §§ 30 ff. SGB XII). Nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung bilden Prozesskosten weder Regel- noch Mehrbedarf. Die Begründung hierfür sieht die sozialgerichtliche Rechtsprechung darin, dass bei Hilfebedürftigkeit der Anspruch auf einen Zuschuss zu den Prozesskosten in den Verfahrensordnungen abschließend durch die Regelung zur Prozesskostenhilfe geregelt ist. Deren Bestimmungen sollen den Regelungen über die Grundsicherung nach dem SGB II und SGB XII vorgehen. Die Prozesskostenhilfe bildet daher ein eigenständiges System der Hilfe für Bedürftige, die sich in der besonderen Situation befinden, dass sie staatlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen müssen. Hintergrund hierfür ist, dass der Zugang zu den Gerichten für jedermann in grundsätzlich gleicher Weise eröffnet sein soll. Art. 3 GG und das Rechtsstaatsprinzip gebieten daher eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Die der Gewährung von Prozesskostenhilfe zugrunde liegende verfassungsrechtliche Werteentscheidung, Bedürftigen auch Prozesskostenhilfe für Verfahren zu gewähren, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Gewährleistung des sozialrechtlichen Existenzminimums stehen, geht über die Werteentscheidung des EStG, die unvermeidbaren Aufwendungen für die eigene Existenzsicherung von der Besteuerung auszunehmen, hinaus. Nach Auffassung des Senats können daher einkommensteuerlich allenfalls solche Prozessaufwendungen als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt werden können, die durch ein Gerichtsverfahren veranlasst sind, in dem über für den Steuerpflichtigen existentielle Fragen entschieden wird.
Dagegen lässt die neuere Rechtsprechung des BFH, wonach jeder mit hinreichender Erfolgsaussicht geführte Zivilprozess als unausweichlich und damit als zwangsläufig i. S. des § 33 EStG anzusehen wäre, die dem Tatbestand des § 33 EStG immanente Beschränkung auf den existentiell notwendigen Lebensbedarf außer Acht. Der Senat schließt sich der Kritik von Steinhauff an, dass nach der geänderten Rechtsprechung des BFH nunmehr auch solche Aufwendungen für Rechtsstreitigkeiten als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen wären, die mit dem notwendigen Lebensbedarf des Steuerpflichtigen nichts zu tun haben. Einen Abzug derartiger Aufwendungen gebietet das subjektive Nettoprinzip jedoch nicht. Dass die BFH-Rechtsprechung einen zu weitgehenden Abzug von Prozesskosten ermöglichen würde, wird nach Auffassung des Senats an der im Streitfall gegebenen Konstellation deutlich. Die im Zusammenhang mit der Erteilung des Erbscheins entstandenen Gerichts- und Anwaltskosten stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem existenziell notwendigen Lebensbedarf der Klägerin.
d) Gegen die vom BFH im Urteil vom 12.05.2011 vertretene Rechtsauffassung spricht aus Sicht des Senats schließlich auch, dass der BFH eine entsprechende Sichtweise in früheren Entscheidungen bereits ausdrücklich aufgegeben hatte. In seiner Rechtsprechung zu den Kosten einer Ehescheidung hatte der BFH mit einer ähnlich gelagerten Begründung wie derjenigen des VI. Senats in seinem Urteil vom 12.05.2011 den Abzug von Ehescheidungskosten als außergewöhnliche Belastung zunächst erlaubt. Nach der seinerzeit vom BFH vertretenen Auffassung resultierte die Zwangsläufigkeit der Ehescheidungskosten daraus, dass eine Ehe bei Lebzeiten des anderen Ehegatten nur durch eine gerichtliche Scheidung – also unter Inanspruchnahme des Rechtswegs – gelöst werden konnte. In seinem Urteil vom 02.10.1981 setzte sich der BFH mit dieser Rechtsprechung auseinander und gestand ausdrücklich zu, dass es darauf, dass eine Ehe nur durch eine gerichtliche Entscheidung gelöst werden könne, bei der Bestimmung der Zwangsläufigkeit der Aufwendungen nicht allein ankommen könne, weil sonst auch Aufwendungen für jeden anderen rechtsgestaltenden Staatsakt, wie z.B. die Gebühren des Standesbeamten für eine Eheschließung, als zwangsläufig im Sinne des § 33 EStG anzusehen wären. Die Zwangsläufigkeit könne daher im Rahmen des § 33 Abs. 2 EStG nicht allein an der unmittelbaren Zahlungsverpflichtung gemessen werden. Erforderlich sei vielmehr, dass auch das die Verpflichtung adäquat verursachende Ereignis für den Steuerpflichtigen zwangsläufig sein müsse. Diese Grundannahme, dass Prozesskosten nur als zwangsläufig zu erachten sind, wenn das die Zahlungsverpflichtung oder den Zahlungsanspruch adäquat verursachende Ereignis zwangsläufig erwachsen ist, hat der BFH in der Folgezeit konsequent auch auf die Kosten eines Zivilprozesses übertragen und im Übrigen daran festgehalten, dass eine Vermutung gegen ihre Zwangsläufigkeit spricht. In seinem Urteil vom 04.12.2001 hat der BFH seine Rechtsprechung zu dieser Problematik dahingehend modifiziert, dass eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Kosten eines Zivilprozesses keine außergewöhnlichen Belastungen seien, dann greife, wenn der Rechtsstreit einen für den Steuerpflichtigen existenziell wichtigen Bereich berühre und der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können. Nach Auffassung des Senats war die Entwicklung der früheren Rechtsprechung vor dem Hintergrund, dass das subjektive Nettoprinzip nur den Abzug existentiell notwendiger Aufwendungen gebietet, folgerichtig.“
Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht hat sich Ausführungen des Finanzgerichts Düsseldorf inhaltlich voll angeschlossen.
Unter Berücksichtigung der früheren Rechtsprechungsgrundsätze sind die im Streitfall geltend gemachten Aufwendungen nicht als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen. Es ging in dem zugrunde liegenden Rechtsstreit um Auskunfts- und Pflichtteilsansprüche, die die Klägerin gegenüber den Erben ihres verstorbenen leiblichen Vaters geltend gemacht hatte. Damit waren keine existentiell wichtigen Bereiche oder der Kernbereich des menschlichen Lebens betroffen. Die Klägerin ist letztlich ein Prozessrisiko eingegangen, mit dem Ziel, eine Vermögensbereicherung zu erzielen.
Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht hat im Hinblick auf die unverändert für die Jahre bis 2012 ungeklärte Rechtslage und die Vielzahl der anhängigen Revisionsverfahren die Revision zugelassen.
Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, Urteil vom 18.03.2015 – 2 K 256/12
(Revision wurde eingelegt: BFH – VI R 29/15)