Einkommensteuerrechtlich ist es nach einer aktuellen Entscheidung des Bundesfinanzhofs ab dem im Bescheid genannten Zeitpunkt zu berücksichtigen, wenn bei einem schwerbehinderten Menschen der Grad der Behinderung von 80 oder mehr auf weniger als 50 herabgesetzt wird. Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte sowie Familienheimfahrten im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung können daher nicht mehr nach § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 EStG bemessen werden. Es bedarf keiner grundsätzlichen Klärung, dass § 116 Abs. 1 SGB IX oder § 38 Abs. 1 SchwbG im Steuerrecht nicht anzuwenden ist.
§ 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 EStG ist keine Schutzvorschrift für Schwerbehinderte i.S. des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S. des § 116 Abs. 1 SGB IX.
In dem entschiedenen Fall war streitig, ob für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte nach der Herabsetzung des Grades der Behinderung weiterhin gemäß § 9 Abs. 2 S. 3 EStG die tatsächlichen Aufwendungen als Werbungskosten geltend gemacht werden können.
Der Kläger, der während der Streitjahre (2000 bis 2007) nichtselbständig beschäftigt war, wurde durch Bescheid des Versorgungsamts vom Mai 1994 als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 80 anerkannt. Mit Bescheid des Amtes für soziale Angelegenheiten X vom Dezember 1999 wurde der Grad der Behinderung des Klägers unter Aufhebung des Bescheids vom Mai 1994 auf 20 herabgesetzt. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger erfolglos Widerspruch und Anfechtungsklage erhoben und auch den weiteren sozialgerichtlichen Rechtsweg ohne Erfolg ausgeschöpft. Die Beschwerde wurde durch Beschluss des Bundessozialgerichts vom November 2006 – zugestellt im Januar 2007 – als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger war in allen Streitjahren Inhaber eines Schwerbehindertenausweises, in dem ein Grad der Behinderung von 80 ausgewiesen wurde.
Der beklagte Finanzamt hat die Einkommensteuer des Klägers in fünf auf § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO gestützten Änderungsbescheiden vom 08.09.2005 für die Jahre 2000 bis 2004 ohne Anwendung des § 9 Abs. 2 S. 3 EStG festgesetzt und dabei für die Jahre 2000 bis 2003 auch Nachforderungszinsen erhoben. Darüber hinaus hat das FA Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2005 bis 2007 erlassen, in denen es die Fahrten des Klägers zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte lediglich im Rahmen der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG berücksichtigt hat.
Der Kläger hat gegen die Steuerfestsetzungen der Streitjahre fristgerecht Einspruch erhoben. Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen, dass sein Status als erheblich Schwerbehinderter vom Finanzamt zu Unrecht nicht berücksichtigt worden sei. Ausweislich des Schwerbehindertenausweises sei er in den Streitjahren als schwerbehindert (Grad der Behinderung 80) anerkannt. Der Ausweis sei bis zum 30.06.2007 gültig gewesen. Solange könne er als Behinderter nach § 9 Abs. 2 S. 3 EStG erhöhte Wegekosten für die Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte geltend machen. Der vom Schwerbehindertenausweis abweichende Neufeststellungsbescheid vom Dezember 1999 (Grad der Behinderung 20) stehe dem nicht entgegen. Denn dieser sei erst nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens vor dem BSG im Januar 2007 bestandskräftig geworden. Daher seien die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen und damit auch § 9 Abs. 2 S. 3 EStG gemäß § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. § 116 Abs. 1 SGB IX jedenfalls noch bis Ende April (dem dritten Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Neufeststellungsbescheids) anzuwenden.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Die Revision wurde nicht zugelassen. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde, der aber beim Bundesfinanzhof kein Erfolg beschieden war.
Die Revision war nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Eine Rechtssache ist von grundsätzlicher Bedeutung, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Rechtsfrage muss im konkreten Fall klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärbar sein. Eine Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, wenn sie durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bereits hinreichend geklärt ist und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung dieser Frage erforderlich machen. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es auch, wenn die Rechtsfrage offensichtlich so zu beantworten ist, wie es das Finanzgericht getan hat, die Rechtslage also eindeutig ist und nicht (erst) in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss.
Nach diesen Grundsätzen kommt den im Streitfall vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen,
- ob die Fortgeltung des Schwerbehindertenausweises bis zum bestandskräftigen Abschluss eines den Grad der Behinderung herabsetzenden Neufeststellungsverfahrens einer einkommensteuerrechtlichen Berücksichtigung des herabgesetzten Grades der Behinderung bereits ab dem Neufeststellungszeitpunkt auch nach Eintritt der Bestandskraft des den Grad der Behinderung herabsetzenden Bescheids entgegensteht,
- ob die Einkommensteuer eines schwerbehinderten Menschen, dessen Grad der Behinderung von 80 oder mehr auf weniger als 50 herabgesetzt wurde, für den Nachwirkungszeitraum des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. § 116 Abs. 1 SGB IX unter Anwendung der Regelung des § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 EStG bzw. § 9 Abs. 2 S. 11 Nr. 1 EStG festzusetzen ist sowie
- ob die Regelung des § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 EStG bzw. § 9 Abs. 2 S. 11 Nr. 1 EStG als Schutzvorschrift für Schwerbehinderte i.S. des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. als besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S. des § 116 Abs. 1 SGB IX anzusehen ist,
mach Auffassung des Bundesfinanzhofs keine grundsätzliche Bedeutung zu.
Durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist bereits hinreichend geklärt, dass trotz Fortgeltung des Schwerbehindertenausweises bis zum bestandskräftigen Abschluss eines den Grad der Behinderung herabsetzenden Neufeststellungsverfahrens einkommensteuerrechtlich der herabgesetzte Grad der Behinderung bereits auf den Neufeststellungszeitpunkt zu berücksichtigen ist. Der Bundesfinanzhof löst damit das Konkurrenzverhältnis zwischen Neufeststellungsbescheid und einem anderslautenden Schwerbehindertenausweis zugunsten des Feststellungsbescheids auf. Die Finanzbehörden sind nach § 171 Abs. 10 AO an die in einem Bescheid enthaltenen Feststellungen über den Grad der Behinderung gebunden. Der Vorrang der Neufeststellung – hier des Bescheids des Amtes für soziale Angelegenheiten vom Dezember 1999 – vor dem (bis zur Bestandskraft des Änderungsbescheids fortgeltenden) Schwerbehindertenausweis und seiner drittwirkenden Beweisfunktion als öffentliche Urkunde i.S. des § 417 ZPO auch gegenüber den Finanzbehörden und -gerichten gründet auf einer steuerspezifischen Betrachtungsweise, die dem Grundsatz der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit geschuldet ist. Denn wenn die Herabsetzung des Grades der Behinderung rechtskräftig festgestellt ist, sind die Folgerungen aus der Neufeststellung (Grundlagenbescheid) schon deshalb zum Neufeststellungszeitpunkt zu ziehen, weil von diesem Moment an behinderungsbedingte erhöhte Wegekosten i.S. des § 9 Abs. 2 S. 3 EStG nicht länger zu erwarten sind. Darüber hinaus ist eine über den Neufeststellungszeitpunkt hinausgehende Inanspruchnahme der Regelung nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. § 9 Abs. 2 S. 3 EStG soll vor dem Hintergrund nicht kostendeckender Entfernungspauschalen typisierend dem Umstand Rechnung tragen, dass erheblich behinderte Personen nur eingeschränkt auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen können. Dieser sachliche Grund für die steuerliche Begünstigung erheblich behinderter Steuerpflichtiger im Verhältnis zu anderen nicht- oder nur minderbehinderten Steuerpflichtigen, ist im Zeitpunkt der Neufeststellung entfallen.
Die Kritik von Voelzke und die Beschwerdebegründung, die sich diese Kritik zu Eigen gemacht hat, verhält sich zu diesem steuerspezifischen Vorrang der Neufeststellung zum Feststellungszeitpunkt trotz versorgungsrechtlich fortgeltendem Schwerbehindertenausweis nicht. Das Vorbringen des Klägers erschöpft sich vielmehr darin, seinen gegenteiligen Rechtsstandpunkt, dass die Neufeststellung erst mit Eintritt der Bestandskraft (hier nach dem Beschluss des BSG vom November 2006)9 des Änderungsbescheids wirksam werde, mit den verfahrensrechtlichen Bestimmungen zur Durchführung des Neufeststellungsverfahrens bei wesentlichen Änderungen im Ausmaß der Behinderung sowie den Vorschriften des SchwbG bzw. des SGB IX zu begründen. Damit hat sich der Bundesfinanzhof jedoch in seinem Urteil vom 22.09.2989 bereits auseinandergesetzt. Neue und gewichtige, vom Bundesfinanzhof noch nicht geprüfte Erwägungen, die eine erneute Prüfung und Entscheidung der streitigen Rechtsfrage(n) erforderlich machen, hat der Kläger nicht geltend gemacht. Solche sind auch weder in der Rechtsprechung der Finanzgerichte und/oder in der Literatur ersichtlich und ergeben sich auch nicht aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.05.2011 zur Schutzfrist des § 38 Abs. 1 SchwbG. Denn dieses Urteil ist zur Altersrente für schwerbehinderte Menschen ergangen und verhält sich zu der Frage des steuerlichen Vorrangs von feststellendem Grundlagenbescheid gegenüber fortgeltendem Schwerbehindertenausweis nicht.
Die Frage, ob § 9 Abs. 2 S. 3 EStG im Nachwirkungszeitraum des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. § 116 Abs. 1 SGB IX (Beendigung der Anwendung der besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen erst ab dem Ende des dritten Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des den Grad der Behinderung verringernden feststellenden Bescheids) zu berücksichtigen ist, ist ebenfalls nicht klärungsbedürftig. Denn sie lässt sich – soweit sie nicht ebenfalls bereits durch die o.g. Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs als Schutzvorschrift für Schwerbehinderte i.S. des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. als besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S. des § 116 Abs. 1 SGB IX ohne weiteres aus dem EStG beantworten. § 38 Abs. 1 SchwbG und § 116 Abs. 1 SGB IX sollen insoweit verhindern, dass schwerbehinderte Menschen nach Absinken des Grades der Behinderung auf unter 50 “von heute auf morgen einer sozial bedenklichen Situation gegenüberstehen”. Die Verlängerung des Schwerbehindertenschutzes mag versorgungsrechtlich erforderlich sein. In einem an der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Gebot steuerlicher Lastengleichheit ausgerichteten Einkommensteuerrecht ist eine steuerliche Begünstigung nicht- oder minderbehinderter Steuerpflichtiger für einen Übergangszeitraum nicht geboten. Denn in diesem Zeitraum fehlt es bei dem Betroffenen bereits an einem behinderungsbedingten Mehraufwand an Wegekosten. Damit widersprechen Stellung und Bedeutung des § 9 Abs. 2 Satz 3 EStG im System des Einkommensteuerrechts einer Einordnung als eine Schutzvorschrift i.S. des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. als besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S. des § 116 Abs. 1 SGB IX.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 11.03.2014 – VI B 95/13