martina heck

03.09.2013

Durch Polizeihund zum Sonderopfer

Auch dann, wenn ein Demonstrationsteilnehmer wegen des Fehlverhaltens eines anderen Demonstrationsteilnehmers und einer unglücklichen Verkettung von Umständen von einem Polizeihund gebissen wird, kommt wegen des immateriellen Schadens eine Entschädigung nach allgemeinen Aufopferungsgrundsätzen in Betracht. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat auf dieser Grundlage dem betroffenen Demonstrationsteilnehmer (Kläger) gegen das Land Hessen eine Entschädigung von 300,- € zugesprochen nachdem das Landgericht Gießen die Klage abgewiesen hatte, da nach seiner Auffassung keine Amtspflichtverletzung des den Hund führenden Polizeibeamten vorlag.

Der Kläger hatte am 02.10.2011 in Gießen mit etwa 500 weiteren Personen an einem Demonstrationszug teilgenommen, der sich gegen eine Festveranstaltung des Konsulats von Eritrea richtete. Zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wurden vor Ort etwa 50 Polizisten eingesetzt. Am Tor des Veranstaltungsgeländes stockte der Demonstrationszug, weil es zu aggressiven Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern der Festveranstaltung und Demonstranten kam. Um die beiden Gruppen auseinanderzuhalten, setzte die Polizei unter anderem Diensthunde ein, die jeweils angeleint und mit einem Maulkorb versehen waren. Die Hunde waren so trainiert, dass sie auf Kommando gezielt die Oberkörper einzelner Störer ansprangen und diese anbellten. Auch der Kläger wurde in dieser Weise von einem Hund mit der Schnauze angestoßen. Daraufhin zog er sich zurück und bemühte sich, andere, aufgebrachte Demonstrationsteilnehmer von einem erneuten Vordringen abzuhalten. Er stellte sich mit erhobenen Armen vor sie und forderte sie auf, den Anordnungen der – hinter ihm stehenden – Polizisten zu folgen. In diesem Moment biss ihn einer der Polizeihunde von hinten in den Arm. Dieser Hund war zuvor von einem Demonstrationsteilnehmer derart getreten worden, dass sein Maulkorb verrutschte. Durch den Biss erlitt der Kläger eine sechs Zentimeter lange Fleischwunde, die ärztlich behandelt werden musste.

Zunächst ist, so das Oberlandesgericht Frankfurt, ein Amtshaftungsanspruch des Klägers gegen das beklagte Land zu verneinen, da eine Sorgfaltspflichtverletzung des Polizeibeamten, der bei der Demonstration den Hund geführt hatte, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht erwiesen war:

Das Landgericht Giessen ist auf der Grundlage von Zeugenaussagen zu der Überzeugung gelangt, dass der Zeuge A den von ihm bei dem streitgegenständlichen Einsatz geführten Polizeihund ordnungsgemäß mit einem Maulkorb ausgestattet und den Sitz dieses Maulkorbs vor dem Einsatz nochmals überprüft hatte, der Maulkorb nur deswegen seitlich verrutschte, weil ein Demonstrationsteilnehmer den Hund trat, und der Zeuge A den Maulkorb baldmöglichst wieder richtig anbrachte. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Beweiswürdigung begründen und eine andere Wertung als richtiger erscheinen lassen könnten, sind weder dem Berufungsvorbringen des Klägers zu entnehmen noch sonst ersichtlich. Hiernach hat das Landgericht eine Amtspflichtverletzung des Zeugen A im Sinne der §§ 839 Abs. 1 Satz 2, § 833 BGB zu Recht verneint.

Insoweit war es auch nicht geboten, ein Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob ein ordnungsgemäß angebrachter Maulkorb überhaupt verrutschen kann. Zum einen hatte der Kläger eine solche Behauptung in seiner Klageschrift nicht auf- und unter Beweis gestellt. Zum anderen hat der Zeuge A im Einzelnen erläutert, dass dem von ihm geführten Hund bei der streitgegenständlichen Demonstration derart gegen den Kopf getreten worden war, dass bei ihm noch mehrere Tage nach dem Vorfall eine Schiefstellung von Ohr und Kopf vorlag. Hiernach war eine massive Einwirkung auf den Maulkorb erfolgt, die dessen Verrutschen – auch bei ordnungsgemäßer Anbringung – ohne weiteres erklärt. Dafür, dass es sich bei den Bekundungen des Zeugen A um reine Schutzbehauptungen gehandelt haben könnte, wie der Kläger meint, fehlt es an jeglichen konkreten Anhaltspunkten.

Jedoch kann der Kläger wegen der erlittenen Bissverletzung vom beklagten Land nach aufopferungsrechtlichen Grundätzen eine Entschädigung in Höhe von 300 Euro verlangen.

Nach dem von der Rechtsprechung aus §§ 74, 75 der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts (Einl. ALR) abgeleiteten, inzwischen gewohnheitsrechtlich verfestigten Aufopferungsgedanken kann derjenige, dem durch einen Eingriff der Staatsgewalt in eines seiner nach Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Lebensgüter ein Sonderopfer auferlegt wurde, eine Entschädigung verlangen. Eine gesetzliche Regelung hat der Aufopferungsgedanke in den Polizeigesetzen der Länder erfahren, unter anderem in § 64 Abs. 1 Satz 2 HSOG. Nach dieser Vorschrift ist demjenigen, der durch eine rechtswidrige Polizeimaßnahme einen Schaden erleidet, ein angemessener Ausgleich zu gewähren. Für Polizeimaßnahmen, die – wie der streitgegenständliche Polizeihundeeinsatz – rechtmäßig erfolgten, kommt nur ein allgemeiner Aufopferungsanspruch in Betracht.

Der Kläger wurde als Teilnehmer einer Demonstration von einem von dem Zeugen A geführten Polizeihund gebissen. Die Bissverletzung stellte einen Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte körperliche Unversehrtheit des Klägers dar. Dieser Eingriff war zwar nicht Ziel des Polizeieinsatzes: Der Polizeihund war nicht etwa zu dem Zweck eingesetzt, störende Demonstrationsteilnehmer zu verletzen, sondern so trainiert, dass er Personen durch Anspringen zurückhalten und dadurch tätliche Auseinandersetzungen und Verletzungen von Personen gerade vermeiden helfen sollte; der Hund handelte in dem Moment, als er den Kläger biss, auch nicht auf Befehl des Zeugen A. Zwar hatte der Zeuge dem Hund zuvor befohlen, den Kläger anzuspringen, weil dieser – in einer Situation, in der Tätlichkeiten zwischen Demonstrations- und Veranstaltungsteilnehmern drohten – entgegen der polizeilichen Anweisung nicht weitergegangen war. Nach diesem Anspringen war der Kläger aber zurückgewichen und hatte sogar versucht, andere, aggressive, Demonstrationsteilnehmer zur Einhaltung der polizeilichen Anordnungen zu bewegen, indem er sich zwischen diese und den Polizeihund stellte und mit ausgebreiteten Armen zu ihnen sprach; erst in dieser Situation wurde er von hinten in den Arm gebissen, nachdem ein anderer Demonstrationsteilnehmer den Maulkorb des Hundes zur Seite getreten hatte. Der Hundebiss war also kein von dem Polizeibeamten beabsichtigter Eingriff, sondern eine ungewollte Nebenfolge des Polizeihundeeinsatzes; die Verletzung des Klägers beruhte auf einer unglücklichen Verkettung von Umständen nach dem Fehlverhalten eines unbesonnenen Demonstrationsteilnehmers. Gleichwohl ist der Eingriff dem beklagten Land zuzurechnen, weil sich durch die Bissverletzung eine mit dem Einsatz des Polizeihundes verbundene besondere Gefahr verwirklicht hat, weshalb der Eingriff als unmittelbare Folge des Polizeihandelns zu werten ist.

Die vom Kläger erlittene Bissverletzung stellt ein Sonderopfer dar.

Die Verletzung war erheblich und musste ärztlich behandelt werden. Sie überschritt auch die allgemeine Opfergrenze, weil sie über das hinausging, was der einzelne nach dem Willen des Gesetzgebers hinzunehmen hat:

Die dem streitgegenständlichen Polizeieinsatz zugrundeliegenden polizeirechtlichen Vorschriften sehen Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit eines Demonstrationsteilnehmers grundsätzlich nicht vor. Dementsprechend hat auch der Zeuge A bekundet, eine Anweisung zum Einsatz eines Polizeihunds ohne Maulkorb sei allenfalls dann möglich, wenn auch Schusswaffen eingesetzt würden. Der Zeuge A hat eingehend geschildert, welch großer Wert bei der Arbeit mit Polizeihunden sowohl in der Ausbildung als auch in der täglichen Praxis darauf gelegt werde, dass der schützende Maulkorb dem einzelnen Tier gut angepasst werde und jeweils fest sitze; der Zeuge hat ferner erläutert, dass ein „Abtreten“ des Maulkorbs bislang noch nicht vorgekommen und auch bei späteren Versuchen im Training nicht gelungen sei;  auch der von dem Zeugen berichtete Umstand, dass der betroffene Hund noch mehrere Tage nach dem Tritt eine Schiefstellung von Ohr und Kopf hatte, deutet auf eine massive Einwirkung und einen außergewöhnlichen Ablauf. Schließlich hat der Zeuge D, der an der Demonstration teilgenommenen hat, bestätigt, sie – die Demonstrationsteilnehmer – hätten keine Angst gehabt, dass der Hund sie beißen würde, da er ja durch einen Maulkorb gesichert gewesen sei, sondern nur, dass er sie beim Anspringen kratzen könnte. Nach allem hatte ein Teilnehmer der streitgegenständlichen Demonstration zwar u. U. leichtere Blessuren durch ein von dem Polizeihundeführer rechtmäßig befohlenes Anspringen hinzunehmen, nicht aber schwerer wiegende Verletzungen durch einen Hundebiss.

Ein Sonderopfer des Klägers ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil er die Situation, in der es zu dem Hundebiss gekommen ist, selbst verursacht hat. Zwar hat sich der Kläger insoweit selbst in Gefahr gebracht, als er sich – ohne ausreichenden Sicherheitsabstand, zudem abgewandt und mit ausgebreiteten Armen – vor den Hund stellte, um andere Demonstrationsteilnehmer zu beschwichtigen. Dabei musste er aber nicht damit rechnen, dass einer der Demonstrationsteilnehmer den Maulkorb des Hundes zur Seite treten und der Hund ihn daraufhin beißen würde; das Fehlverhalten dieses anderen Demonstrationsteilnehmers hat der Kläger auch nicht zu verantworten.

Das vom Kläger erbrachte Sonderopfer wird nicht bereits durch anderweitige Regelungen bestimmungsgemäß aufgefangen und ausgeglichen. Insbesondere findet das Opferentschädigungsgesetzt (OEG) im vorliegenden Fall keine Anwendung, weil die Verletzung des Klägers nicht auf einem rechtswidrigen Angriff beruht, sondern als ungewollte Nebenfolge eines rechtmäßigen Polizeieinsatzes entstanden ist.

Nach bisheriger Rechtsprechung sehen die allgemeinen Aufopferungsgrundsätze nur einen Ausgleich materieller Schäden vor. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 13.02.1956 hat der Bundesgerichtshof diese – seines Erachtens wegen der Wertung des Art. 2 Abs. 2 GG unbefriedigende – Beschränkung mit der damals entgegenstehenden Gesetzeslage erklärt: Das Schadensersatz- und Entschädigungsrecht sei beherrscht von dem in § 253 BGB festgelegten Grundsatz, dass ein Ausgleich in Geld nur für vermögensrechtliche (materielle) Einbußen verlangt werden könne.

Nur ganz ausnahmsweise gewähre das Gesetz in den Fällen der §§ 847, 1300 BGB eine billige Entschädigung auch wegen eines Nichtvermögensschadens. Der Grundsatz, dass nur für vermögensrechtliche Nachteile Entschädigung zu gewähren sei, präge auch die Bestimmungen der §§ 74, 75 Einl. ALR sowie die speziellen aufopferungsrechtlichen Regelungen. Die Gesamtheit dieser Regelungen lasse auf den Willen des Gesetzgebers schließen, dass eine Entschädigung für immaterielle Schäden ausschließlich in den Fällen der §§ 847, 1300 BGB gewährt werden solle. Obwohl Art. 2 Abs. 2 GG heute die Schutzwürdigkeit von Leben, Gesundheit und Freiheit besonders betone, müsse es dem Gesetzgeber überlassen bleiben, aus der in der Verfassung zum Ausdruck gekommenen Ordnung der Werte der einzelnen Lebensgüter gegebenenfalls Folgerungen für eine andersartige Regelung des Entschädigungsrechts zu ziehen und den in § 253 BGB normierten Grundsatz, der heute nicht mehr allseits befriedigen könne, zu verlassen (ebenda).

Inzwischen hat der Gesetzgeber der wertsetzenden Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 GG Rechnung getragen und den in der früheren Fassung des § 253 BGB normierten Grundsatz aufgehoben. Nach der am 1. August 2002 in Kraft getretenen Neuregelung in § 253 Abs. 2 BGB kann wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, ein billige Entschädigung in Geld verlangt werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung hat die Neuregelung für die darin genannten Verletzungen einen einheitlichen und übergreifenden Anspruch auf Schmerzensgeld geschaffen, der nicht mehr danach unterscheidet, auf welchem Rechtsgrund die Haftung beruht.

Der Anspruch auf Schmerzensgeld werde auf den Bereich der Gefährdungshaftung und der vertraglichen Haftung erweitert. Aus diesem umfassenden Charakter der Regelung erkläre sich ihr neuer Standort im Allgemeinen Teil des Schuldrechts.

Dementsprechend sehen auch die spezialgesetzlichen Aufopferungsansprüche nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz (StrEG) und dem HSOG sehen eine Entschädigung für immaterielle Nachteile vor.

Die Gesamtheit dieser Regelungen lässt nunmehr auf den Willen des Gesetzgebers schließen, dass vor allem bei Körperverletzungen grundsätzlich eine Entschädigung für immaterielle Schäden gewährt werden soll. Die Gesetzeslage steht der Gewährung eines Ausgleichs für immaterielle Nachteile im Rahmen des allgemeinen Aufopferungsanspruchs daher nicht mehr entgegen, sondern fordert sie in den Fällen des § 253 Abs. 2 BGB sogar. Deshalb gebietet die Wertung des Art. 2 Abs. 2 GG nunmehr eine entsprechende Anpassung der allgemeinen Aufopferungsgrundsätze.

Nach allem ist dem Kläger wegen der von ihm erlittenen Bissverletzung eine Entschädigung zu gewähren.

§ 308 Abs. 1 ZPO steht der Zubilligung einer Entschädigung nach Aufopferungsgrundsätzen nicht entgegen, weil auch eine solche Entschädigung in Form einer Geldzahlung erfolgt und der Kläger eine Geldzahlung begehrt; sie ist Gegenstand der Klage, da ein Amtshaftungsanspruch und ein aus demselben Sachverhalt hergeleiteter Entschädigungsanspruch prozessual einen einheitlichen Streit- und Entscheidungsgegenstand bilden.

Ausweislich des von ihm vorgelegten Arztbriefs hat der Kläger unter anderem eine sechs Zentimeter lange Fleischwunde davongetragen, bei der neben einer sorgfältigen Wundreinigung eine „Adaption der Wundränder mit Steristrips“ durchgeführt wurde. Wegen der mit der Bissverletzung verbundenen Schmerzen und Beeinträchtigungen erscheint die Zubilligung einer Entschädigung von 300 Euro angemessen; dabei ist mit zu berücksichtigen, dass der Kläger bei seinem geschilderten Verhalten – wenn auch aus achtenswerten Gründen – das Gebot der Eigensicherung unzureichend beachtet hat. Die Entschädigung bringt zum Ausdruck, dass die vom Kläger infolge eines Polizeieinsatzes bei einer Demonstration erlittene Verletzung von der Rechtsordnung nicht gewollt ist, auch wenn ihm insoweit kein staatliches Unrecht, sondern ein Unglück widerfahren ist.

OLG Frankfurt a. Main, Urteil vom 20.08.2013 – 1 U 69/13