Anläßlich einer finanzgerichtlichen Auseinandersetzung über die Kernfrage, ob der Ort von Lieferungen aus der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Schweiz) gemäß § 3 Abs. 8 UStG im Inland liegt, hat der Bundesfinanzhof zum Thema Einfuhrumsatzsteuer mehrere Grundsätze aufgestellt:
- Die Ortsregelung des § 3 Abs. 8 UStG ist auch dann anwendbar, wenn keine Einfuhrumsatzsteuer anfällt, weil die Einfuhr umsatzsteuerfrei ist.
- Eine wirksame direkte Vertretung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 1. Spiegelstrich ZK setzt voraus, dass der Vertreter für fremde Rechnung handelt. Hieran fehlt es, wenn der Vertreter im Innenverhältnis für alle im Zusammenhang mit der Einfuhr stehenden Zölle, Steuern und Gebühren aufkommt und den Vertretenen insoweit von allen Verpflichtungen befreit.
- Mit der Annahme einer Zollanmeldung für die Überführung der Ware in den freien Verkehr entsteht die Einfuhrumsatzsteuer.
- Ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts im Sinne des § 42 AO kommt auf dem Gebiet der Umsatzsteuer in Betracht, wenn zum einen die in Rede stehenden Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
Anlaß für diese Feststellungen war folgender Sachverhalt:
Die Klägerin, eine GmbH, ist Organträgerin der Z-GmbH, die im Jahr 2007 u.a. Bücher, DVDs und CDs an Kunden im Inland vertrieb. Der Versand der Waren an die Kunden erfolgte hierbei durch die A-AG mit Sitz in Y, Schweiz.
Bei Bestellung über das Internet wurde der Kunde auf die Geltung der im Streitjahr verwendeten Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Online) hingewiesen. Ziffer 5.3 der AGB-Online lautete wie folgt:
„… Die Auslieferung der Waren erfolgt aus logistischen Gründen direkt von einem Auslieferungslager in der Schweiz. Hierfür bevollmächtigt der Besteller die Z-GmbH (und deren Unterbevollmächtigte), die Zollanmeldung zur Einfuhr in Deutschland abzugeben und alle in diesem Zusammenhang erforderlichen Urkunden und Papiere vorzulegen. Die Z-GmbH kommt für alle im Zusammenhang mit der Einfuhr stehenden Zölle, Steuern und Gebühren auf und befreit den Besteller insoweit von allen Verpflichtungen. Dieser Service ist für den Besteller kostenfrei. …„
In Bestellformularen, die der Z Zeitung (Z) beigelegt waren, wurde der Kunde auf die Geltung der im Streitjahr verwendeten AGB (AGB-Print) hingewiesen. Hierin fand sich die folgende Klausel:
„Die Auslieferung erfolgt aus logistischen Gründen direkt vom Auslieferungslager in der Schweiz an mich. Hiermit bevollmächtige ich die Z-GmbH und ihre Dienstleister, die dazu erforderlichen Erklärungen in meinem Namen und Auftrag abzugeben. Dieser Service ist für mich kostenfrei, da die Z-GmbH für mich alle im Zusammenhang mit der Einfuhr stehenden Abgaben und Kosten übernimmt. …„
Für postalisch zugesandte Bestellscheine wurde eine Klausel verwendet, in der lediglich das Wort „Waren“ durch das Wort „Bücher“ ersetzt wurde.
Die Waren wurden an das Lager der A-AG geliefert, dort für die Z-GmbH gelagert und nach Eingang einer Kundenbestellung auf Weisung der Z-GmbH kommissioniert, verpackt und für den Versand ins Inland an ein Transportunternehmen übergeben.
Die Einfuhr der Waren in das Inland erfolgte auf zwei verschiedenen Wegen: Bei Lieferungen an einen Privatkunden mit einem Warenwert von über 22 EUR erfolgte die Zollabfertigung beim deutschen Zollamt R (ZA) im Wege einer Sammelzollanmeldung im Namen und auf Rechnung der Z-GmbH. Betrug der Warenwert der jeweiligen Lieferung hingegen bis zu 22 EUR (Kleinsendungen), wurde im Namen und im Auftrag der Empfänger die „Freischreibung“ (Steuerbefreiung) der Warensendung gemäß Art. 27 der Verordnung 918/83/EWG des Rates vom 28.03.1983 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen beantragt. Die Einfuhr erfolge im Namen der Empfänger und der Wert pro Sendung liege „unter 22 EUR“. Zusätzlich war jeder Anmeldung eine Liste der Empfänger mit Name, Ort und Rechnungsbetrag beigefügt.
In ihrer Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2007 behandelte die Klägerin die Lieferungen von Kleinsendungen durch die Z-GmbH an inländische Kunden als im Inland nicht steuerbar, da der Ort der Lieferung gemäß § 3 Abs. 6 UStG in der Schweiz liege.
Das beklagte Finanzamt sah nach Durchführung einer Außenprüfung auch die Lieferungen von Kleinsendungen im Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für das Streitjahr, zuletzt vom 23. März 2010, als im Inland steuerbar und steuerpflichtig an, da der Ort der Lieferungen der Z-GmbH an die Kunden gemäß § 3 Abs. 8 UStG im Inland liege. Die Bevollmächtigungsklausel in den AGB der Z-GmbH stelle einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts im Sinne des § 42 AO dar.
Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom 28.09.2010 vertrat das Finanzamt ergänzend die Auffassung, die AGB seien nach § 305 Abs. 2, § 305c Abs. 1 und § 307 BGB unwirksam.
Im Laufe des Klageverfahrens reichte die Klägerin aus hier nicht streitigen Gründen eine berichtigte Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2007 ein, der das Finanzam am 21.06.2011 zustimmte. Der Änderungsbescheid wurde zum Gegenstand des Klageverfahrens.
Das Finanzgericht München wies die Klage ab.
Die Revision hatte nun keinen Erfolg.
Der Ort der Lieferung der Kleinsendungen liegt bereits deshalb gemäß § 3 Abs. 8 UStG im Inland, weil die Z-GmbH bzw. die A-AG die Kunden zollrechtlich nicht wirksam vertreten haben; denn sie sind dabei nicht für Rechnung der Kunden tätig geworden.
Zutreffend ist das Finanzgericht mit den Beteiligten davon ausgegangen, dass die Z-GmbH Lieferungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 S. 1, § 3 Abs. 1 UStG ausgeführt hat, die gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG der Klägerin zuzurechnen sind.
Das Finanzgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Ort der Lieferungen gemäß § 3 Abs. 8 UStG im Inland liegt.
Wird der Gegenstand der Lieferung durch den Lieferer, den Abnehmer oder einen vom Lieferer oder vom Abnehmer beauftragten Dritten befördert oder versendet, gilt die Lieferung gemäß § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG dort als ausgeführt, wo die Beförderung oder Versendung an den Abnehmer oder in dessen Auftrag an einen Dritten beginnt. Versenden liegt vor, wenn jemand die Beförderung durch einen selbständigen Beauftragten ausführen oder besorgen lässt (§ 3 Abs. 6 S. 3 UStG). Die Versendung beginnt mit der Übergabe des Gegenstandes an den Beauftragten (§ 3 Abs. 6 S. 4 UStG).
Abweichend von § 3 Abs. 6 UStG bestimmt sich der Ort der Lieferung nach § 3 Abs. 8 UStG, wenn der Gegenstand bei der Beförderung oder Versendung aus einem Drittlandsgebiet in das Inland gelangt und der Lieferer oder sein Beauftragter Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer ist.
Für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift ist nicht entscheidend, dass Einfuhrumsatzsteuer tatsächlich anfällt; Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer im Sinne des § 3 Abs. 8 UStG ist auch derjenige, dessen Umsätze zwar gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG steuerbar, aber nach § 5 UStG steuerfrei sind.
§ 3 Abs. 8 UStG setzte im Streitjahr Art. 32 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) um; danach gilt der Ort der Lieferung, die durch den Importeur bewirkt wird, der gemäß Art. 201 MwStSystRL als Steuerschuldner bestimmt oder anerkannt wurde, als in dem Mitgliedstaat gelegen, in den die Gegenstände eingeführt werden, wenn der Ort, von dem aus die Gegenstände versandt oder befördert werden, in einem Drittgebiet oder in einem Drittland liegen.
Wer Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer ist, bestimmt sich gemäß § 13a Abs. 2 i.V.m. § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß nach den Vorschriften für Zölle. Mit diesem Verweis auf das Zollrecht hat der deutsche Gesetzgeber von der Befugnis des Art. 201 MwStSystRL Gebrauch gemacht, der bestimmt, dass Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer die Person ist, die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt.
Zollrechtlich ist gemäß Art. 201 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften der Anmelder der Waren Zollschuldner.
Anmelder ist nach Art. 4 Nr. 18 ZK die Person, die in eigenem Namen eine Zollanmeldung abgibt, oder die Person, in deren Namen eine Zollanmeldung abgeben wird.
Eine Vertretung gegenüber den Zollbehörden ist unter den Voraussetzungen des Art. 5 ZK zulässig, der bestimmt:
„(1) Unter den Voraussetzungen des Artikels 64 Absatz 2 und vorbehaltlich der im Rahmen des Artikels 243 Absatz 2 Buchstabe b) erlassenen Vorschriften kann sich jedermann gegenüber den Zollbehörden bei der Vornahme der das Zollrecht betreffenden Verfahrenshandlungen vertreten lassen.
(2) Die Vertretung kann sein
– direkt, wenn der Vertreter in Namen und für Rechnung eines anderen handelt;
– indirekt, wenn der Vertreter in eigenem Namen, aber für Rechnung eines anderen handelt. …
(3) Abgesehen von den Fällen nach Artikel 64 Absatz 2 Buchstabe b) und Absatz 3 muss der Vertreter in der Gemeinschaft ansässig sein.
(4) Der Vertreter muss erklären, für die vertretene Person zu handeln; er muss ferner angeben, ob es sich um eine direkte oder indirekte Vertretung handelt, und Vertretungsmacht besitzen. Personen, die nicht erklären, im Namen oder für Rechnung eines anderen zu handeln, oder die erklären, im Namen oder für Rechnung eines anderen zu handeln, aber keine Vertretungsmacht besitzen, gelten als in eigenem Namen und für eigene Rechnung handelnd. …“
Ausgehend davon ist das Finanzgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass nicht die Kunden Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer geworden sind. Dies folgt allerdings bereits daraus, dass nach dem Inhalt der vom FG festgestellten AGB weder die A-AG noch die Z-GmbH für Rechnung der Kunden aufgetreten ist.
Nach den AGB, deren Inhalt das Finanzegricht festgestellt hat, war die Zollabfertigung der Waren durch die Z-GmbH und die A-AG für den Kunden kostenfrei, da die Z-GmbH für den Kunden alle im Zusammenhang mit der Einfuhr stehenden Abgaben und Kosten übernahm. Zwar wurde von der Z-GmbH bzw. der A-AG formal die „Freischreibung“ der Waren in fremdem Namen beantragt; sie handelten dabei aber nicht, was für eine wirksame direkte Vertretung der Kunden gemäß Art. 5 Abs. 2 1. Spiegelstrich ZK erforderlich gewesen wäre, auf fremde Rechnung, sondern auf eigene Rechnung. Der Bundesfinanzhof verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im BFH-Urteil in BFHE 249, 283, BStBl. II 2015, 567, denen er sich anschließt. Deshalb ist die Z-GmbH Zollschuldnerin.
Die Zollanmeldungen sind auch schriftlich im Sinne des Art. 61 Buchst. a ZK erfolgt; denn es wurden schriftliche Anträge auf „Freischreibung“ beim Zollamt eingereicht. Soweit Art. 62 Abs. 1 ZK die Abgabe auf einem Vordruck verlangt, der dem amtlichen Muster entspricht, besteht nach Art. 205 Abs. 3 3. Spiegelstrich der Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften die Möglichkeit, besondere Vordrucke zu verwenden, um die Zollanmeldung in bestimmten Fällen zu vereinfachen. Davon ist bei dem „Antrag auf Freischreibung“ auszugehen; denn das ZA hat die Anmeldungen auf diesem Formular i.S. des Art. 201 Abs. 2 ZK angenommen. Die Annahme der Zollanmeldung i.S. des Art. 63 ZK stellt eine für den Anmelder günstige Entscheidung i.S. des Art. 4 Nr. 5 ZK dar. Mit der Annahme der Zollanmeldung für die Überführung der Ware in den freien Verkehr entsteht die Einfuhrumsatzsteuer; dies gilt auch bei einer vereinfachten Zollanmeldung.
Liegt danach schon aus zollrechtlichen Gründen keine wirksame Vertretung der Kunden durch die Z-GmbH bzw. die A-AG vor, kommt es auf die Frage, ob die Bevollmächtigung durch die Kunden zivilrechtlich unwirksam war, insoweit nicht mehr an.
Wäre entsprechend der gegenteiligen Auffassung der Klägerin im Streitfall § 3 Abs. 8 UStG mit der Verlegung des Leistungsortes ins Inland nicht anwendbar, läge die Annahme einer missbräuchlichen Gestaltung i.S. von § 42 AO nahe.
§ 42 AO ist im Umsatzsteuerrecht anwendbar.
Unionsrechtlich sind nach dem Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, verboten. Davon kann ausgegangen werden, wenn zum einen die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Voraussetzungen der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des zu ihrer Umsetzung ergangenen nationalen Rechts zur Erlangung eines Steuervorteils führen, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen aufgrund einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.06.2015 – XI R 17/13