martina heck

26.11.2013

Der ärztliche Notfalldienst im Umsatzsteuerrecht

Der Bundesfinanzhof hatte darüber zu entscheiden, ob die Leistungen eines ärztlichen Notfalldienstes als Einheit behandelt werden und unter Umständen umsatzsteuerfrei sind.

Der Kläger, ein eingetragener Verein und Mitglied eines amtlich anerkannten Verbands der freien Wohlfahrtspflege, betrieb für eine kassenärztliche Vereinigung nachts sowie an den Wochenenden und Feiertagen einen ärztlichen Notfalldienst. Dazu unterhielt er mit Funk ausgerüstete Kraftwagen mit je einem ausgebildeten Rettungshelfer als Fahrer zur Beförderung von Notfallärzten zu Notfallpatienten sowie eine Leitzentrale, die Notfallanrufe entgegennahm, an die diensthabenden Ärzte weiterleitete und ggf. Rettungs- oder Krankenfahrzeuge anforderte. Im Falle eines Einsatzes wurde der diensthabende Arzt in seiner Wohnung oder Praxis abgeholt und zu den Notfallpatienten gebracht. Auf Wunsch des Arztes begleiteten die Fahrer ihn in die Wohnung des Patienten und assistierten dem Arzt. Das Finanzamt unterwarf die Umsätze des Klägers aus dem ärztlichen Notfalldienst der Umsatzsteuer.

Das Finanzgericht gab der hiergegen gerichteten Klage statt; der Bundesfinanzhof hat diese Entscheidung nun bestätigt und festgestellt, dass

  • die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 UStG der Steuerbefreiung für Leistungen von Wohlfahrtsverbänden und deren Mitgliedern in § 4 Nr. 18 UStG als lex specialis vorgeht,
  • zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das Neutralitätsgebot § 4 Nr. 18 UStG nur eine durch den Anwendungsbereich des § 4 Nr. 16 UStG begrenzte Wirkung zukommt und
  • eine derartige durch den Anwendungsbereich des § 4 Nr. 16 UStG begrenzte Wirkung des § 4 Nr. 18 UStG aber nur in Betracht kommt, wenn die betreffenden Leistungen im Falle ihrer Ausführung durch privatrechtliche Einrichtungen mit Gewinnstreben ihrer Art nach von § 4 Nr. 16 UStG umfasst werden könnten.

Steuerfrei sind nach § 4 Nr. 18 Satz 1 UStG

“die Leistungen der amtlich anerkannten Verbände der freien Wohlfahrtspflege und der der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, wenn

a) diese Unternehmer ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienen,

b) die Leistungen unmittelbar dem nach der Satzung, Stiftung oder sonstigen Verfassung begünstigten Personenkreis zugutekommen und

c) die Entgelte für die in Betracht kommenden Leistungen hinter den durchschnittlich für gleichartige Leistungen von Erwerbsunternehmen verlangten Entgelten zurückbleiben”.

Die Vorschrift beruht unionsrechtlich auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG. Steuerfrei sind danach

“die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen”.

Das vom Kläger ausgeführte Bündel von Leistungen in Gestalt des Bereitstellens der Notfallfahrzeuge einschließlich Fahrern, des Bereitstellens und des Betriebes einer Leitzentrale, der Annahme und Vermittlung eingehender Notfallrufe, des Führens schriftlicher Aufzeichnungen über die Tätigkeiten sowie der fernmündlichen Vermittlung von Konsiliarwünschen des Notfallarztes an Fachärzte, stellt einen einheitlichen, von § 4 Nr. 18 UStG umfassten Umsatz dar.

Zur Beantwortung der Frage, ob mehrere Leistungen steuerrechtlich zu nur einem Umsatz oder zu mehreren eigenständigen Umsätzen führen, gelten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der sich der Bundesfinanzhof angeschlossen hat, folgende Grundsätze:

In der Regel ist jede Lieferung oder Dienstleistung als eigene, selbständige Leistung zu betrachten. Bei einem Umsatz, der ein Bündel von Einzelleistungen und Handlungen umfasst, ist aber im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu bestimmen, ob zwei oder mehr getrennte Umsätze vorliegen oder ein einheitlicher Umsatz. Dabei sind unter Berücksichtigung eines Durchschnittsverbrauchers die charakteristischen Merkmale des Umsatzes zu ermitteln. Insoweit darf einerseits eine wirtschaftlich einheitliche Leistung nicht künstlich aufgespaltet werden. Andererseits sind mehrere formal getrennt erbrachte Einzelumsätze als einheitlicher Umsatz anzusehen, wenn sie nicht selbständig sind.

Einen einheitlichen Umsatz hat der EuGH für zwei Fallgruppen bejaht.

  • Zum einen liegt eine einheitliche Leistung vor, wenn eine oder mehrere Einzelleistungen eine Hauptleistung bilden und die andere Einzelleistung oder die anderen Einzelleistungen eine oder mehrere Nebenleistungen bilden, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Eine Leistung ist insbesondere dann Neben- und nicht Hauptleistung, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen.
  • Zum anderen kann sich eine einheitliche Leistung daraus ergeben, dass zwei oder mehrere Handlungen oder Einzelleistungen des Steuerpflichtigen für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv einen einzigen untrennbaren wirtschaftlichen Vorgang bilden, dessen Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre.

Die hiernach erforderliche Gesamtbetrachtung aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers ist im Wesentlichen das Ergebnis einer tatsächlichen Würdigung durch das Finanzgericht, die den Bundesfinanzhof grundsätzlich gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindet. Das Finanzgericht hat den Sachverhalt nicht im Hinblick auf diese Frage gewürdigt. Da das Finanzgericht aber die hierfür erforderlichen Feststellungen getroffen hat, kann der Bundesfinanzhof diese Würdigung selbst vornehmen. Diese führt zur Annahme einer einheitlichen Leistung, weil die einzelnen Handlungen so eng mit dem Betrieb eines Notfalldienstes verbunden sind, dass sie objektiv einen einzigen untrennbaren wirtschaftlichen Vorgang bilden, dessen Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre.

Die nur subsidiär eingreifende Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 18 UStG ist vorliegend anwendbar, weil andere, speziellere Steuerbefreiungen nach der Art der im Streitfall erbrachten Leistungen nicht einschlägig sind.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat im Urteil vom 15.11.2012 entschieden, dass das nationale Recht im Rahmen der Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG keine sachlich unterschiedlichen Bedingungen für Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht einerseits und für die unter § 4 Nr. 18 UStG fallenden juristischen Personen ohne Gewinnerzielungsabsicht andererseits vorsehen darf. Zur Vermeidung eines Verstoßes gegen den durch das EuGH-Urteil Zimmermann in UR 2013, 35 präzisierten unionsrechtlichen Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer ist § 4 Nr. 18 UStG daher teleologisch dahingehend einzuschränken, dass eine andere nationale Regelung des § 4 UStG, die eine steuerbefreite Leistung genau bezeichnet (wie z.B. § 4 Nr. 14 und § 4 Nr. 16 UStG), der Steuerbefreiung in § 4 Nr. 18 UStG als lex specialis vorgeht. Eine derartige durch den Anwendungsbereich des § 4 Nr. 16 UStG begrenzte Wirkung des § 4 Nr. 18 UStG kommt aber nur in Betracht, wenn die betreffenden Leistungen –hier die des Klägers– im Falle ihrer Ausführung durch privatrechtliche Einrichtungen mit Gewinnstreben ihrer Art nach von § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG umfasst werden könnten. Das ist vorliegend nicht der Fall, weil der Betrieb eines ärztlichen Notfalldienstes unter keinem Gesichtspunkt von § 4 Nr. 16 UStG umfasst werden kann.

Liegen nach nationalem Recht die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung vor und ist deren Versagung durch eine noch mit dem Wortlaut zu vereinbarende richtlinienkonforme enge Auslegung nicht möglich, kann sich der Steuerpflichtige auf die ihm günstigere nationale Regelung berufen.

Das ist vorliegend der Fall, denn die Tatbestandsmerkmale des § 4 Nr. 18 UStG sind erfüllt.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger, der Mitglied in einem “amtlich anerkannten Verband der freien Wohlfahrtspflege” i.S. des § 4 Nr. 18 UStG i.V.m. § 23 UStDV ist, nach seiner Satzung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige und mildtätige Zwecke verfolgt.

Im Ergebnis zutreffend hat das Finanzgericht entschieden, dass die gemäß § 4 Nr. 18 Buchst. b UStG erforderliche Unmittelbarkeit vorliegt.

Das Merkmal der Unmittelbarkeit i.S. von § 4 Nr. 18 Buchst. b UStG ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs leistungsbezogen auszulegen. Daher muss die Leistung dem nach der Satzung begünstigten Personenkreis selbst unmittelbar und nicht nur mittelbar zugutekommen.

Entscheidend ist dabei, dass es sich um personenbezogene Leistungen handelt, die unmittelbar den begünstigten Personen zugutekommen. Für das unmittelbare Zugutekommen kommt es nicht darauf an, wer Vertragspartner ist. Entscheidend ist, dass die Leistungen ohne Zwischenschaltung Dritter – tatsächlich – an die nach der Satzung begünstigten Personen selbst erbracht werden.

Das ist vorliegend ungeachtet der schuldrechtlichen Vertragsbeziehungen der Fall. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts nahm die vom Kläger eingerichtete Leitzentrale Anrufe von Notfallpatienten entgegen und leitete diese an die jeweils diensthabenden Ärzte weiter. Für die Notfallpatienten waren die Mitarbeiter des Klägers durch Entgegennahme der Notfallanrufe damit die erste Ansprechstation. Mit vom Kläger eingesetzten Fahrern, bei denen es sich um ausgebildete Rettungshelfer unter Einsatz von Zivildienstleistenden handelte, und mit den hierfür vom Kläger bereitgestellten Fahrzeugen wurde der jeweils diensthabende Arzt in seiner Wohnung oder Praxis abgeholt und zu den Notfallpatienten gebracht. Auf Wunsch des Arztes begleiteten die Fahrer diesen in die Patientenwohnung, um ihm zu assistieren. Waren zur Versorgung der Patienten weitere Hilfsmittel (insbesondere Kranken- oder Rettungswagen) erforderlich, so konnten diese ebenfalls über die Leitzentrale angefordert werden. Mit all diesen Handlungen, die sich nach den Feststellungen des Finanzgerichts nicht auf die bloße Organisation und Durchführung der Beförderung der diensthabenden Ärzte zu den Notfallpatienten beschränkten, wurde der Kläger bzw. das von ihm eingesetzte Personal unmittelbar gegenüber den Patienten tätig. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts trat der Kläger mit seinen Hilfspersonen in mehrfacher Hinsicht unmittelbar, im eigenen Namen und zusätzlich zu der jeweiligen Behandlungsleistung des diensthabenden Notarztes gegenüber den Patienten in Erscheinung.

Das Urteil des XI. Senats des Bundesfinanzhofs vom 01.12.2010 steht dieser Beurteilung schon deshalb nicht entgegen, weil es zur Frage der Unmittelbarkeit i.S. von § 4 Nr. 18 UStG keine Aussage getroffen hat, weil der Kläger in jenem Verfahren schon kein amtlich anerkannter Verband der freien Wohlfahrtspflege war.

Der Steuerbefreiung steht die Regelung des § 4 Nr. 18 Buchst. c UStG nicht entgegen.

Es liegt schon deshalb kein Verstoß gegen das sog. Abstandsgebot vor, weil nach den den Senat bindenden Feststellungen des Finanzgerichts (§ 118 Abs. 2 FGO) die vom Kläger an die KVNo ausgeführten Leistungen von keinem Erwerbsunternehmen, das seine Umsätze nach kaufmännischen Grundsätzen kalkuliert, angeboten wurden. Zu Recht hat das Finanzgericht entschieden, dass ein Preisvergleich i.S. von § 4 Nr. 18 Buchst. c UStG voraussetzt, dass nach Art und Umfang gleichartige Leistungen von Erwerbsunternehmen überhaupt angeboten werden.

Es kommt schließlich auch nicht darauf an, ob die Zweckbetriebsvoraussetzungen nach § 66 AO vorliegen. Wie der Bundesfinanzhof bereits ausdrücklich entschieden hat, wird das Merkmal der Unmittelbarkeit durch die jeweiligen Leistungsbeziehungen bestimmt, so dass Erwägungen des Gemeinnützigkeitsrechts der AO zur Auslegung des § 4 Nr. 18 UStG insoweit nicht heranzuziehen sind. Denn § 4 Nr. 18 UStG schließt wirtschaftliche Geschäftsbetriebe nicht von der Steuerfreiheit aus, so dass es für die Steuerfreiheit – anders als für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG – auch nicht entsprechend § 64 Abs. 1 AO auf eine Zweckbetriebseigenschaft ankommt. Soweit sich aus Abschn. 103 Abs. 12 der Umsatzsteuer-Richtlinien 1996/2000 (jetzt Abschn. 4.18.1 Abs. 12 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses) Abweichendes ergeben sollte, schließt sich der Bundesfinanzhof dem nicht an.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 08.08.2013 – V R 13/12