martina heck

03.02.2016

Artgerechtes Abwehrverhalten eines Hundes und die Beweisaufnahme

Stellt eine Behörde die Gefährlichkeit eines Hundes aufgrund eines Beissvorfalles fest, so stellt sich häufig die Frage, ob das Beissen des Hundes möglicher Weise ein artgerechtes Verhalten darstellte.

Einen solchen Fall hatte nun das Verwaltungsgericht Braunschweig zu entscheiden, wobei es hierbei zugleich um die Thematik ging, in welchem Umfang eine Beweisaufnahme erforderlich ist.

Das Verwaltungsgericht Braunschweig ist hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass in Gerichtsverfahren, die die Gefährlichkeitsfeststellung nach dem NHundG zum Gegenstand haben, die näheren Umstände eines Beißvorfalls durch eine zeugenschaftliche Vernehmung von bei dem Vorfall anwesenden Personen nur insoweit aufzuklären sind, als sie für die gerichtliche Kontrolle der getroffenen Gefährlichkeitsfeststellung erheblich sind.

Zugleich hat es festgestellt, dass ein artgerechtes Abwehrverhalten jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn der für gefährlich erklärte Hund in äußerlich erkennbar eindeutiger Weise offensiv auf den anderen Hund zugelaufen ist, ohne einem vorherigen Angriff dieses anderen Hundes ausgesetzt gewesen zu sein.

In dem konkreten Fall wandte sich die Klägerin gegen einen Bescheid der beklagten Behörde, mit dem diese ihre Hündin F. für gefährlich erklärt hat.

Der Beklagte erhielt am 21.08.2014 Kenntnis von einem Beißvorfall unter Beteiligung der Hündin der Klägerin. Zugrunde lag eine Mitteilung des Hundehalters des verletzten Hundes, Herrn G. H., bekannt. Nach Aussage des Herrn H. war sein Hund I. von F. attackiert worden. Die Nachbarin des Herrn H., Frau J. K., sei mit zwei Tibet-Terriern, darunter I., „Gassi gegangen“. Sie habe  das Grundstück der Familie L. passiert. Aus dem offenen Grundstückstor sei ohne Vorwarnung der Hund der Klägerin geschossen und habe erst Frau K. attackiert, um sich im unmittelbaren Anschluss auf I. zu stürzen. Dadurch habe I. zahlreiche Bisswunden erlitten und befinde sich in noch laufender Behandlung. Der herbeigeeilte Bruder des Herrn M. L., N. L., habe versucht, die Hunde zu trennen, aber die Attacke nicht verhindern können.

Ausweislich einer tierärztlichen Rechnung vom Tag des Vorfalls wurden bei I. zahlreiche Bisswunden diagnostiziert. Danach wies I. links vom Kehlkopf 3 Einbisse, an der linken Schulter 2 Einbisse sowie an der linken Flanke und der linken Vorderbrust jeweils einen Einbiss auf. Der Zustand von I. verschlechterte sich nach der ersten Behandlung. Bei einer Folgeuntersuchung wurde ausweislich der Tierarztrechnung im linken Halsbereich eine hühnereigroße entzündliche Schwellung festgestellt und eine Wundspülung vorgenommen. Im Anschluss an diese Behandlung musste I. eine Halskrause tragen.

Die Klägerin bestritt, dass ihre Hündin F. den Tibet-Terrier I. gebissen habe. Vielmehr habe F. nach Verlassen des Grundstücks den anderen Hund gestellt und ihn dabei im Bereich der linken Halsseite „festgesetzt“. Ein mehrfaches Zubeißen, wie es die tierärztliche Rechnung suggeriere, sei nicht beobachtet worden. Daher sei die Gefährlichkeitsfeststellung der Hündin F. rechtswidrig, da sie nicht den Anforderungen des § 7 NHundG entspreche.

Der Amtstierarzt des Beklagten kam in einem internen Vermerk zu der Einschätzung, dass keine andere Entscheidung als die Feststellung der Gefährlichkeit von F. möglich sei. Die Hündin der Klägerin sei ohne Vorwarnung direkt auf den Tibet-Terrier zugestürzt und habe diesen gebissen. Ein artgerechtes Abwehrverhalten könne dies nicht mehr darstellen.

Daraufhin stellte der Beklagte per Bescheid die Gefährlichkeit von F. fest und gab der Klägerin auf, die nunmehr erforderliche Erlaubnis zur weiteren Haltung der Hündin zu beantragen. Einen solchen Antrag stellte die Klägerin.

In dem sich anschliessenden Klageverfahren benennt die Klägerin Herrn N. L. und Frau O. als Zeugen für das Geschehen. Die Klägerin räumt ein, dass es zu einer Auseinandersetzung der Hunde gekommen sei. Das Eingreifen des Herrn L. sei jedoch geeignet gewesen, die Hundeauseinandersetzung zu beenden. Während sich der Herr L. um das Trennen der Hunde bemüht habe, habe sich Frau K. ausschließlich an der Leine gezogen, sodass der Hund I. kaum noch den Boden berührt habe. Bei der Trennung sei Herr L. von I. in die Hand gebissen worden. Diese Verletzung habe auch geblutet. Nach Trennung der Hunde habe Herr L. keine Biss- oder andere Verletzungen an I. feststellen können. In diesem Zusammenhang bestreitet die Klägerin, dass F. I. die attestierten Verletzungen zugefügt hat. Der Beklagte habe weder Herrn L. noch Frau O. nicht angehört, sodass der Beklagte infolge der unzureichenden Amtsermittlung ein falsches Ermittlungsergebnis erzielt habe.

Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat zunächst den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zurückgewiesen und sodann die Klage abgewiesen.

Ausweislich des im Rahmen des Erlaubnisverfahrens vorgelegten Gutachtens zum Wesenstest nach § 13 NHundG hat es nach Angaben der Klägerin zwischen F. und dem verletzten Hund I. bereits im Vorfeld Unverträglichkeiten gegeben. Außerdem seien die Hunde immer an der Leine aufeinandergetroffen, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich solchen Konfliktsituationen durch Flucht zu entziehen. Als F. nunmehr I. im Bereich ihres Kernterritoriums entdeckt habe, habe sie diesen speziellen Hund als massive Bedrohung eingeschätzt und sich mit einem Angriff verteidigt.

In seiner Entscheidung über die Klage hat das Verwaltungsgericht Braunschweig zunächst Bezug genommen auf seine Ausführungen im Prozesskostenhilfeprüfungsverfahren. Dort hieß es:

Rechtsgrundlage der Gefährlichkeitsfeststellung ist § 7 Abs. 1 S. 2 NHundG. Danach hat die Fachbehörde die Gefährlichkeit eines Hundes festzustellen, wenn die Prüfung nach § 7 Abs. 1 S. 1 NHundG Tatsachen ergibt, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht.

In eine Prüfung nach § 7 Abs. 1 S. 1 NHundG hat die Fachbehörde einzutreten, wenn sie einen Hinweis darauf erhält, dass ein Hund, der von einer Hundehalterin oder einem Hundehalter nach § 1 Abs. 2 NHundG gehalten wird, eine gesteigerte Aggressivität aufweist, insbesondere Menschen oder Tiere gebissen oder sonst eine über das natürliche Maß hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust oder Schärfe gezeigt hat.

Aufgrund des bekannt gewordenen Beißvorfalls hatte der Beklagte diese Hinweise zu prüfen und in eine Gefährlichkeitsfeststellung einzutreten.

Die Prüfung durch den Beklagten hat Tatsachen ergeben, die gem. § 7 Abs. 1 S. 2 NHundG nach Aktenlage den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund der Klägerin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht.

Nach ständiger Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts reicht es für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes grundsätzlich aus, dass der betroffene Hund einen anderen Hund verletzt hat. Außer Betracht bleiben nur ganz geringfügige Verletzungen wie etwa einzelne herausgerissene Haare oder sehr kleine oberflächliche Kratzer.

Zwar bestreitet die Klägerin, dass ihr Hündin F. den Tibet-Terrier I. gebissen hat, sondern behauptet, dass lediglich ein Zubeißen erfolgte, ohne dass es zu Verletzungen des I. durch mehrfaches Zubeißen gekommen ist. Dem vermag das erkennende Gericht nicht zu folgen. Vielmehr ergibt sich nach Aktenlage ein anderes Bild.

Der bei dem Vorfall anwesende Zeuge N. L. hat in seiner schriftlichen Äußerung geschildert, dass „F. den dunkleren von den beiden (Hunden) in die linke Halsseite gebissen und nicht mehr los gelassen hat“. Dem entspricht die Aussage der Zeugin Q. O.. Frau O. war bei dem Beißvorfall ebenfalls anwesend und hat in ihrer schriftlichen Äußerung mitgeteilt, dass „F. den anderen Hund I. am Hals gepackt“ habe. Die Zeugen P. L. und O. haben übereinstimmend ausgesagt, dass Herr P. L. die Hunde trennen wollte. Nach Aussage der Zeugin O. sei dies „gar nicht so einfach gewesen“.

Die Aussage der Frau K. deckt sich insoweit mit diesen Schilderungen. Danach sei ein ihr unbekannter, nicht angeleinter Hund vom Grundstück Stover Elbdeich 4 aus der offenen Gartenpforte direkt auf sie zugelaufen und habe sofort I. in den Hals gebissen und an ihm gezerrt. Weder auf ihr „Anschreien“ noch auf „Tritte“ nach dem Hund habe der Hund von I. abgelassen. Auf ihr Rufen sei Herr (N.) L. aus dem Haus gekommen. Dieser habe zunächst erfolglos versucht, den Hund von I. zu lösen. Nach längerem Zerren am Maul der Hündin der Klägerin sei es ihm schließlich doch gelungen, die Hunde zu trennen.

Soweit die Klägerin behauptet, dass die Verletzungen des I. erst später und ohne Beteiligung von F. entstanden sein müssten, ergibt sich das aus diesen Zeugenaussagen nicht.

Zwar haben die Zeugen L. und O. übereinstimmend angegeben, dass nach der Trennung der Hunde bei „I.“ keinerlei Biss- oder andere Verletzungen sichtbar gewesen seien. Auch Frau K. konnte nach eigener Aussage bei einer groben Begutachtung vor Ort zunächst keine Verletzungen feststellen, da I. relativ langes dunkles Fell habe. Allerdings hat die Zeugin K. nach der unmittelbaren Rückkehr nach Hause (200-300m entfernt) festgestellt, dass der stark zitternde I. aus einer Verletzung am Hals stark blutete, sodass es schon unablässig auf den Boden tropfte. Die tierärztliche Rechnung bescheinigt, dass Herr H. mit I. am Vorfallstag, dem 24. Juni 2014, vorstellig wurde. Damit ist von einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung zwischen I. und F. und den festgestellten Verletzungen des I. auszugehen. Dessen Wunden befanden sich im Übrigen auch im Halsbereich, also genau dort, wo F. I. „festgesetzt“ hatte.

Dass diese Verletzungen aus einem Reißen an der Leine durch die Zeugin K. resultieren – wie die Klägerin behauptet – ist höchst unwahrscheinlich. Vielmehr gab die Tierärztin in einem Telefonat mit dem Beklagten ausweislich des Telefonvermerks des Beklagten an, dass I. erhebliche Verletzungen erlitten habe und die Bisse nicht auf nur einmaliges Zubeißen zurückzuführen sein können.

Auch die Unstimmigkeit, dass auf einer der Tierarztrechnungen „Beratung Kalb“ zu finden ist, konnte die Tierärztin in einer ergänzenden Stellungnahme unter dem Hinweis auf ein Versehen der Tierarzthelferin erklären. Außerdem findet sich auf der Rechnung in der ersten Zeile die Bezeichnung „Hund Tibet Terrier I.“, was ebenfalls für eine versehentliche Falschbezeichnung in der 3. Zeile der Rechnung spricht.

Ebenso vermag die Angabe der Klägerin, I. habe einen Tag nach dem Vorfall, keine haarlosen Stellen aufgewiesen, nichts an der derzeitigen Annahme zu ändern, dass F. I. die Verletzungen zugefügt hat. Zwar hat auch der Zeuge P. L. in seiner schriftlichen Äußerung mitgeteilt, er habe I. erst später mit einer Halskrause gesehen und dass das Fell erst zu diesem Zeitpunkt frisch rasiert gewesen sei. I. wurde jedoch ausweislich der Stellungnahme der Tierärztin sowie der entsprechenden Tierarztrechnung am Vorfallstag in der Praxis vorstellig. Die Wunden wurden nach Angaben der Tierärztin unter lokaler Betäubung gespült und antibiotisch behandelt. Diesbezüglich gab die Tierärztin in dem Telefonat mit dem Beklagten an, dass bereits an diesem Tag eine komplette Rasur von der Kehle bis zum Sternum ebenso wie eine Rasur der Flanke erfolgt sei. Dabei erläuterte sie, dass die Rasur aus der Ferne möglicherweise nicht deutlich sichtbar für Außenstehende gewesen sein könne, da der Hund über ein sehr lockiges Haarkleid verfüge und die „kahlen“ Stellen dadurch nicht zwingend wahrzunehmen seien. Da sich der Zustand von I. im Laufe der Behandlung zunächst verschlechterte und daher später die entzündete Wunde gespült werden musste, bekam I. erst drei Tage nach dem Beißvorfall eine Halskrause verschrieben. Es ist daher stimmig, dass der Zeuge P. L. I. erst später mit einer Halskrause gesehen haben will. Dies ist auf den von der Tierärztin vorgetragenen Behandlungsverlauf zurückzuführen und nicht auf eine erst zu diesem Zeitpunkt begonnene Behandlung.

Insgesamt ist daher eine unzureichende Amtsermittlung, wie von der Klägerin behauptet, aus dem Verwaltungsvorgang nicht ersichtlich. Vielmehr ist der Beklagte seiner Pflicht zur ordnungsgemäßen Amtsermittlung vollumfänglich nachgekommen, indem sie umfangreiches Material und Stellungnahmen zusammengetragen hat. Auch ist sie jedem Hinweis nachgegangen und hat diese überprüft, insbesondere im Hinblick auf die Behauptung der Klägerin, ihre Hündin habe I. überhaupt nicht in der diagnostizierten Weise verletzen können.

Nach alledem entspricht die Feststellung des Beklagten, dass die Hündin der Klägerin gefährlich ist, voraussichtlich den Erfordernissen des § 7 Abs. 1 S. 2 NHundG.

Das Verwaltungsgericht Braunschweig hält an dieser Bewertung fest und verweist zur Begründung des vorliegenden klageabweisenden Urteils hierauf. Nach Abschluss des Prozesskostenhilfeverfahrens haben sich keine Gesichtspunkte ergeben, die eine abweichende rechtliche Beurteilung gebieten. Nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts Braunschweig steht fest, dass F. I. in einer Weise gebissen hat, die für die Gefährlichkeitsfeststellung nach § 7 Abs. 1 S. 2 NHundG ausreichend ist.

Beweisaufnahme

Das Verwaltungsgericht Braunschweig musste nach seiner Auffassung weder Herrn N. L. oder Frau O. noch Frau K. als Zeugen vernehmen. Weder verletze dies die Klägerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG noch verstosse das Verwaltungsgericht hierdurch gegen den Grundsatz der Amtsermittlung nach § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Gem. Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ist insbesondere dann gegeben, wenn das Gericht einen Schriftsatz zwar als solchen zur Kenntnis genommen hat, wesentliches Vorbringen z.B. ein Beweisantrag dabei aber übersehen worden ist. Vorliegend ist die Klägerin in ihrem Recht auf rechtliches Gehör nicht schon deshalb verletzt, weil das Gericht keine Beweisaufnahme durchgeführt hat. Vielmehr hat die erkennende Kammer die Klägerin mit ihrem gesamten Vorbringen wahrgenommen und dieses in der Entscheidung berücksichtigt. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht Braunschweig die klägerische Anregung, Herrn L. und Frau O. als Zeugen zu vernehmen, zur Kenntnis genommen und nicht übersehen.

Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat auch nicht die ihr nach § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO obliegende Amtsermittlungspflicht verletzt. Hinsichtlich einer durchzuführenden Beweisaufnahme bestimmt § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO, dass das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht. Die Beteiligten sind hierbei heranzuziehen. Die Amtsermittlungspflicht gebietet eine weitergehende Beweisaufnahme nur bei der ernsthaften Möglichkeit eines anders gestalteten Geschehensablaufs, nicht jedoch, wenn nach einer Vorabeinschätzung nicht zu erwarten ist, dass die Aufklärungsmaßnahme zusätzliche Erkenntnisse bringen wird.

Auch aus dem von der Klägerin angeführten Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ergibt sich kein anderer Maßstab. Das Niedersächsische Oberverwaltunsgericht hat in seinem Beschluss vom 30.06.2015 ausgeführt:

„Nach der Systematik des Gesetzes stellt der Hinweis auf eine gesteigerte Aggressivität eines Hundes zwar den Anlass für die nähere Prüfung dar. Diese Prüfung bezieht sich aber lediglich auf die näheren Umstände, die Gegenstand des Hinweises sind. In diesem Rahmen obliegt es dem Landkreis als zuständiger Behörde, die gesamten Umstände des Vorfalles aufzuklären und hierbei sowohl belastende als auch entlastende Gesichtspunkte zu berücksichtigen.“

Daraus kann jedoch nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Braunschweig nicht abgeleitet werden, dass nunmehr sämtliche Umstände des Beißvorfalls unabhängig von der Entscheidungserheblichkeit der zu ermittelnden Tatsachen durch umfangreiche Vernehmung sämtlicher beim Vorfall anwesenden Zeugen aufzuklären sind. Vielmehr bleibt auch in Verfahren nach dem NHundG der Grundsatz bestehen, dass der Untersuchungsgrundsatz nur soweit Raum greift, als eine Aufklärung des Sachverhalts für die Entscheidung des Gerichts erforderlich ist, also wenn und soweit es nach der Rechtsauffassung des Gerichts auf die in Frage stehenden Tatsachen ankommt. Für die Prüfung des § 7 Abs. 1 S. 2, S. 1 Nr. 1 NHundG bedeutet dies, dass zunächst die Tatsache der Verletzung eines anderes Tieres durch den betreffenden Hund festzustellen ist. In einem zweiten Schritt sind dann die Tatsachen zu eventuellen Ausnahmen von dem verwirklichten Regelbeispiel aufzuklären.

Nach diesen Maßstäben ist eine weitergehende Beweisaufnahme von Amts wegen im vorliegenden Fall nicht geboten. Denn die erkennende Kammer geht nicht davon aus, dass eine weitere Beweisaufnahme die Behauptung der Klägerin bestätigen kann, F. habe I. lediglich festgesetzt und nicht – mehrfach – gebissen und damit kein Regelbeispiel des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NHundG verwirklicht.

Zum einen bleibt auch nach der mündlichen Verhandlung unklar, inwiefern die Angabe der Klägerin, F. habe I. lediglich festgesetzt, gegen einen Biss F. s sprechen soll. Denn auch ein Festsetzen in der von der Klägerin geäußerten Art erfolgt mit dem Maul, sodass dies zwangsläufig einen Kontakt der Zähne mit der Haut des anderen Hundes zur Folge hat, was Verletzungen hervorrufen kann. Deshalb schließt ein Festsetzen allein die Verwirklichung des Regelbeispiels des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NHundG nicht aus.

Im Übrigen steht diese Einlassung der Klägerin im Widerspruch zu den schriftlichen Angaben der von der Klägerin selbst als Zeugen benannten Herrn N. L. und Frau O., so das Verwaltungsgericht Braunschweig.

Diesbezüglich hat das Verwaltungsgericht Braunschweig bereits in dem oben zitierten Prozesskostenhilfebeschluss, dass Herr P. L. und Frau O. übereinstimmend geschildert haben, dass „F. den dunkleren von den beiden (Hunden) in die linke Halsseite gebissen und nicht mehr los gelassen hat“. Auch das Trennen sei nach den Angaben von Frau O. nicht so einfach gewesen. Dies spricht gegen die Angabe der Klägerin, nicht F. habe I. die Verletzungen zugefügt.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Angaben des Herrn P. L. und der Frau O., dass sie nach der Trennung der Hunde bei I. keinerlei Biss- oder andere Verletzungen erkennen konnten. Dies kann vielmehr als wahr zugrunde gelegt werden. Bei Verletzungen infolge von Hundebissen kommt es nach der Erfahrung der erkennenden Kammer häufig vor, dass die Verletzungen von den unmittelbar Beteiligten nicht sogleich, sondern erst kurze Zeit später entdeckt werden. Hierbei ist für den vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass I. ausweislich der behandelnden Tierärztin ein dichtes und langes Fell hat, sodass es plausibel ist, dass Verletzungen erst beim Einsetzen stärkerer Blutungen bemerkt werden, wie dies hier geschehen ist. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür – solche hat auch die Klägerin nicht benannt -, dass die von der Tierärztin attestierten frischen Bisswunden bei I. auf eine andere Weise als durch das Aufeinandertreffen mit F. entstanden sein können. Wie bereits im Prozesskostenhilfebeschluss ausgeführt, befanden sich die Wunden von I. im Übrigen vielmehr auch im Halsbereich, also genau dort, wo F. I. „festgesetzt“ hatte.

Ob – wie die Klägerin vorträgt – das Blut auf dem Fell von I. auch von der Bissverletzung stammen könne, welche I. Herrn P. L. zufügte, ist bereits nicht entscheidungserheblich. Diese Vermutung ist zudem fernliegend, weil Frau K. angegeben hat, dass das Blut von I. „unablässig auf den Boden“ getropft sei, und nicht ersichtlich ist, dass Herr N. L. eine Verletzung erlitten hat, die entsprechend stark geblutet hat. Außerdem hätte in diesem Fall nahegelegen, dass das Blut im Fell von I. von den Beteiligten schon unmittelbar nach dem Beißgeschehen vor Ort bemerkt worden wäre.

Schließlich war von den Aussagen des Herrn P. L. und der Frau O. auch kein zusätzlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung selbst angegeben, dass die von ihr benannten Zeugen in den ersten Sekunden des Kontakts zwischen F. und I. nicht anwesend gewesen, sondern erst später hinzugekommen seien. Das erste Aufeinandertreffen der Hunde konnte daher von den durch die Klägerin benannten Zeugen nicht beobachtet werden. Sie kamen vielmehr erst hinzu, als F. I. endgültig festgesetzt hatte. In diesem Zusammenhang ist auch die Angabe des Amtstierarztes des Beklagten in der mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen. Dieser führte aus, dass bei einer Angriffssituation – wie im vorliegenden Fall – in dem Zeitraum der unbeobachteten Sekunden „viel passieren könne“. Oftmals würde in solch einer Situation schnell und mehrfach zugebissen. Dies sei von außen nicht ohne Weiteres erkennbar. Auch vor diesem Hintergrund war von den Zeugen kein zusätzlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten.

Auch machte die Einlassung der Klägerin, die Tierarztrechnung sei eine Gefälligkeitsrechnung, eine dahingehende Beweisaufnahme nicht erforderlich. Es gibt keine Anhaltspunkte, die die dahingehende Vermutung der Klägerin rechtfertigen.

Dies trifft insbesondere auch für den Vortrag der Klägerin zu, der Hundehalter von I., Herr H., habe erst Tage später bei Herrn L. senior geklingelt und erklärt, er sei an diesem Tag beim Tierarzt gewesen, weil sich die Wunde entzündet habe. Dies kann als wahr unterstellt werden, ohne dass – wie die Klägerin dies tut – darauf zu folgern wäre, I. sei an dem betreffenden – späteren – Tag zum ersten Mal beim Tierarzt gewesen.

Die Angaben der behandelnden Tierärztin belegen vielmehr, dass I. bereits am Tag des Vorfalls in der Praxis vorstellig und später erneut wegen einer Entzündung der Wunde erneut behandelt wurde. So datiert die Tierarztrechnung auf den Tag des Vorfalls. Weiterhin hat die Tierärztin in ihrer ergänzenden Stellungnahme gegenüber dem Beklagten Folgendes ausgeführt:

Am Dienstag, dem 24.06.2014, wurde Herr H. (…) mit seinem Hund I. in unserer Praxis vorstellig.

(…)

Wie Sie schon der Quittung entnehmen konnten, war Herr H. schon am 24.06.2014, also am selben Tag, bei uns vorstellig und nicht erst 3 Tage später.“

Dass die Tierärztin insoweit – mit vermutlich strafrechtlicher Relevanz eines solchen Handelns – falsche Angaben gemacht hat, ist schlicht abwegig; jedenfalls hat die Klägerin ihr entsprechendes Gegenvorbringen nicht substantiiert belegt und auch keine Anzeige gegen die Tierärztin wegen Betruges oder ähnlicher Straftatbestände erstattet.

Artgerechtes Abwehrverhalten

Auch die von der Klägerin angeführte, in ständiger Rechtsprechung anerkannte Ausnahme des eindeutig artgerechten Abwehrverhaltens  ((Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 18.01.2012 – 11 ME 423/11)) vermochte das Verwaltungsgericht Braunschweig hier nicht anzunehmen.

Mit der Erfüllung eines Regelbeispiels des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NHundG ist grundsätzlich die Gefährlichkeit dieses Hundes festzustellen. Denn bei dem Vorliegen eines Regelbeispiels ist grundsätzlich nicht mehr von einem artgerechten Verhalten eines als gewöhnlichen Haustier gehaltenen Hundes auszugehen, sondern der Hund vielmehr durch die Bissigkeit als Gefahr für die öffentliche Sicherheit einzustufen.

Einer solchen Gefährlichkeitsfeststellung steht jedoch entgegen, wenn bei Erfüllung eines Regelbeispiels ein Ausnahmefall vorliegt. Eine solche Ausnahme bedarf einer besonderen Begründung. Nach ständiger Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts kann sich eine solche Ausnahme ergeben aus einem bestimmungsgemäßen Gebrauch etwa eines Dienst-, Wach- oder Jagdhundes, aus der Verletzung eines anderen (Haus-)Tieres durch ein eindeutig artgerechtes Abwehrverhalten oder ggf. auch beim Beißen bzw. Töten von Mäusen oder Insekten.

Die Annahme eines solchen Abwehrverhaltens liegt jedenfalls nicht vor, wenn der betroffene Hund in äußerlich erkennbar eindeutiger Weise offensiv auf den anderen Hund zugelaufen ist, ohne einem vorherigen Angriff dieses anderen Hundes ausgesetzt worden zu sein.

Allein das Passieren des angeleinten I. s stellt kein Angriff dar, dessen sich F. hätte erwehren müssen. Sofern die Gutachterin meint, dass I. durch das Passieren des Grundstücks der Familie L. in das „Kernterritorium“ von F. eingedrungen sei, worin ein Angriff zu sehen sei, folgt dem die erkennende Kammer nicht. Wie weit das „Kernterritorium“ eines Hundes zu ziehen ist, ist abhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles. Dass jedoch auch der öffentlich zugängliche Bereich vor dem Grundstück darunter zu fassen ist, erscheint der erkennenden Kammer zu weitgehend. Unabhängig von der Einstufung des Vorfallortes als Kernterritorium kann auch das wie oben festgestellte sofortige Zubeißen F. s nicht mehr als artgerecht bezeichnet werden.

Ebenso führt die Einschätzung der Gutachterin, dass sich F. aufgrund der negativen Vorerfahrungen nachvollziehbar und artgerecht mit einem Angriff verteidigte, nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung.

Im Rahmen des § 7 Abs. 1 S. 2 NHundG hat die Behörde eine Gefahrenprognose zu treffen. Für die Frage des Vorliegens einer Gefahr ist nicht auf ein eventuelles Verschulden der beteiligten Hunde abzustellen. Vielmehr geht es im vorliegenden Verfahren um den angemessenen Umgang mit einer verschuldensunabhängigen Störung der öffentlichen Sicherheit durch den Biss von F.. Insofern kann die individuelle Unverträglichkeit F. s mit I. zwar als tierpsychologische Erklärung der Auseinandersetzung dienen, nicht jedoch die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausschließen. Allein entscheidend für eine solche Gefahrenprognose ist im vorliegenden Fall zunächst, dass F. ein anderes Tier nicht nur geringfügig verletzt und damit das Regelbeispiel des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NHundG erfüllt hat. Individuelle Unverträglichkeiten spielen hierbei keine Rolle. Sie können auch grundsätzlich nicht zu der Annahme eines artgerechten Abwehrverhaltens führen, wenn – wie hier – äußerlich erkennbar keine Angriffssituation durch I. bestand. Insofern weist auch die Gutachterin darauf hin, dass es an „F. s Betreuer gewesen (wäre), vorausschauend zu handeln und die Haustür nicht zu öffnen, ohne die Hündin vorher anzuleinen“ (S. 7 des Gutachtens).

Im Übrigen gründen die Erläuterungen der Gutachterin zu den Vorerfahrungen zwischen F. und I. allein auf den Schilderungen der Klägerin. Auch hat der Amtstierarzt des Beklagten ausweislich ihres Aktenvermerks angegeben, dass es kein artgerechtes Abwehrverhalten mehr darstellen könne, wenn F. ohne Vorwarnung direkt auf I. zugelaufen sei und diesen gebissen habe. Diese Einschätzung und Verneinung eines möglichen Ausnahmefalls durch den Amtstierarzt bestätigt nachvollziehbar den bereits aufgrund des Beißvorfalls bestehenden Gefahrenverdacht. Hierbei ist mit der obergerichtlichen Rechtsprechung zu berücksichtigen, dass es sich bei einem Amtstierarzt um eine sachverständige Person handelt, die grundsätzlich über die nötige Fachkompetenz verfügt, um zu beurteilen, ob von dem betreffenden Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Der Einschätzung eines Amtstierarztes kommt deshalb eine vorrangige Beurteilungskompetenz zu.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 22.02.2013 ist auf den vorliegenden Fall nicht in dem von der Klägerin erklärten Sinne übertragbar. In dem diesem Urteil zugrundeliegenden Fall ging es um einen für gefährlich erklärten Hund, der einen anderen, erheblich kleineren Hund infolge seines Bisses so schwer verletzte, dass dieser starb. Das VG Osnabrück hat hierbei eine Gefährlichkeit dieses Hundes verneint und den Ausnahmefall des artgerechten Abwehrverhaltens angenommen. Als Begründung führt das Gericht an, dass der größere Hund an dem fahrenden Rad der Hundehalterin zweifach angeleint, infolgedessen in seiner Bewegungsfreiheit maßgeblich eingeschränkt war und sich des Angriffs des später verstorbenen Hundes nicht anders erwehren konnte als durch einen Biss. Denn der später verstorbene Hund sei auf ihn zugelaufen und habe ihn in die Hinterläufe gebissen. Aufgrund seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit habe sich der größere Hund diesem Angriff auch nicht anderweitig entziehen können. Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat hierbei auch das Verhalten des später verstorbenen Hundes in die Gefährlichkeitsprognose mit einbezogen.

Hierzu führt das Verwaltungsgericht Osnabrück aus:

So ist in Übereinstimmung mit der Wertung des Gutachters ergänzend festzustellen, dass bereits der Umstand, dass die beiden auf S. zustürmenden Hunde der Anzeigeerstatter als sie S. bemerkten, deren Grundstück verließen und auf den im angrenzenden öffentlichen Verkehrsraum befindlichen Hund S. zugelaufen sind, bevor es zur Auseinandersetzung zwischen den Hunden kam, ein nicht artgerechtes Verhalten beider Hunde belegt.

Das Verhalten der beiden auf „S.“ zulaufenden Hunde gleicht dem Verhalten von F. im vorliegenden Fall. Denn sie hat – wie der später verstorbene Hund im Fall des VG Osnabrück – eigenständig das Grundstück verlassen und ist auf I. zugelaufen, ohne dass dieser F. unmittelbar angegriffen oder sonst bedroht hätte. Dieses Verhalten hat auch das Verwaltungsgericht Osnabrück als nicht mehr artgerecht eingeschätzt.

Verwaltungsgericht Braunschweig, Urteil vom 25.11.2015 – 5 A 195/14