Leiten wir mal das Wochenende ein:
Alkohol am Arbeitsplatz ist ein beliebtes Thema des Feuilletons, der Arbeitswelt- und Karriereratgeber und natürlich der Arbeitsgerichte. Der Karriere-Spiegel hat da eine besondere Perle ausgegraben. Unter Bezug auf die Hannoveraner Soziologin Elisabeth Wienemann und den im 19. Jahrhundert tätigen Ingenieur Frederick W. Taylor, der offenbar das Prozessmanagement zur Industrialisierung miterfand, kommt eine heiße These daher: Schuld daran, dass es Alkohol am Arbeitsplatz als Problem gibt, ist die Industrialisierung!
Nun hat man uns schon in der Schule (auch im Westen) beigebracht, dass Kapitalismus und Industrialisierung eigentlich einfach an allem Schuld sind. Die Erkenntnis, die jetzt zu Alkohol am Arbeitsplatz verbreitet wird, ist deshalb nicht gerade überraschend, wenn man sie so begründet. Aber im Spiegel liest sich das knackiger. Denn:
“Auf einmal hatten die Arbeiter erstmals selbst Geld in der Hand, um Alkohol zu kaufen – vorher, als sie noch Landarbeiter waren, wurde ihnen der Alkohol zugeteilt.”
Das habe ich so noch gar nicht gesehen. Bei einer Besichtigung der Wikinger-Siedlung Jorvik (besser bekannt heute unter der Bezeichnung „York“, mit dem berühmten Münster) kann man lernen, dass schon im 10. Jahrhundert dort nur Bier getrunken wurde – auch von Kindern ab etwa 5! Daneben – allenfalls – Milch, aber nur von Frauen und Kindern. Die Menschen jener Zeit waren sozusagen dauerberauscht. Grund soll gewesen sein: Das Wasser hatte eine Qualität, bei der man nach dem Genuss auch gleich den Löffel abgeben konnte. Da Bier gebraut werden muss, ist ein gewisser Reinigungs- und Sterilisationseffekt damit verbunden. Saufen für die Gesundheit also. Ich weiß nicht, ob es stimmt.
Zurück zum Grundproblem.
Trinken am Arbeitsplatz ist nicht schön, schon gar nicht, wenn man Busse fährt, Maschinen bedient oder überhaupt bedient…nach dieser neuen historischen Erkenntnis ist das Problem nicht der Alkohol, sondern der Vertriebsweg. Würde man Alkohol am Arbeitsplatz zuteilen und Arbeitnehmern den Erwerb außerhalb ihrer Urlaube verbieten, ließe sich das Problem offenbar lösen. Zuteilung ist der Schlüssel zum Erfolg. Abends vor dem Nachhauseweg bekommen alle unter 30 einen Alcopop, alle darüber 0,2 l Rum.
Wie auf der Bounty. Deren Kommandant William Bligh hatte weltweit Trinkerfahrungen und war auch mit der ersten Sauftour in den Annalen britischer Kolonialgeschichte eng verbunden (die beredt als “Rum-Rebellion” bezeichnet wird). Getrunken wurde also schon beim Regieren und Verwalten viel, bevor die Industrialisierung anfing. Er ist darüber hinaus ein frühes Phänomen des Seearbeitsrechts, weil man die Bounty erst zum Kutter herabgestuft hat, damit er sie auch ohne Kapitänsrang (sondern als Commanding Lieutenant) und deshalb zu einem niedrigeren Tariflohn befehligen konnte; aber das ist eine völlig andere Geschichte.
Dass Alkohol ein gesellschaftliches Phänomen ist, merkt auch der Spiegel. Denn dass noch in den 60ern Alkoholkonsum so verbreitet war, dass die wenigen überlieferten Fernsehbilder so mancher Tarifschlichtung heute einen handfesten Skandal auslösen würden, kann man nicht ernsthaft bestreiten. Die „Altvorderen“ haben trotzdem ihre Arbeit geschafft (behaupten sie jedenfalls).
Heute sehen die Dinge auch aus gesundheitlichen Erwägungen heraus anders aus, wie man weiß. Ob sich eine Rückkehr zur Verteilung zu Feierabend daher durchsetzen lässt, erscheint utopisch. Aber vielleicht sollte man mit soziologisch-historischen Thesen etwas vorsichtiger sein: Glaubt, ohne ihr zu nahe treten zu wollen, die Hannoveraner Soziologie wirklich, dass Landarbeiter nie besoffen bei der Arbeit waren? Dass Schnaps in der vorindustriellen Zeit keine Rolle gespielt hat? Ja, sind vielleicht gar alkoholische Getränke erst in der Industrialisierung erfunden worden?
Das ist dann wohl noch utopischer als die Rückkehr zur Zuteilungswirtschaft. Ich glaube – ehrlich – eher daran, dass heute viel, viel weniger getrunken und viel genauer hingeschaut wird. Schließlich wird seit Jahrzehnten etwa der Bierkonsum nur danach gemessen, wie stark er erneut zurückgegangen ist.
Deshalb kümmere ich mich jetzt mit einem Kollegen um die Mandanten von morgen – die Bierbrauer.