Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
12.07.2011

Warum ich das Diskriminierungsrecht nicht verstehe

Soll man als Anwalt vom AGG die Finger lassen? Soll man sich die Hände reiben, dass die Gerichte die eigentlich Blöden sind, die damit zu kämpfen haben? Oder: Hat mir der Ossi-Fall eigentlich nicht gereicht? Nachdem ich meinte, alles zur Ethnie gelernt zu haben (und warum Ossis keine sind), gibt es jetzt die x-te Entscheidung zur Schwerbehinderung. Sie wird allenthalben besprochen, aber mich läßt sie (ver-)zweifeln:

Nach seiner Pressemitteilung zum Urteil vom 7. Juli 2011 – 2 AZR 396/10 hatte das BAG dieser Tage über einen Fall zu entscheiden, in dem jemand nach seiner Schwerbehinderung gefragt wurde – bei der Einstellung. Der Betreffende log und verneinte die Schwerbehinderung. Irgendwann wollte man Personal abbauen, die Schwerbehinderung flog sozusagen auf und der Arbeitgeber hackte los: Anfechtung (wegen Täuschung), Kündigung (wegen Unzuverlässigkeit und Lüge). Die Arbeitnehmerin hackte zurück: Schadensersatz wegen Diskriminierung, weil die Kündigung wegen ihrer Schwerbehinderung erfolgt sei.

Das BAG war salomonisch: Anfechtung und Kündigung unwirksam. Schadensersatz aber auch nicht. Weil?

„…Es gab keine ausreichenden Indiztatsachen dafür, dass sie von der Beklagten wegen ihrer Behinderung benachteiligt wurde…“

Die Frage, die alle (mich eingeschlossen) interessiert hätte, war aber eine andere. Nach § 2 Abs. 4 AGG ist das Gesetz nicht auf Kündigungen anwendbar. Hier bestand aber die Diskriminierung nur in einer – angeblich – diskriminierenden Kündigung. Das BAG meint aber:

„…Der Senat hat nicht entschieden, ob § 15 AGG bei unzulässig diskriminierenden Kündigungen überhaupt anwendbar ist…“

Wegen der fehlenden Indiztatsachen, s.o.

Jetzt muss man aber sehen: Der Arbeitgeber war ein Softwareentwickler. Ihm kann egal sein, ob jemand schwerbehindert ist. Einen „sachlichen Grund“ gibt es für die Frage deshalb nicht. Warum also kein Indiz? Im Jahr 2009 entschied das BAG, die Frage eines Arztes an einen anderen, ob er an Morbus Bechterev (schlimme Krankheit) leide, sei eine Indiztatsache (für die Diskriminierung als Schwerbehinderter). Weil es keinen Grund gab, sich danach zu erkundigen. Also gab es auch Schadensersatz. Nachzulesen hier: BAG vom 17.12.2009 – 8 AZR 670/08 AuA 2010, 676.

Nanu?

Frage ist nicht gleich Frage. Wie es aussieht, gilt das umso mehr, wenn man sich um eine andere (Grundsatz-) Frage drücken will. Gottseidank musste man nicht entscheiden, ob das AGG europarechtswidrig sei, weil es die Kündigungen aus dem Geltungsbereich ausnimmt. Dann wäre ja auch alles klar. Schlecht fürs Geschäft.

Die Verwirrung will sich trotzdem nicht legen. „Haben Sie irgendwas, so krankheitsmäßig, vielleicht, äh, Morbus Bechterev…?“ ist eine Indiztatsache, „Sind Sie behindert“ natürlich nicht, wer redet denn von Behinderungen, war ja nur so eine Frage. Das einzig Gute: Darüber dürfen sich die Arbeitnehmeranwälte den Kopf zerbrechen. Die müssen ihre Mandanten ja beraten, ob sie eine Klage einreichen. Unklarheiten sind eben gut fürs Geschäft.

Bis zur nächsten höchstrichterlichen Klärung.

Weblinks

Der Fall hatte große Resonanz. Eine Auswahl:

Rechtslupe: http://www.rechtslupe.de/arbeitsrecht/die-frage-nach-einer-schwerbehinderung-und-ihre-falsche-beantwortung-331304

Conle§i: http://conlegi.de/?p=2809

Andere Ansicht: http://www.lehrstellen-verein.de/blogg/archives/11379

Jus@Publicum: http://jusatpublicum.wordpress.com/2011/07/04/anfechtung-wegen-falschbeantwortung-der-frage-nach-einer-schwerbehinderung/

Heiko Müller: http://www.arbeit-familie.de/2011/07/08/sind-sie-schwerbehindert-nein/