Der gerechte Zorn von Carsten Hoenig (das ist ein bekannter Berliner Strafverteidiger und ebenso bekannter Blogger) traf heute einen Düsseldorfer Arbeitsrichter. Der hatte – wie im Beck-Blog berichtet – in einem Urteil vom 15.05.2012 (2 Ca 2404/12) einen Bewerber abblitzen lassen, der 195 EUR Flugkostenerstattung haben wollte. Für die Anreise zum (erfolglosen) Bewerbungsgespräch. Der Arbeitsrichter gab mit auf den Weg, das sei nicht sozialadäquat, weil die Stelle keine solche gewesen sei (Teamleiter für 5 Personen in der IT), bei der man „üblicherweise“ das Flugzeug nimmt. Er habe einfach vorher fragen müssen, ob auch Flugkosten übernommen würden.
Carsten Hoenig meint, die Frage hätte ihn den Job gekostet, nur ein Richter (im Turm, s.o.) könne auf den Vorschlag verfallen. Dafür gibt es feurige Kommentare auf seinem Blog (wenn Sie mich kichern hören, haben Sie jetzt aber Halluzinationen). Kollege Hoenigs Zorn ist berechtigt! Aber nur in Bezug auf die religöse Verschwörung, die wir aufgedeckt haben.
Der Reihe nach:
Wenn man sich das Urteil aus Düsseldorf genauer ansieht, enthüllt es zunächst viele Facetten, die sehr lehrreich sind.
Da ist zu allererst „der Richter“. Mir geht es jetzt nicht um die Geschlechterquote, sondern darum, dass er hier alleine entschieden hat. Alleine. Beim Arbeitsgericht entscheidet gewöhnlich eine Kammer, bestehend aus einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Beisitzern. Die sollen den Richter aus einem möglichen Elfenbeinturm holen. Nur wenn beide Parteien das unbedingt wollen, kann der Vorsitzende auch in der Sache alleine entscheiden, § 55 Abs. 3 ArbGG. Das kommt praktisch nie vor. Außer in Düsseldorf, in eben dieser Sache. Es war eine Alleinentscheidung, was den Fall zum Exoten macht.
Noch exotischer ist, dass der Berufungsstreitwert zwar nicht erreicht, die Berufung vom Arbeitsgericht aber gleichwohl zugelassen worden ist. Dabei ist die Frage der Kostenerstattung bei Bewerbungen nach § 670 BGB eigentlich ausgepaukt und nicht wirklich grundsätzlich.
Dritte Besonderheit des Falls dürfte sein, dass sich der Vorsitzende nicht sicher war, ob die Parteien überhaupt Anträge gestellt hätten (!). Das Urteil widmet deshalb seinen ersten Abschnitt nur der Frage, ob man aus der Erörterung und dem nachfolgenden Antrag, der Vorsitzende möge alleine entscheiden, auf eine Stellung von Klageantrag und Abweisungsantrag schließen könne (man kann, sagt er).
Das sind schon eine Menge Eigenarten für so ein kleines Urteil. Im Elfenbeinturm sind wir da immer noch nicht angekommen.
Die Anspruchsgrundlage für eine Reisekostenerstattung beim Bewerbungsgespräch ist § 670 BGB, seit jeher. Allerdings: Obwohl die Regel, nichts sei zu dämlich, als dass sich nicht schon ein Arbeitsgericht damit hätte befassen müssen, immer noch gilt: Der Anspruch hat erstaunlich wenig Spuren in der Rechtsprechung hinterlassen, dafür ist er in jeder noch so nutzlosen „Blattei“ ausgebreitet.
Gerne zieht man ein Urteil von 1977 heran (ist auch im Erfurter zitiert) – genauer vom 14.02.1977 – 5 AZR 171/76. Nur waren die Bewerber, die ihre Fahrtkosten einklagen wollten, schon damals weder mit Geschick noch mit Prozessglück gesegnet, denn im kalten Februar 1977 befasste sich das BAG nur mit der Beseitigung des – unterstellten – Anspruchs: Durch Verjährung (bejaht). Wer da Aufklärung zum Umfang des Anspruchs sucht, sucht vergeblich. Im Sommer vor dem Mauerfall war es dann wieder soweit: Am 29.06.1988 (5 AZR 433/87) schlug das BAG einen Unternehmensberater in die Pfanne (eine Spezies, die im Deutschland der darauffolgenden Jahre diskreditiert wurde). Der hatte im Auftrag des Arbeitgebers ein Auswahlgespräch geführt und den Bewerber dazu eingeladen; der Arbeitgeber hatte dann wie üblich erfolglos behauptet, er habe dem Berater dazu gar keine Vollmacht erteilt. Wenn das stimmte, musste im Ergebnis der Unternehmensberater bluten. Das Urteil bezieht sich auf die inhaltsleere Entscheidung von 1977 und gibt noch einen drauf:
Dazu gehören Fahrkosten oder Mehrkosten für Verpflegung und Übernachtung
Das sollte jeder bedenken, der eine Bewerber von außerhalb einlädt. So schnell ist eine „absolut herrschende Meinung“ kreiert: Dass man ohne einen Hinweis auf das Gegenteil schon im Einladungsschreiben zahlen muss, ist gesicherter Rechtsstand. Das liegt nur an diesen BAG-Urteilen.
Dass es § 670 BGB überhaupt gibt, ist den meisten (Rechtsanwälten) gar nicht klar; wenn doch, bringen Sie den überwiegend nicht mit Bewerbungsverfahren oder dem Arbeitsrecht in Verbindung. Aber damit hat er nun einmal zu tun. Nach § 670 BGB leider bloß das erstattungsfähig, was der Beauftragte für “erforderlich” halten durfte.
Geklärt ist , dass Mehrkosten nicht “erforderlich” sind, die alleine darauf beruhen, dass jemand zu blöd ist, den Arbeitgeber zu finden (und dann gar nicht erst erscheint) – siehe die schon besprochene Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz hier.
Alles Übrige ist ein Sozialfilter: Was ist „adäquat“? Hier ist der Vorsitzende als Alleinentscheider den Anschein nach auf den Sozialfilter der 1970er Jahre aufgesprungen (die erste Entscheidung des BAG ist ja denn auch von 1977). Fliegen ist keine Kostensache, sondern eine Prestigesache, die sich nur Top-Performer leisten. Realistisch? Nein. Aber der Kläger war wohl zu grün, um ein preiswertes Flugticket zu bekommen: Er hat es geschafft, teurer zu fliegen als Bahn zu fahren. Das Kunststück gelingt selten. Den Bahnpreis hat der Arbeitgeber übrigens klaglos erstattet. Bei den mitgeteilten Zeiten hätte sich das Gericht den Hinweis sparen können, dass der Kläger vorher nach einer Flugkostenerstattung fragen müsste. Ebenso überflüssig war der Sozialfilter: Grundsätzlich kann man immer den günstigsten Weg erstattet verlangen. „Standesgemäß“ muss er im 21. Jahrhundert aber nicht mehr sein – außerdem ist fraglich, ob Ryanair standesgemäßer bequemer ist als die Bahn.
Ausgereicht hätte das Zeitargument: Man zwingt auch Rechtsanwälte nicht, (erstattungsfähige) Reisen vor 6:00 Uhr morgens anzutreten. Geht’s mit der Bahn nicht anders, darf man auch dann ins Flugzeug steigen, wenn das teuer ist. Nur Business-Class darf es wieder nicht sein. Eigentlich nicht besonders schwer zu verstehen.
Der Elfenbeinturm steht also, nur an anderer Stelle, als Kollege Hoenig vermutet.
Jetzt wollen wir auch mal mit der Wahrheit rausrücken, Kollege Hoenig: Die ganze Nummer war eine Verschwörung. Das ist klar: Denn keiner hat in der ganzen Kommentiererei darauf geachtet, dass im Urteil folgender Hinweis zur Position steht, die der Kläger haben wollte:
Die Vergütung sollte sich nach dem BAT KF richten
Ich nehme an, niemand hatte ein Ahnung, was das ist. Es handelt sich um den (früheren) Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT), nur in der bis heute gültigen “Kirchlichen Fassung” (KF). Das heißt: Der Arbeitgeber muss gem. Abschnitt I § 1 Abs. 1 BAT KF dem
Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche sowie ihrer Diakonischen Werke
zugehörig sein. Ist doch klar: Der Richter will auch noch erhobenen Hauptes und reinen Herzens in den Gottesdienst gehen. Wenn Sie diese Zusammenhänge jetzt nicht beeindrucken, sind Sie entweder abgestumpft oder – hartgesottener Strafverteidiger.
Protestanten!