Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
20.07.2011

Stillstand der Rechtspflege, vorsätzlich erzeugt? Schlammschlacht in Stuttgart…

Dass sich ein ganzes Landesarbeitsgericht – als Institution, nicht in richterlicher Funktion – mit einem Konzern anlegt, ist nach unserer Erkenntnis einmalig.

Der Bezirk des LAG Baden-Württemberg wird zur Zeit von einer Klageflut überschwemmt. Die Klagen sind alle gegen IBM gerichtet, ein in Stuttgart ansässiges Unternehmen, das zum bekannten US-Riesen gehört (der schon lange keine Computer mehr baut).

Grund dieser Klageflut sind Betriebsrenten, deren Anpassung IBM anders vornehmen will, als die Rechtsprechung es verlangt: IBM hat bislang alle Verfahren bei den Arbeitsgerichten erster Instanz verloren. Man will trotzdem jeden Einzelfall (potenziell 20.000) durch die Instanzen treiben. Die Taktik ist vielleicht fragwürdig, wenn es eine ist.

Dass ein Gericht aber eine Pressemitteilung herausgibt, in der es dem beklagten Unternehmen vorhält:

„Die Leidtragenden dieser Prozesstaktik sind an erster Stelle die Betriebsrentner, die sich ihr Recht in jedem Einzelfall erstreiten müssen. Die Leidtragenden sind aber auch die anderen Parteien, deren Verfahren wegen der Betriebsrentenfälle weniger zügig bearbeitet werden können. Besonders bedenklich ist, dass die Firma IBM nicht bereit ist, die Grundsatzentscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zu akzeptieren. Die Firma IBM untergräbt damit die Autorität der Rechtsprechung. Außerdem steht das Verhalten der Firma IBM im Widerspruch zu den eigenen Ethik-Richtlinien, wonach sich jeder Unternehmensangehörige zur Einhaltung der Gesetze und der allgemein gültigen ethischen Standards verpflichtet…“

…ist ein unerhörter Vorgang.

Wie würde man sich fühlen, wenn man vor einem Gericht erscheinen muss, das einen derart angegriffen hat?

Dass die Fälle aussichtslos sind – ist eine Einschätzung. Gibt ein Richter sie vor einem Urteil ab, wäre er als befangen einzustufen. Rechtsprechungsänderungen kommen übrigens auch beim BAG vor (siehe Sozialauswahl) und auch überraschend (siehe TzBfG). Und haben dann die Eigenschaft, dass alle vorherigen Instanzen – einfach falsch lagen.

Der Hinweis auf die Ethikrichtlinien ist außerdem fragwürdig, weil er geeignet ist, das Ansehen des Unternehmens zu schädigen. Niemand, der die Pressemitteilung liest, kann die Fälle und die zugrundeliegenden Tatsachen beurteilen. Die Ethikrichtlinien liegen der Pressemitteilung natürlich weder bei noch wird dem Leser erläutert, welchen Rechtscharakter sie haben. Hängen bleibt nur: IBM ist böse.

Ob IBM böse ist, können auch wir nicht beurteilen. Größtes Verständnis haben wir für die Notlage des Gerichts, das die Flut nur auf Kosten anderer Verfahren bewältigen kann. Wütend sind wir auch, wenn die Verfahren in anderer Sache deshalb länger brauchen.

Mit demselben Argument könnten die Sozialgerichte auch die Bundesrepublik öffentlich abmahnen. Die hat mit den Hartz-IV-Gesetzen ein Sozialrecht geschaffen, das praktisch zwangsläufig vor Gericht geht. In jedem Einzelfall. Und die Bundesagentur verletzt die höchstrichterliche Rechtsprechung auch in jedem Einzelfall. Systematisch.

Nur: Solche öffentlichen „Abmahnungen“ sind weder die Aufgabe der Gerichte, noch sind sie ihrer würdig. Und wenn es noch so knirscht: Jeder Kläger hat ein Recht, zu klagen, jeder Beklagte ein Recht auf seinen Standpunkt – ohne schon vor dem Berufungsverfahren pauschal beschimpft zu werden, sei es sachlich mit oder ohne Rechtfertigung.

Wir halten die Pressemitteilung deshalb schlicht für einen Skandal. Denn um die Antwort auf die oben gestellte Frage zu geben: Wenn man vor einem Gericht erscheinen muss, das einen als Rechtsverletzer pauschal beschimpft hat, dann fühlt man sich, als würde man keine Chance auf ein faires Verfahren mehr haben. Schlimmer geht es nicht, im viel gescholtenen Rechtsstaat.

Vielleicht ist die Pressemitteilung mal so ein Justizverwaltungsakt, der immer durch das Studium geisterte. Vielleicht muss jetzt ein anderes Gericht eine einstweilige Verfügung erlassen, die dem LAG diese Art der Kommunikation untersagt. Das wäre mal spannend…

Weblinks:

Boulevard Baden:

http://www.boulevard-baden.de/ueberregionales/wirtschaft/2011/07/19/klagewelle-von-betriebsrentnern-gegen-ibm-legt-arbeitsgerichte-lahm-von-matthias-jekosch-395589/

LAG Baden-Württemberg:

http://www.lag-baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1270144/index.html?ROOT=1149275