Ich habe wirklich keine Ahnung, ob die 46.378.000,00 € (kein Schreibfehler) die größte, fast größte oder eine der größten Klagen (nach Gegenstandwert) repräsentieren, die das BAG je entschieden hat (vermutlich nicht). Gewaltig ist die Summe aber schon, die das BAG schließlich nicht zugesprochen hat (Urteil vom 26.09.2012 – 10 AZR 370/10 – Pressemitteilung 68/12). Aber nicht nur deshalb verdient die Entscheidung weit mehr Aufmerksamkeit, als sie derzeit bekommt (hier immerhin der Beck-Blog). Sie tangiert mein Steckenpferd (den Kontakt zwischen Arbeits- u. Wettbewerbsrecht, s. NJW 2008, 3538). Sie ist hoffentlich sehr interessant begründet, wenn die Gründe mal vorgelegt werden.
Vor allem: Schwer verdaulich ist sie auch. Sie setzt ein völlig falsches Signal in einer Zeit der unlauteren Geschäftspraktiken.
2005 ging – Sie erinnern sich vielleicht – die Walter-Bau pleite. Die hatte eine Anzahl Töchter, eine davon betrieb u.a. in Ostdeutschland Straßenbau. Ein großes Geschäft, aber auch eines, für das man Fachwissen braucht. Das beschränkt sich nicht auf Kenntnisse darüber, wie man Schotter walzt und Drainagen legt. Nein, wenn Sie ein Hochbauunternehmen sind, haben Sie halt niemanden, der Straßen bauen kann, nicht mal jemanden, der weiß, wie man so ein Angebot kalkuliert, Sie wissen nicht mal, wer genau da eigentlich Aufträge vergibt. Ein neuer, anderer Markt.
Jetzt wollte ein großer Konzern – Bilfinger + Berger – aber nun einmal in das Geschäft einsteigen. Da gibt es eine saubere und eine dreckige Möglichkeit. Sauber wäre, wenn man versucht, einen Spieler in diesem neuen Markt aufzukaufen. Man holt das Geschäft so in den Konzern und kann alles mögliche damit machen. Nachteil: Das kostet Geld (viel) und dauert lange. Manchmal findet man gar keinen geeignete Kandidaten, der gekauft werden will. Die schmutzige Möglichkeit: Man baut eine eigene Firma auf. Dann geht man zu dem Unternehmen, das man eigentlich kaufen sollte, und wirbt das gesamte Führungspersonal ab. Alle wichtigen Leute. Planmäßig. Man animiert sie vielleicht sogar, ein paar Laptops mitgehen zu lassen, mit Kundendatenbanken, Angebotskalkulationen, dem Know-How eben, ohne das man das Geschäft nicht machen kann. In etwa diesen Weg muss Bilfinger + Berger beschritten haben. Wer die Vorwürfe genau nachlesen will – hier soll ja keinem übel nachgeredet werden – kann das in der Berufungsentscheidung beim LAG Düsseldorf machen (Urteil vom 23.02.2010 – 17 Sa 1133/08). Den damit gleichzeitig ausgeführten Vernichtungsschlag gegen den Konkurrenten nimmt man gerne in Kauf.
Es besteht kein Zweifel, dass so ein Verhalten gegen das UWG verstößt. Die Einstufung einer gezielten Totalabwerbung inklusive Vertriebsunterlagen als sog. Behinderungswettbewerb nach § 4 Nr. 10 UWG lässt sich einfach nicht bestreiten – das LAG Düsseldorf hat das sauber herausgearbeitet, das BAG hat das offensichtlich nicht beanstandet. Zu Recht.
Was Wettbewerbsverletzer oft vergessen, ist § 9 UWG. Wettbewerbsverstöße verpflichten gegenüber Mitbewerbern zum Schadensersatz.
Womit wir bei den 46.378.000,00 € wären. Die Gerichte waren forsch, einen Wettbewerbsverstoß zu erkennen, aber schamhaft, einen Schaden zuzusprechen. Die Klägerin ging leer aus. Warum nur? Das ist eine Geschichte, die schon häufig erzählt wurde; das deutsche Recht versagt hier schlicht.
Schadensersatz wird im Grund immer nach demselben Prinzip ermittelt: Wie viel Geld hattest Du vorher und wie viel hast Du jetzt gerade deshalb, weil der Böse etwas böses gemacht hat? Die Differenz ist der Schaden, weshalb das auch „Differenzhypothese“ genannt wird. Es ist nur eben auch das: Eine Hypothese.
Was nämlich gut funktioniert, wenn man zwei Autos aufeinanderprallen lässt und die Schuld leicht zuweisen kann, versagt hier völlig. Wer will schon beweisen, wie viel Geld ein Unternehmen über welchen Zeitraum verliert, dem praktisch der Kopf (in Form seiner Leitungsebene) abgeschlagen wurde? Natürlich gibt es immer einen Schaden. Der Berechnung kann man nur immer entgegenhalten: Wer weiß denn ob Sie nicht nächstes Jahr pleite gewesen wären? Was von Euren Verlusten ist auf unseren Eingriff zurückzuführen? Das kann man nicht mit dem Taschenrechner ausrechnen.
Das Gesetz weiß das und hat zwei Erleichterungen geschaffen: § 252 BGB, der keinen Nachweis verlangt, sondern nur einen „gewöhnlichen Verlauf“ der Dinge ausreichen lässt, wenn man seinen entgangenen Gewinn schätzen will. Der Teufel ist das Detail: Was machen quicklebendige Unternehmen, die – wie oft – keinen Bilanzgewinn ausweisen können? Kann man die beliebig schädigen? Auch nicht gerade logisch. Die zweite Erleichterung liegt in § 287 ZPO: Danach kann man einen unbestreitbaren Schaden schätzen, wenn die Ermittlung nicht möglich ist.
Das hat man hier auch strapaziert. Erfolglos. Der Schaden dürfe nicht „in der Luft hängen“, man brauche tatsächliche Anhaltspunkte, meinten BAG und LAG Düsseldorf. Die gebe es hier einfach nicht.
Was – seien wir mal ehrlich – feige ist. Falsch ist es auch.
Alleine die LAG-Entscheidung enthält mehrere kleine (bloß sechsstellige) Forderungen, die ohne weiteres einen konkreten Schaden darstellen. Dazu gehören Personalberatungskosten, weil man Ersatz für die Abgeworbenen suchen musste. Das sind konkrete Schäden, die man nicht schätzen muss. Den Versuch nicht zu unternehmen, die Verluste wenigstens teilweise dem Verhalten von Bilfinger + Berger zuzuordnen, lehnte das LAG mit dem wohlfeilen Hinweis darauf ab, dass man das eben nicht genau sagen könne – und darf sich jetzt bestätigt fühlen. Man kann es nur nie genau sagen – deshalb schätzt man ja. So ist das: Wer schätzt, weiß eben nicht. Aber die Folge der Entscheidung ist, dass jeder Wettbewerbsverletzer das Signal bekommt: Das ist eine super Möglichkeit, die Konkurrenz plattzumachen. Suche Dir ein angeschlagenes Unternehmen und übernimm die Mannschaft. Einen Schaden können die nie zusammenrechnen. Funktioniert tatsächlich. Wie man sieht.
Das hat nichts mit dem oft diskutierten Ruf nach sog. Strafschäden zu tun, den es in den USA gibt (punitive damages) – obwohl man schon gerne hören würde, was eine Jury da drüben zugesprochen hätte. Es ist einfach Ausdruck einer falschen Zurückhaltung – oder eines falschen Blicks – gegenüber vermeintlich undurchschaubaren Materien: Das Wirtschaftsleben, ja, die Bilanz des Unternehmens sind nun einmal keine juristisch sauber zerlegten Lebenssachverhalte. Sie sind Kuddelmuddel. Klar – vielleicht waren ein paar der Abgeworbenen Pfeifen, die man wegen tariflicher Bestimmungen nie hätte feuern können, so dass man Bilfinger noch dankbar sein kann. Aber ändert das etwas am Schaden? Nein.
§ 287 ZPO wird an anderer Stelle gerne strapaziert. Er wird zum Beispiel fehlerhaft eingesetzt, um Lücken in Allgemeinverbindlicherklärungen zu füllen (24.01.1979 – 4 AZR 377/77). Da heißt es dann auf einmal, die Lückenhaftigkeit, ja Bruchstückhaftigkeit der Informationen sei nicht schädlich – dabei geht es da nur um das Abzählen von Arbeitnehmern, nicht um einen Schadensersatz. Das verstehe, wer will.
Das BAG hat eine Riesenchance vergeben. Sowohl im Wettbewerbsrecht als auch im Schadensrecht. Das Signal, dass man Schadensersatzansprüche auch fürchten muss, wenn man sich sicher sein kann, das der Gegner sie nicht richtig ausrechnen kann, hätte eine ähnliche Wirkung wie der Internationale Strafgerichtshof: Ihr werdet nicht davon kommen. So ist eine der schlimmsten Geschäftspraktiken weiter sanktionslos. Dabei gibt es gerade im gewerblichen Rechtsschutz eine Variante der Differenzhypothese, die hier völlig unter den Tisch fiel, allerdings auch nur einen Teil des Schadens eingebracht hätte: Die sog. Lizenzberechnungsmethode. Idee: Wenn einer z.B. Unterlagen und Kundendatenbanken mitgehen lässt, muss er eine fiktive Straflizenz zahlen. Das ist der zu ersetzende Schaden. Das funktioniert sogar – was kritisiert wird – in Fällen, in denen fast sicher feststeht, das ein konkreter Schaden gerade nicht entstanden ist (während in unserem Fall das Gegenteil feststand). Hier hat sich diese Mühe niemand gemacht – trotz der mitgenommenen Software, Datenbanken und Laptops.
Schade eigentlich.