Oder: Vom Glück, in der Arbeitsgerichtsbarkeit beheimatet zu sein.
Udo Vetters Law Blog berichtet hier über das löblichste Gesetzespaket der jüngeren Zeit. 1.200 EUR pauschaler Schadensersatz für jedes Jahr, in dem der Prozess verschleppt wurde.
Geschaffen ist das fürs Strafrecht. OK. Wen betrifft das zumindest psychisch noch so, habe ich mich gefragt. Und bin in der eigenen Kanzlei fündig geworden. Aber der Fall spielt im „normalen“ Zivilrecht. Gottseidank. Der Fall selbst ist das einzig normale am Prozess.
Man kann die Schuldigen ruhig beim Namen nennen, denn es handelt sich um eine Posse, die fast ein Skandal ist. Im Jahr 2008 wird beim Amtsgericht Gotha (GOTHA! GOTHA! GOTHA!) eine Schadensersatzklage aus einem Autoverkauf eingereicht. Es liegen bereits zwei Privatgutachten vor. In der mündlichen Verhandlung, die schon im September 2009 stattfindet, werden beide Sachverständige zu ihren Gutachten gehört.
Den Parteien wird zu einem Aspekt noch einmal eine Schriftsatzfrist eingeräumt. Die Schriftsätze sind fristgerecht da. Das Gericht beraumt einen neuen Verhandlungstermin an.
Dann hebt es ihn kurz vorher aus dienstlichen Gründen auf und beraumt einen neuen an.
Dann hebt es ihn kurz vorher aus dienstlichen Gründen auf und beraumt einen neuen an.
Dann hebt es ihn kurz vorher aus dienstlichen Gründen auf und beraumt einen neuen an.
Dann hebt es ihn kurz vorher aus dienstlichen Gründen auf und beraumt einen neuen an.
Dann hebt es ihn kurz vorher aus dienstlichen Gründen auf und beraumt erst einmal keinen neuen mehr an, sondern will „von Amts wegen“ terminieren.
Anfang 2011 schriftliche Beschwerde an das Amtsgericht.
Kein Schreiben des AG-Direktors, sondern Anruf der zuständigen Richterin, die bei der Beweisaufnahme noch männlich war und anders hieß (gut, dass man das auch erfährt). Man wolle sich drum kümmern. Schon im Mai 2011 der Termin, der auch stattfindet, aber mit 2 Stunden Verspätung. Um zu sagen, man finde die Klage wohl aus einem sehr konkreten Grund zu 90% unbegründet, zu 10% unschlüssig. Gesprächsbedarf sei nicht, man werde ein Urteil machen.
Darauf freue man sich, sagt der eine Anwalt, während der Gegenanwalt nickt und die Sachen packt. Wann man das Ergebnis definitiv abfragen könne?
„Ich mache natürlich einen Verkündungstermin“
Einem Anwalt platzt der Kragen.
„Kennen Sie § 310 ZPO?“
„Ich lasse mir von ihnen meine Arbeit nicht erklären!“
„Sie sagen doch, die Sache ist ohne Frage entscheidungsreif. Wir hoffen seit drei Jahren auf eine gerichtliche Klärung. Dann kann man sie doch jetzt verkünden.“
„Ich mache einen Verkündungstermin.“
Der Gegenanwalt winkt ab. Auf dem Gang meint er: „Kennen wir von hier. Gotha ist ein einziger Justizskandal.“
Aha. Insiderwissen.
Der so belehrte Anwalt erhält schon nach drei Wochen das Protokoll der Verhandlung und damit nach fast zwei Jahren das erste in der Sache dienliche Schriftstück vom Gericht. Darin steht ein Verkündungstermin – am ungelogen 13. September 2011!
§ 310 ZPO lautet:
„…(1) Das Urteil wird in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, oder in einem sofort anzuberaumenden Termin verkündet. Dieser wird nur dann über drei Wochen hinaus angesetzt, wenn wichtige Gründe, insbesondere der Umfang oder die Schwierigkeit der Sache, dies erfordern…“
Schwierig und umfangreich sind dehnbare Begriffe. Zumal in Gotha. Schön. Gut zu wissen.
Vermutlich braucht die zuständige Richterin so lange, um zu begründen, dass es auf die Beweisaufnahme nicht ankam, denn bei der war ja noch ein anderer Richter anwesend, jedenfalls wenn man Mutationen und Namenswechsel ausschließt. § 309 ZPO:
„…Das Urteil kann nur von denjenigen Richtern gefällt werden, welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben…“
Am 13. September wird der Versuch einer telefonischen Ergebnisabfrage vorgenommen. Die Akte sei bei der Richterin.
Eine Woche später ist die Akte immer noch dort.
Eine Woche später gibt es einfach nur so kein Ergebnis.
Heute ist der 4.10.2011. Es gibt kein Protokoll und kein Ergebnis, das man telefonisch abfragen kann.
Im September 2009 – als die Beweisaufnahme beim AG Gotha stattfand – haben wir einen Kündigungsschutzfall begonnen, über den wir partiell auch berichtet haben (hier). Anders als beim AG Gotha, die es immerhin mit Kaufrecht zu tun hatten, ging es um solche Lappalien wie
- Die Verfassungswidrigkeit von Teilen des PersVG Berlin
- Das Demokratieprinzip im GG
- Die Frage, wie man ohne gesetzliche Regelung eine Einigungsstelle zu rechtskonformem Verhalten anhält
- Und, nebenbei, eine Kündigung.
Die Kündigungsschutzklage haben die anderen eingereicht, aber um das Menü oben abzufrühstücken, haben wir uns durch die arbeitsgerichtliche, landesarbeitsgerichtliche und bundesarbeitsgerichtliche Instanz gearbeitet, letztere war im Januar 2011 schon fertig (!), als das AG Gotha noch „von Amts wegen terminieren“ wollte (Urteil vom 27.1.2011, 2 AZR 744/09). Außerdem war parallel ein Beschlussverfahren gegen – Entschuldigung: unter Beteiligung von – Personalrat und Einigungsstelle anhängig, das durch Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht ging. Letzteres hatte sich bereits am 4.06.2010 abschließend zum Fall geäußert (Beschluss vom 4.6.2010 – 6 PB 4/10, da schlief Gotha noch fest) und so einen Weg erfunden, der gegen ein verfassungswidriges Gesetz doch noch Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet.
Weil es keine Einigungen gab, wurde dann noch einmal eine Kündigung ausgesprochen; deren erste Instanz neigt sich dem Ende zu.
Und in Gotha gibt es noch kein Ergebnis.
Wird es vielleicht auch nie geben.
Wer entschädigt so was?