Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
10.05.2013

Krank = behindert?

Häufige Frage auch erfahrener Arbeitgeber: Mein Arbeitnehmer ist zurzeit „krankgeschrieben“. Kann ich ihm trotzdem eine Kündigung zustellen. Antwort: Ja, wieso nicht? Dagegen gibt es kein Gesetz.

Ändert die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs mit dem schönen Namen Ring/ Dansk almennyttigt Boligselskab – C‑335/11 vom 11.04.2013 daran etwas? Nein, aber passen Sie auf, dass “Ihre” Kranken nicht eigentlich behindert sind.

Interessiert?

Sie wissen, dass eine Vielzahl von Gesetzen Menschen mit Behinderungen schützen. Schon länger fragt man sich – nicht zuletzt motiviert durch das AGG – was eine Krankheit eigentlich von einer Behinderung unterscheidet. Ist jede krankheitsbedingte Kündigung (das ist ein deutsches Phänomen: Es ist ein besonderer Kündigungsgrund, wenn Sie zu lange oder zu oft krank sind; andere finden das normal, wir haben eine eigene Dogmatik dafür) jetzt eine Diskriminierung Behinderter?

Die Frage hat philosophischen und rechtlichen Tiefgang. Diskriminierungen Behinderter sind z.B. verboten (§ 1 AGG). Kann dann ihre Kündigung erlaubt sein? Wann ist ein Kranker „behindert“?

„Wir“ – in Deutschland, also das BAG – finden (grob betrachtet) bislang, dass Krankheiten Behinderungen sind, wenn sie länger als 6 Monate andauern (BAG, Urteil vom 22. 10. 2009 – 8 AZR 642/08 ). Das ist sicher ein bisschen willkürlich, schafft aber klare Verhältnisse. Im Einzelfall muss man es vielleicht nivellieren: Ich habe drei Jahre an ebenso vielen Bandscheiben laboriert, aber der Zustand ist heilbar. Behindert auf Zeit oder nicht – wenn an das nur genau wüsste.

Der EuGH findet, dass man sich nicht auf einen Zeitraum festlegen darf, dass

„…der Begriff „Behinderung“…dahin auszulegen ist, dass er einen Zustand einschließt, der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die …den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben…hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. [Unsere Hervorhebungen]

Aber in der Tat – trotz dieser offenen Formulierung ist das eher eine Annäherung an das BAG als eine Bedrohung „unserer“ Rechtslage. Denn auch in Deutschland gilt, dass die krankheitsbedingte Kündigung ein letztes Mittel ist, weil man dem Arbeitgeber nicht zumuten kann, ohne adäquate Gegenleistung ein Arbeitsverhältnis zu unterhalten. Und ihm ermöglichen will, jemand anderen einzustellen. Und da wird es interessant. Denn der EuGH gibt sich unternehmerfreundlich; dazu muss man wissen, dass der Ausgangsfall aus Dänemark kam und dort herrschen klare Verhältnisse. 120 Tage krank – zack, Kündigung. Ist das jetzt diskriminierend gegenüber länger kranken Mitarbeitern?

Die dänische Regierung meinte, das schaffe Arbeitsplätze, weil Arbeitgeber sich nicht fürchten müssten, an kranke Menschen vertraglich gekettet zu werden. Dazu prägt der EuGH folgenden denkwürdigen Satz:

Angesichts des weiten Wertungsspielraums, der den Mitgliedstaaten…zusteht, erscheint ihre [der dän. Regierung, Anm. des Autors] Auffassung, dass eine Maßnahme wie die 120-Tage-Regel des § 5 Abs. 2 FL zur Erreichung der vorgenannten Ziele angemessen sein kann, nicht unvernünftig.

Mehr Lob kann es von einem Gericht nicht geben. „Nicht unvernünftig“ also diese Überlegung.

Deshalb glauben wir nicht, dass diese Entscheidung allzu große neue Schlachtfelder eröffnen wird. Schon gar nicht ist das ein “Fingerzeig für den deutschen Gesetzgeber”. Krank und behindert, das lässt sich abgrenzen. Nicht unvernünftig. Wirklich.