Wann liegt eine Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vor? Wann nicht? Unser Gastautor Rainer Wanderer ist arbeitsrechtlicher Berater in der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien, Österreich, und Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Arbeitsrecht; in seinem Gastbeitrag auf reuter-arbeitsrecht.de, für den wir ihm an dieser Stelle noch einmal danken möchten, untersucht er die gleichbehandlungsrechtlichen Fragen, die durch das „Kopftuchurteil“ des Arbeitsgerichts Berlin angerissen, aber keineswegs ausdiskutiert sind. Rainer Wanderer berät jährlich um die 1.000 Arbeitnehmer in allen Fragen des Arbeitsrechts und verfügt demgemäß über einen enormen Erfahrungsschatz. Der Leser wird leicht feststellen, dass Diskriminierungsrecht in Österreich über ein fast noch facettenreicheres Leben als in Deutschland verfügt.
Durch das Urteil Urteil vom 28.03.2012 – 55 Ca 2426/12 des Berliner Arbeitsgerichts (dazu „Alles Kopftuch“ vom 18.10.2012) wurde eine Zahnarztpraxis zu einer Entschädigungszahlung in der Höhe von 1.470 Euro verpflichtet. Müssen Betriebe aufgrund des AGG nun jedes auffällig sichtbare Symbol oder Kleidungsstück akzeptieren, wenn der betreffende Arbeitnehmer dies als wichtigen Bestandteil seiner Religion oder Weltanschauung definiert? Alternativ bietet sich richtigerweise auch in der privaten Arbeitswelt das konsequente optische Neutralitätsprinzip als sehr sinnvolle diskriminierungsfreie Unternehmensphilosophie an.
Religion und Weltanschauung sind Privatsache. § 1 AGG setzt sich zum Ziel Benachteiligungen aus diesen Gründen zu verhindern bzw. zu beseitigen.
In der Praxis entstehen Konfliktfälle beinahe ausschließlich dann, wenn Arbeitnehmer nicht nur ganz im Privaten nach einer Religion oder Weltanschauung leben wollen, sondern darüber hinaus aufgrund des Bekenntnisses zu einer Religion oder Weltanschauung auch auffällig sichtbare Symbole oder Kleidungsstücke am Arbeitsplatz tragen möchten. Eine ausgeprägte Judikatur gibt es auch in Österreich zu dieser Rechtsfrage derzeit noch nicht. In den Betrieben sind häufig Menschen mit ganz unterschiedlichen religiösen oder weltanschaulichen Hintergründen zusammengewürfelt. Aufgrund des Gleichbehandlungsrechts ist es erforderlich, einen Interessenausgleich zwischen unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen zu finden, welcher dem Antidiskriminierungsgedanken entspricht.
Was dies in Bezug auf deutlich sichtbare religiöse und weltanschauliche Zeichen am Arbeitsplatz bedeuten kann, sei anhand der folgenden Praxisbeispiele dargestellt. Diese stammen größtenteils aus der realen österreichischen arbeitsrechtlichen Beratungspraxis bzw wurden sie tatsächlich existierenden Rechtsfällen in Österreich und Deutschland nachgebildet. Die gleichbehandlungsrechtlichen EU-Vorgaben wurden in beiden Staaten in nahezu analoger Weise umgesetzt.
Praxisfall 1:
Frau Fatma F. ist Muslimin und trägt bei ihrer Arbeit in einem türkischen Spezialitätengeschäft ein Kopftuch. Dies geschieht sogar auf ausdrücklichen Wunsch ihres Arbeitgebers Herrn Mehmet M. Wie in einer steigenden Zahl von türkischen Supermärkten in deutschen Großstädten üblich, hat Herr Mehmet M. seit Eröffnung seines Ladens vor über zehn Jahren immer nur kopftuchtragende Frauen bei sich angestellt. Herr Simon S. ist hingegen Jude und bewirbt sich bei diesem Unternehmen. Herrn Simon S. wird von Herrn Mehmet M. mitgeteilt, dass er privat mit zahlreichen Juden befreundet sei und daher große Sympathie für Angehörige dieses Religionsbekenntnisses empfinde. Einen Verkäufer mit Kippa könne er jedoch nicht einstellen. Seine Kundschaft bestehe fast ausschließlich aus strenggläubigen türkischen Moslems, welche anderen Religionen gegenüber leider nicht so aufgeschlossen seien wie er selbst. Umsatzeinbußen wären zu befürchten.
Nach § 3 Abs 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person. Das Verhalten von Herrn Mehmet M. gegenüber Herrn Simon S. stellt eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion dar. Herr Simon S. wurde aufgrund seiner religiösen Kopfbedeckung von Herrn Mehmet M. offenkundig weniger günstig behandelt als Frau Fatma F. aufgrund ihrer religiösen Kopfbedeckung. Sind in einem Unternehmen religiöse Kleidungsstücke zugelassen, muss nach dem Gleichbehandlungsgedanken des AGG “gleich viel” für alle Bekenntnisse erlaubt sein.
Praxisfall 2:
Eine Pharmafirma sucht zwei neue Mitarbeiter. Die zwei am besten qualifizierten Bewerber sind Frau Maria M. und Frau Emine E. Frau Maria M. ist Katholikin. Sie trägt eine Halskette mit einem sehr auffälligen Marienbildnis. Frau Emine E. ist Muslimin und Kopftuchträgerin. Frau Maria M. wird eingestellt. Frau Emine E. erhält hingegen eine Absage mit der Begründung, dass das Tragen von Kopfbedeckungen im Dienst gemäß Hausordnung generell verboten sei. Grund dafür sei, dass immer mehr junge Mitarbeiter während der Arbeitszeit Baseball-Kappen tragen wollen. Das missfalle dem Vorstand verständlicherweise. Die Hausordnung gelte für alle Angestellten gleichermaßen und sei überhaupt nicht gegen irgendeine Religion gerichtet.
Das Verhalten der Pharmafirma gegenüber Frau Emine E. stellt eine mittelbare Benachteiligung iSd § 3 Abs 2 AGG dar. Durch die dem Anschein nach neutrale Bekleidungsvorschrift in der Hausordnung wird Frau Emine E. als gläubige Muslimin besonders benachteiligt, als Ausdruck ihrer Religiosität ein Kopftuch zu tragen. Hingegen hindert die Hausordnung Frau Maria M. als Katholikin nicht daran, ihr religiöses Bekenntnis durch ein sichtbares Zeichen zum Ausdruck zu bringen.
Praxisfall 3:
In einer Werbeagentur arbeiten bereits fünf Beschäftigte, welche privat ganz unterschiedlichen Religionen bzw Weltanschauungen anhängen. Keiner dieser Beschäftigten trägt allerdings während der Arbeitszeit sichtbare religiöse oder weltanschauliche Zeichen. Aufgrund guter Umsätze sollen zwei neue Mitarbeiter eingestellt werden. Die Unternehmensleitung entscheidet sich schließlich für zwei Berufsneulinge, welche ohne Symbole mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug zum Bewerbungsgespräch erschienen sind. Deren private religiöse oder weltanschauliche Auffassungen waren im Auswahlverfahren überhaupt kein Thema.
Frau Maria M. und Frau Emine E. aus dem Praxisfall 2 haben sich auch bei dieser Firma beworben und waren aufgrund einschlägiger Berufserfahrung die Bestqualifizierten.
Sowohl Frau Maria M. als auch Frau Emine E. stellten gleich beim Vorstellungsgespräch unmissverständlich klar, dass die Halskette mit Marienbildnis bzw das Kopftuch keine Marotten sondern wichtiger Ausdruck ihrer gelebten Religiosität seien. Ein Kompromiss oder gar Verzicht auf diese religiösen Zeichen komme daher nicht infrage. Es handle sich dabei um die unmittelbare Ausübung des Grundrechts auf freie Religionsausübung nach Art 9 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
Die Unternehmensleitung der Werbeagentur teilte schließlich sowohl Frau Maria M. als auch Frau Emine E. mit, dass man unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von Arbeitnehmern voll respektiere und als Bereicherung betrachte. Zurückhaltung mit eigenen religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen aus Rücksichtnahme auf andersdenkende Mitarbeiter und Kunden am Arbeitsplatz sei aber Bestandteil der Unternehmensphilosophie. Daher komme eine Einstellung trotz sehr guter Qualifikation aufgrund der auffälligen religiösen Symbole nicht infrage.
Das Verhalten der Werbeagentur gegenüber den beiden abgewiesenen Bewerbern stellt weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Diskriminierung nach dem AGG dar. Niemand wird von der Werbeagentur gem § 7 AGG gerade aufgrund seiner Religion oder Weltanschauung weniger günstig behandelt. Das von der Unternehmensleitung gewünschte optische Neutralitätsprinzip wirkt sich auf alle Religionen und Weltanschauungen tatsächlich gleich aus und ist daher nicht diskriminierend. Dem Gleichbehandlungsgedanken ist in Bezug auf deutlich sichtbare religiöse und weltanschauliche Zeichen sowohl durch “gleich viel” (siehe Praxisfälle 1 und 2) als auch “gleich wenig” entsprochen. Da kein Diskriminierungstatbestand gegenüber Frau Maria M. und Frau Emine E. verwirklicht wurde, erübrigt sich die Prüfung, ob einer der Ausnahmetatbestände bzw. Privilegierungen des AGG erfüllt ist, welcher eine Diskriminierung rechtfertigen würde.
Richtig ist allerdings der Einwand von Frau Maria M. und Frau Emine E., dass eine Berührung mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf freie Religionsausübung gem Art 9 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliege. Von diesem Grundrecht sind auch Kleidungsstücke, Haartracht sowie Zeichen und Symbole umfasst, die mit einer Religion assoziiert werden.
Jedoch vertritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Rechtsprechung zur freien Religionsausübung nach Art 9 EMRK kein Absolutheitsprinzip:
Seit 2. 9. 2004 ist es in Frankreich auch Schülern im öffentlichen Unterricht gesetzlich untersagt, auffallende religiöse Symbole zur Schau zu stellen, nachdem dies für Lehrer bereits seit 1905 verboten war.
Der EGMR hat in den Urteilen Dogru und Kervanci gegen Frankreich (EGMR-Beschwerden Nr 27058/05 und 31645/04, beide vom 4. 12. 2008) Folgendes erkannt:
Die Beschwerdeführerinnen sind Musliminnen. Nachdem sie wiederholt erfolglos aufgefordert worden waren, im Turnunterricht ihr Kopftuch abzunehmen, wurden sie aus der Schule ausgeschlossen, weil sie am Turnunterricht nicht aktiv teilgenommen und damit ihre schulischen Verpflichtungen verletzt hätten. In ihren Beschwerden an den EGMR rügten sie die Verletzung von Art 9 EMRK (Religionsfreiheit) und Art 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf Bildung).
Für den Gerichtshof ist offensichtlich, dass ein Eingriff in die Religionsfreiheit vorliegt, dieser gesetzlich vorgesehen ist und mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung sowie der Rechte und Freiheiten anderer legitime Anliegen verfolgt. In einer demokratischen Gesellschaft könne es sich für das Zusammenleben als notwendig erweisen, die Religionsfreiheit einzelner Gruppierungen einzuschränken, um die Interessen der verschiedenen Glaubensrichtungen auszugleichen. Die innerstaatlichen Entscheidungsträger würden gerade in derart kontroversen Bereichen über einen erheblichen Entscheidungsspielraum verfügen. Der Eingriff in die Religionsfreiheit sei nicht nur aus Gründen der Sicherheit und der Gesundheit erfolgt. Er treffe alle Schülerinnen und Schüler unterschiedslos und bezwecke generell, die Laizität der staatlichen Schulen aufrechtzuerhalten. Letztere sei in Frankreich genauso wie in der Türkei oder der Schweiz ein zentraler, von breitem Konsens getragener Verfassungswert, dessen Verteidigung vorrangig sei. Es liege keine Verletzung von Art 9 EMRK vor (einstimmig). Eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK erfolgte nicht.
Analog hat der EGMR in dem Urteil Sahin gegen die Türkei (EGMR-Beschwerde Nr 44774/98 vom 10. 11. 2005) entschieden. Die Abweisung einer kopftuchtragenden Medizinstudentin von der Universität Istanbul sei EMRK-konform.
Das staatliche Prinzip von Säkularismus und Neutralität, das EMRK-Unterzeichnerstaaten wie Frankreich, Tschechien, die Schweiz und die Türkei konsequent verfolgen, verfügt also bereits über ein mehrfaches Gütesiegel des EGMR. Es bietet sich folglich auch als sehr sinnvolle Unternehmensphilosophie im Arbeitsrecht an, um sowohl einen religiösen und weltanschaulichen Interessenausgleich im Betrieb als auch die Erfüllung des Gleichbehandlungsgedankens gem AGG zu garantieren.
Keine Religion oder Weltanschauung kann für sich in Anspruch nehmen, dass gerade ihre sichtbaren Zeichen wichtiger oder höherwertiger seien als jene anderer weltanschaulicher Richtungen. Die Argumentation, dass eine bestimmte Religion oder Weltanschauung durch die Verwirklichung des Gleichbehandlungsgedankens im Sinne von “gleich wenig” sichtbaren Symbolen am Arbeitsplatz aufgrund des Neutralitätsprinzips mehr betroffen und damit stärker benachteiligt sei, wäre eine diskriminierende Anmaßung und geht daher ins Leere. Richtig ist, dass in Frankreich durch das 2004 auch für Schüler eingeführte Verbot, religiöse Überzeugungen auffällig sichtbar zu machen, sicher zahlenmäßig die islamische Glaubensgemeinschaft am meisten betroffen war. Von der ursprünglichen Einführung desselben Verbots für Lehrer im Jahr 1905 waren jedoch wiederum in erster Linie Christen erfasst. Welches religiöse oder weltanschauliche Zeichen gerade quantitativ im Vordergrund steht und populär ist, hängt immer von gesellschaftlichen Trends ab. Statistisch liegt bei den arbeitsrechtlichen Beratungsfällen zum AGG derzeit sicher das islamische Kopftuch an erster Stelle. Wäre in den 1970er-Jahren das Gleichbehandlungsrecht bereits in Kraft gestanden, hätte sich gewiss ein ganz anderes Bild ergeben. Marxistische weltanschauliche Symbole (Roter Stern, Che-Guevara-Shirts) hätten im Sog der 1968er-Bewegung für weit mehr Diskussionsstoff gesorgt als religiöse Kleidungsstücke. Vom Grundsatz her kann das religiöse und weltanschauliche Neutralitätsprinzip weder im Staatsrecht noch im Arbeitsrecht diskriminierend sein, sondern es betrifft alle gleichermaßen.
Praxisfall 4:
Frau Magdalena M. ist Versicherungsjuristin und praktizierende Katholikin. Sie ist schon lange aktive Mitarbeiterin in einer Münchner Pfarre. Während ihrer mutterschaftsbedingten Karenz hat sie sich verstärkt dem Marienkult zugewendet. Bei ihrer Rückkehr in den Betrieb nach ihrer Babypause erscheint sie daher mit einer 50 cm großen handgeschnitzten und -bemalten Madonnenfigur, die sie auf ihrem Schreibtisch aufstellt. Aufgrund ihres starken Glaubens an die Mutter Gottes seien ihre Religiosität und diese Statue eine untrennbare Einheit.
Seitens der Personalabteilung wird vorgebracht, dass im Unternehmen seit Langem das ungeschriebene Gesetz gelte, die eigene Religion und Weltanschauung nicht auffällig nach außen zu tragen. Respekt vor anderen Meinungen bei Kunden und Kollegen verlange religiöse Selbstbeschränkung.
Dem entgegnet Magdalena M., dass sie das Recht ganz auf ihrer Seite wisse. Als Juristin kenne sie natürlich die einschlägige Judikatur. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts BAG 10. 10. 2002, 2 AZR 472/01 habe zwar eine andere Religionsgemeinschaft betroffen. Die zugrunde liegende Rechtsfrage stimme aber mit ihrem Fall völlig überein. Es sei erkannt worden, dass es unmaßgeblich sei, ob ein religiöses Symbol ein zwingendes Gebot darstelle. Das Verhalten müsse auch nicht allgemein von anderen Angehörigen einer Religionsgemeinschaft geteilt werden. Es sei dem Einzelnen überlassen, welche Symbole er anerkenne oder verwende.
Bei der besagten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts BAG 10. 10. 2002, 2 AZR 472/01zur Kündigung einer kopftuchtragenden Verkäuferin durch ein Kaufhaus handelte es sich nicht um ein Judikat aus dem europäischen Gleichbehandlungsrecht, sondern aus dem deutschen Kündigungsschutzrecht. Das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist erst im Jahr 2006 in Kraft getreten. Nach dem deutschen Kündigungsschutzgesetz (KschG) sind Kündigungen in Mittel- und Großbetrieben begründungspflichtig und bedürfen einer Abwägung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen.
Das AGG und das KschG verfolgen ganz unterschiedliche Schutzzwecke. Folglich kann eine getroffene Einzelfallabwägung in einem höchstgerichtlich entschiedenen deutschen Kündigungsschutzrechtsfall keinesfalls zu einem generellen Leitsatz des europäischen Gleichbehandlungsrechts erklärt werden.
Das KSchG ist primär sozialen Gesichtspunkten verpflichtet und soll Arbeitnehmer vor den Härten einer Arbeitgeberkündigung schützen. Das AGG hingegen normiert gleichen Respekt vor allen religiösen und weltanschaulichen Strömungen und ist daher stets im Sinne eines angemessenen religiösen und weltanschaulichen Interessenausgleichs auszulegen.
Daher kann sich der Regelungszweck des AGG nicht in der grenzenlosen Förderung von deutlich sichtbaren Symbolen einzelner religiöser oder weltanschaulicher Strömungen am Arbeitsplatz erschöpfen. Ein absoluter Vorrang jener Interessen der in religiöser bzw weltanschaulicher Sicht jeweils optisch auffälligsten Person in einem Betrieb widerspräche diesem Gleichbehandlungsideal des AGG eklatant. Toleranz und Respekt sind keine Einbahnstraßen. Diese Werte können von Personen wie Frau Magdalena M., deren Religion oder Weltanschauung sich in auffällig sichtbaren Symbolen manifestiert, nicht nur eingefordert werden, sondern sie müssen im Gegenzug auch für die mögliche Berührung von Persönlichkeitsrechten anderer Menschen aufgebracht werden.
Als Katholikin gilt für Frau Magdalena M. das Recht auf freie Religionsausübung gem Art 9 EMRK. Grundsätzlich ist es auch Frau Magdalena M. selbst überlassen zu entscheiden, welche sichtbaren Zeichen der Religionsausübung sie verwendet. Dieses Prinzip gilt uneingeschränkt jedoch nur für den ganz privaten Bereich. Für ihre berufliche Rolle erscheint ein Verbot des Arbeitgebers gegenüber Frau Magdalena M., die Madonnenstatue am Schreibtisch auch während des Kundenverkehrs aufstellen, im Sinne der bereits im Rahmen des Praxisfalls 3 dargestellten Judikatur des EGMR als angemessene Einschränkung der freien Religionsausübung, welche auch nicht diskriminierend ist. Die Münchner Wohnbevölkerung besteht auch aus einer stetig steigenden Anzahl von Konfessionslosen und Moslems. Auch diese und andere Bevölkerungsgruppen werden erwartungsgemäß unter den Versicherungskunden repräsentiert sein. Das Unternehmen hat ein legitimes Interesse daran zu verhindern, dass sich die nicht katholische Klientel durch eine aufdringliche religiöse Symbolik weniger ernst genommen oder gar missioniert fühlen könnte.
Praxisfall 5:
Frau Arife A. ist Muslimin und bewirbt sich bei einem Kebab-Stand. Für den Inhaber Herrn Osman O. ist es bei der Einstellung zunächst überhaupt kein Problem, dass Frau Arife A. Kopftuchträgerin ist. Allerdings ist Frau Tülay T., die schon bisher bei Herrn Osman beschäftigte Buffetkraft, über diese Personalentscheidung empört. Frau Arife A. trage ihr Kopftuch fest gebunden, weit ins Gesicht sowie eng um den Hals gezogen. In dieser Form habe das Kopftuch in der Türkei weder religiöse noch folkloristische Tradition, sondern sei einzig und allein ein politisches Symbol der seit 2002 regierenden AKP. Frau Tülay T. teilt Herrn Osman O. mit, dass sie seit ihrer Jugendzeit eine glühende Anhängerin der großen türkischen Oppositionspartei CHP sei, welche die Weltanschauung des Kemalismus vertritt. Strikter Säkularismus sei ein zentrales Ideal des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk gewesen. Durch die von Frau Arife A. zur Schau gestellte politische Symbolik fühle sie sich provoziert. Sie werde nun im Gegenzug jene kemalistische Flagge im Kebab-Stand aufhängen, welche sie auf der Großdemonstration in Ankara am 17. 5. 2009 zur Verteidigung der laizistischen Türkei als eine von über 100.000 Teilnehmern eigenhändig geschwungen habe. Herr Osman O. teilt daraufhin Frau Arife A. und Frau Tülay T. mit, dass ab sofort alle religiösen und weltanschaulichen Symbole in seinem Kebab-Stand verboten seien. Wer sich nicht daran halte, werde gekündigt.
Dem entgegnet Frau Arife A., dass sie von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erfahren habe, dass soeben ein richtungsweisendes „Kopftuch-Urteil“ des Arbeitsgerichts Berlin 55 Ca 2426/12 veröffentlicht wurde. Kopftuchtragen am Arbeitsplatz sei demnach in der Privatwirtschaft erlaubt, was die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sehr begrüße.
Herr Osman O. hat sich mit seinem gleichmäßigen Verbot aller religiösen und weltanschaulichen Zeichen sehr vorbildlich und keineswegs diskriminierend verhalten. Das Prinzip von “gleich wenig” sichtbarer Symbolik für alle entspricht dem Gleichbehandlungsgedanken des GlBG, der Judikatur des EGMR zu Art 9 EMRK und ist eine oft sehr salomonische arbeitsrechtliche Vorgangsweise, um den in Betrieben gebotenen Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern diskriminierungsfrei herbeizuführen. Keinesfalls kann Frau Arife A. für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Überzeugung und ihre Kopfbedeckung schutzwürdiger sind als die Standpunkte und Symbolik von Frau Tülay T. Das würde dem Gleichbehandlungsprinzip fundamental widersprechen.
Die in 55 Ca 2426/12 vertretene Einschätzung ist zu kurz gegriffen, wonach es sich bei der Ablehnung des Kopftuchs immer nur um eine Spielart des Grundübels der Xenophobie handle, welcher durch das Gleichbehandlungsrecht jedenfalls entgegenzuwirken sei.
Auch der deutschen Antidiskriminierungsstelle des Bundes sei dringend angeraten ihre Stellungnahmen in der „Kopftuchfrage“ wesentlich differenzierter zu gestalten und auf die gebotene religiöse bzw. weltanschauliche Unparteilichkeit zu achten. Es ist zu beobachten, dass das Gleichbehandlungsrecht auch dazu missbraucht wird, um rein ideologische Ziele zu verfolgen. Gerade innerhalb der türkischen Community ist die Interessenlage höchst inhomogen.
Praxisfall 6:
Herr Friedrich N. ist Krankenpfleger und seit seiner Jugendzeit aus tiefer philosophischer Überzeugung Atheist. Er hat es immer bedauert, dass zwar die meisten Religionsgemeinschaften über allgemein bekannte Symbole verfügen, die Atheisten aber noch nicht. Im Fernsehen hat er kürzlich das große Atheisten-Outing unter dem Motto “Good Without God” vor dem Weißen Haus in Washington verfolgt. Mit großer Begeisterung lässt er sich ein T-Shirt mit dieser Aufschrift anfertigen. Nach Ablauf der Probezeit traut er sich schließlich, dieses T-Shirt auch während seines Dienstes in einem Wiener Spital anzuziehen.
Die Personalabteilung des Krankenhauses verweist daraufhin Herrn Friedrich N. auf einen kürzlich ergangenen Erlass des Wiener Krankenanstaltenverbundes zum “Tragen von Kopfbedeckungen im Arbeitskontext”. Darin heißt es ua: “Das Tragen einer Kopfbedeckung als Ausdruck gelebter Religiosität und Teil der Glaubenspraxis bringt das individuelle Bekenntnis der/des Tragenden zum Ausdruck. Dieses Bekenntnis ist zu respektieren und das Tragen zu ermöglichen.” Die Gleichbehandlungskommission (GBK) habe in ihrem Gutachten GBK II/70/08 diesen Erlass ausdrücklich gelobt und zur Schaffung eines diskriminierungsfreien Arbeitsumfeldes auch anderen Unternehmen empfohlen. Folglich entspreche dieser Erlass ganz sicher den Auflagen des Antidiskriminierungsrechts. Für das Tragen eines T-Shirts zum Ausdruck der gelebten Konfessionslosigkeit lasse sich daraus jedoch keine Rechtsgrundlage ableiten. Außerdem müsse auf andere religiöse Ansichten vor allem unter den Patienten Rücksicht genommen werden. Herr Friedrich wendet ein, dass seit geraumer Zeit eine kopftuchtragende Ärztin im Spital arbeite, bei welcher die möglichen Patientenmeinungen kein Thema waren.
Es ist tatsächlich unverständlich, wie die österreichische Gleichbehandlungskommission (GBK) in GBK II/70/08(veröffentlicht auf der Website des österreichischen Bundeskanzleramts) zur Auffassung gelangen konnte, dass der Bekleidungserlass “Tragen von Kopfbedeckungen im Arbeitskontext” des Wiener Krankenanstaltenverbunds besonders gut dem Gleichbehandlungsgedanken des GlBG entspreche. Keinesfalls darf sich die Begutachtungsarbeit der GBK zu einer reinen Lobbyingtätigkeit für die erfolgreiche Etablierung nur eines ganz bestimmten sichtbaren religiösen Zeichens am Arbeitsmarkt entwickeln. Das stünde in krassem Widerspruch zum Gleichbehandlungsideal des Gleichbehandlungsrechts.
In Wahrheit handelt es sich bei dieser Bekleidungsordnung sowohl nach deutschem als auch nach österreichischen Recht geradezu um einen Paradefall einer mittelbar diskriminierenden Regelung iSd § 3 Abs 2 AGG. Durch eine scheinbar neutrale Vorschrift wird ein religiöses Zeichen (“Kopftuch”) privilegiert, während alle anderen weltanschaulichen Symbole oder religiösen Ausdrucksmittel, die nicht auf dem Kopf getragen werden, ignoriert und damit benachteiligt werden.
Richtig ist, dass auch für den Atheismus der Weltanschauungsschutz gilt. Die Weltanschauung ist nicht der “kleine Bruder der Religion” (Thüsing). Die Konfessionslosen sind laut aktueller Volkszählung die mit Abstand zweitgrößte Gruppe nach Religionszugehörigkeit in Wien. Wenn in einem Unternehmen ein primär auf Muslime als drittgrößte Gemeinschaft zugeschnittener Bekleidungserlass geschaffen wurde, muss nach dem Gleichbehandlungsgedanken des GlBG im Sinne von “gleich viel” auch der zweitgrößten Bevölkerungsgruppe der Bekenntnislosen ein Recht auf sichtbare Zeichen und Symbole am Arbeitsplatz gewährt werden.
Praxisfall 7:
Der Zahnarzt Dr. Herrmann H. bewirbt sich bei einer Zahnambulanz in Berlin. Seit seinem Medizinstudium ist er in einer Burschenschaft aktiv. Aus weltanschaulichen Gründen möchte er auch in der Öffentlichkeit die Burschenschafter-Kappe seiner Verbindung tragen, da er diese als wichtigen Bestandteil seiner Identität und Persönlichkeit betrachte. Aufgrund des AGG müssen alle Benachteiligungen aufgrund der Weltanschauung beseitigt werden.
Beim Bewerbungsgespräch teilt der Personalverantwortliche der Zahnambulanz Herrn Dr. Herrmann H. mit, dass er grundsätzlich alle Weltanschauungen respektiere. Weltanschauung betrachte er allerdings als Privatsache, man wolle weltanschauliche Aspekte aus dem Unternehmen fernhalten. Es bestünden nicht die geringsten Zweifel an der hervorragenden fachlichen Eignung von Herrn Dr. Herrmann H. Probleme könnte das Tragen einer Burschenschafter-Kappe im Betrieb bei den eher linksalternativen Zahnarztassistentinnen auslösen. Ein Arbeitsvertrag könne daher leider nur abgeschlossen werden, wenn Herr Dr. Herrmann H. auch bereit wäre, seine Burschenschafter-Kappe im Dienst abzunehmen. Man lege im Unternehmen großen Wert auf optische Neutralität im religiösen und weltanschaulichen Sinn.
Herr Dr. Herrmann H. wendet ein, das Arbeitsgericht Berlin habe in seinem vielbeachteten „Kopftuchurteil“ 55 Ca 2426/12 erkannt, dass eine Neutralität einer Zahnarztpraxis nicht notwendig sei, wie sie sich auch aus dem Neutralitätsgesetz Berlin vom 27. Januar 2005 ergebe. Im Sinne des Gleichbehandlungsgedankens des Antidiskriminierungsrechts müsse dieser Grundsatz für alle legalen religiösen und weltanschaulichen Zeichen gelten.
Auch Aktivitäten in Burschenschaften und damit assoziierte Kleidungsstücke werden wohl unter den Weltanschauungsschutz des AGG fallen und sind daher für gleichbehandlungsrechtliche Prüfungen grundsätzlich relevant. So wurde als Beispiel für eine mögliche weltanschauliche Diskriminierung auch schon die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei genannt, was auch die kommunistische Symbolik wie Hammer-und-Sichel-Plaketten inkludieren würde. Art 14 EMRK führt politische Überzeugungen ausdrücklich unter den von dieser Konvention geschützten Merkmalen an.
Jedoch wird im vorliegenden Praxisfall das Neutralitätsprinzip als Unternehmensgrundsatz und die konsequente Verwirklichung des Gleichbehandlungsgedankens im Sinne von “gleich wenig” an religiösen bzw weltanschaulichen sichtbaren Zeichen im Betrieb gelebt. Diese arbeitsrechtliche Betriebsphilosophie findet in der EMRK-konformen französischen und türkischen Staatsdoktrin ihre Entsprechung. Eine Einschränkung der Weltanschauungsfreiheit liegt bei einem Trageverbot der Burschenschafter-Kappe zwar vor, diese erscheint aber zur Wahrung berechtigter Interessen Dritter angemessen. Der Umstand, dass auffällig sichtbare Symbole von religiösen und weltanschaulichen Strömungen negative Reaktionen auslösen können, entspricht dem in einer Demokratie herrschenden Meinungspluralismus (siehe Praxisfall 5). Es handelt sich dabei nicht zwangsläufig um Vorurteile und Stereotypen, die es zu bekämpfen gilt. Daher ist es ein legitimes Anliegen, mögliche Diskussionen über religiöse bzw weltanschauliche Symbole aussparen zu wollen.
Durch das Inkrafttreten des GlBG sollte keinesfalls ein Faustrecht für jene Personengruppen geschaffen werden, deren Religion bzw Weltanschauung sich durch besonders auffällige oder umstrittene sichtbare Zeichen manifestiert (“Burschenschafter-Kappe”). Im Rahmen des Interessenausgleichs in Unternehmen darf der Berücksichtigung vorhandener religiöser oder weltanschaulicher Standpunkte, die optisch vielleicht gar nicht nach außen getragen werden (“die linksalternativen Zahnarztassistentinnen”), kein geringerer Stellenwert beigemessen werden. Jede andere Vorgangsweise wäre antidiskriminierungsrechtlich bedenklich.
Mit dem „Kopftuch-Urteil“ des Arbeitsgerichts Berlin 55 Ca 2426/12 wurde eine Zahnarztpraxis zu einer Entschädigungsleistung von 1.470 Euro verpflichtet. Der Spruch erschien im konkreten Fall zwar menschlich verständlich, da einer sozial benachteiligten Stellenwerberin mit Migrationshintergrund wegen des Kopftuchtragens ein Ausbildungsplatz verweigert wurde. Juristisch ist diese Entscheidung allerdings höchst kritikwürdig und hält einer Verallgemeinerbarkeit nicht stand, wie dieser „Burschenschafterkappen-Fall“ veranschaulichen soll.
Gilt in einem Unternehmen das optische Neutralitätsprinzip in gleicher und konsequenter Weise gegenüber allen sichtbaren religiösen und weltanschaulichen Zeichen, dann liegt gemäß §§ 3, 7 AGG richtigerweise weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Diskriminierung vor.
Auch das für französische Schüler vorgeschriebene optisch neutrale Erscheinungsbild war objektiv nicht zwingend notwendig, in Deutschland und Österreich gibt es keine entsprechenden Vorschriften.
Privaten Unternehmen muss hinsichtlich der Entscheidung für „gleich viel“ oder „gleich wenig“ an sichtbarer Religion und Weltanschauung am Arbeitsplatz jedenfalls der gleiche Entscheidungsspielraum eingeräumt werden wie den EMRK-Unterzeichnerstaaten.
Wichtig für die breite gesellschaftliche Akzeptanz und damit die erfolgreiche Zukunft des deutschen Gleichbehandlungsrechts ist, dass keine Instrumentalisierung dieses Rechtsgebiets für Zwecke stattfindet, die eher auf eine bevorrechtete Behandlung einzelner Personengruppen hinausläuft. Dies hätte mit einem fairen Interessenausgleich auf Grundlage des Gleichbehandlungsgedankens gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen überhaupt nichts zu tun.