Plakativ? Genau darum geht es aber. In Bremen hat sich eine Konstellation ergeben, die sonst allenfalls im Hörsaal konstruiert wird. Hier ist sie in aller Tragik real.
Herr X. ist ein Sexualstraftäter. Er ist zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden, weil er seine zehnjährige Stieftochter missbraucht haben soll; so jedenfalls berichtet die Presse übereinstimmend die Vorgeschichte.
Herr X. hatte auch einen Arbeitsplatz, der gekündigt wurde. Ob wegen des Haftantritts oder erst bei seiner drohenden Rückkehr, ist den Berichten nicht eindeutig zu entnehmen. Jetzt jedenfalls ist Herr X. zwar technisch noch in Haft, aber Freigänger. Er kann also arbeiten und will auch an seinen Arbeitsplatz zurück. Im Hafen.
Die Hafenarbeiter – die bei seinem Arbeitgeber – wollen das aber nicht. Deshalb haben sie vorgestern gestreikt. Sie lehnen es ab, mit Herrn X. zu arbeiten. Der Streik war so massiv, dass der Beschäftigungsversuch abgebrochen wurde. Nur: Der Herr X., der hat einen Beschäftigungstitel. Ein Urteil des Arbeitsgerichts Bremerhaven, das den Arbeitgeber zur Weiterbeschäftigung verurteilt. Und es kann vollstreckt werden, nach § 888 ZPO über die Verhängung von Zwangsgeldern gegen den Arbeitgeber, die bis zu 25.000 EUR betragen dürfen. Oder auch: Durch Zwangshaft. Zu vollziehen, wie es so schön heißt, am Geschäftsführer.
Wäre das alles noch nicht schwierig genug, zieht der Arbeitnehmer auch nun genau diese Karte. Er betreibt die Zwangsvollstreckung. Wenn der Geschäftsführer des betroffenen Unternehmens Eurogate im Fernsehen sichtlich entgeistert meint, alle Einigungsversuche mit Herrn X. seien gescheitert, dann achten Sie mal auf das Gesicht des Betriebsratsvorsitzenden. Wer da die Zwangsvollstreckung betreibt und sich bei diesem Mann – der deutlich sichtbar Hafenarbeiter und noch deutlich sichtbarer besorgt ist – anhört, er befürchte „Übergriffe“, dann würde ich das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ehrlich. Gestreikt haben 300 Kollegen und wenn die so ähnlich aussehen wie ihr Betriebsratsvorsitzender, dann würde ich den Wink mit dem Zaunpfahl einfach ernst nehmen. Und nicht mehr hingehen.
Aber natürlich ist das nicht so einfach. Der Herr X. ist nicht nur bestraft, sondern soll auch resozialisiert werden und es liegt auf der Hand, dass das mit Job bessere Aussichten als ohne hat. Es melden sich bereits Rechtsexperten zu Wort, die „das Verhalten des Unternehmens kritisieren“.
Alle diese Experten sind Strafrechtsfachleute. Der Betrieb hat aber (auch) ein vorrangiges Arbeitsrechtsproblem: Wenn 300 Leute die Arbeit hinwerfen, kostet das eine Menge Geld. Und wenn 300 Leute sich teils aggressiv-kämpferisch gegen einen Mitarbeiter stellen, dann ist der Betrieb nicht arbeitsfähig.
Dass und ob die Ablehnung gesellschaftlich richtig ist, ist natürlich viel schwieriger zu bewerten als das populistische „Kinderschänder raus!“, das als Reflex verständlich sein mag. Resozialisierung ist ja auch Prävention, was gerne vergessen wird. Wer die Kommentare etwa bei ShortNews liest, wird (nachdem die Übelkeit vergangen ist), schnell zum Resozialisierungsfreund, weil er sonst schnell den Eindruck gewinnt, mit den falschen Leuten zu fraternisieren.
Aber hier geht es um Arbeitsrecht: Wo ist die Opfergrenze eines Betriebs, der dem Ziel der Resozialisierung dienen will? Hier scheint sie überschritten.
Aber wir drückt man das rechtsstaatlich aus?
Ein Arbeitnehmer mit wirksamem Arbeitsvertrag muss beschäftigt werden. Die Beschäftigung kann gerichtlich erzwungen werden (s.o.), wobei das – aus meiner Sicht völlig überzogen und verfehlt – ausgerechnet mit der Menschenwürde begründet wird (BAG, Großer Senat, Beschluss vom 27.02.1985 – GS 1/84); da ist es zu hoch aufgehängt, und für die Durchsetzbarkeit spielt es keine Rolle, ob die Rechtsgrundlage nun das Grundgesetz oder das Vertragsrecht ist. Aber so ist es.
Allenfalls könnte man den Arbeitsvertrag kündigen, aber dazu braucht man einen Grund. Und hier kommt der Hörsaal. Wenn nämlich die Haft an sich schon kein Grund ist, dann kann der Aufstand der Belegschaft einer sein. Man nennt das Druckkündigung, weil sie auf dem Druck eines Dritten beruht, also etwa der Belegschaft, die den Kollegen nicht mehr sehen will. Dabei liefert der (auch moralisch motivierte) Druck keine Rechtsfertigung. Unter Umständen kann man zwar kündigen, weil ein Festhalten am Vertrag angesichts des Drucks unzumutbar wird. Aber man kann sich zeitgleich schadensersatzpflichtig machen. Druckkündigungen kommen nicht nur wegen dieser Besonderheit vor allem im Hörsaal und im Lehrbuch vor; aber das ist auch beim „unerkannt Geisteskranken“ so und kein Garant, dass es im wahren Leben nicht dennoch dazu kommt.
1973 hatten 34 Belegschaftsmitglieder die Geschäftsleitung brieflich wissen lassen, sie würden die Arbeit niederlegen, wenn X. noch einmal erscheine. Daraus wurde der Druckkündigungsfall im Urteil des BAG vom 18.09.1975 (2 AZR 311/74); damals hat es nicht geklappt, der Arbeitgeberhätte versuchen müssen, die Belegschaft abzubringen von ihrem Irrweg. Aber nicht zu übersehen ist: Ein Brief mit einer Drohung der 34 ist ein anderer „Druck“ als die erfolgte Arbeitsniederlegung der 300. Und dass die Geschäftsleitung nicht versucht habe, die Sache zu beruhigen, kann man ihr nicht vorhalten. Siehe das Fernsehinterview und den Betriebsratsvorsitzenden.
Viel mehr höchstrichterliche Entscheidungen gibt es nicht – was die Exotik des Gebiets belegt. Ähnlich wie bei der sogenannten Verdachtskündigung wurde später erwogen, ob man mit dem Mitarbeiter zwingend sprechen muss, bevor man kündigt, was das BAG 1990 dann aber nicht zur Voraussetzung machen wollte (BAG, Urteil vom 04.10.1990 – 2 AZR 201/90).
Damit kann, wenn die Mitarbeiter sich weiter so verhalten, Eurogate auf eine Druckkündigung setzen. Und die Rechtsprechung um einen weiteren Fall bereichern. Es sei denn, die Belegschaft beruhigt sich – derzeit ist die Presse zum Fortgang der Sache still.