Es gibt eine
“schleichende Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts”
sagte Ingrid Schmidt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, als sie gestern den Jahresbericht des höchsten deutschen Arbeitsgerichts vorstellte. Starke Worte, und es ging weiter. „Die Welt“ zitiert die Präsidentin wie folgt:
So seien die Kläger immer seltener bereit, allgemeine Entscheidungen und Rechtsauffassungen bei Streitthemen zu akzeptieren. Stattdessen versuchten sie, Einzelfallentscheidungen herbeizuführen, bei denen es häufig um “rechtsunerhebliche Details” gehe. Früher sei es selbstverständlich gewesen, nicht wegen jeder Einzelheit die Gerichte zu bemühen.
Grund der Klage ist auch die von der Presse aufgegriffene Welle an Neueingängen beim BAG. Noch nie, scheint es, waren die Parteien mit den Entscheidungen der Vorinstanzen derart unzufrieden. Das zeige sich an der gestiegenen Zahl der (fast aussichtslosen) Nichtzulassungsbeschwerden.
Hat sie Recht?
Der Zeitungsleser hatte dazu Widersprüchliches gehört dieser Tage. Die “Nürnberger Nachrichten” hatten noch einen Tag vor der Präsidentin das Gegenteil verbreitet: Das statistische Landesamt in Bayern verzeichnet einen starken Klagerückgang. Außerdem wird kolportiert, die „Vergleichskultur“ sei gut wie nie: Die Parteien einigen sich lieber, statt durch die Instanzen zu jagen. Das ist statistisch beides im langen Trend an die Konjunktur gekoppelt: Geht sie gut, war die Belastung er Arbeitsgerichte immer schon geringer. Und für die Streitkultur im Allgemeinen sind nun einmal die Klagen erster Instanz maßgeblich. Nur, was da hineingeht, kann potenziell auch zum BAG kommen.
Also: Frau Schmidt übertreibt wohl im Elfenbeinturm in Erfurt.
Oder doch nicht?
Sortieren wir mal:
Die Zahl der Nichtzulassungsbeschwerden – auf die das Gros der Steigerungen entfällt – kann man einfach nicht als Maßstab heranziehen. Auf die Verletzung rechtlichen Gehörs gestützte Beschwerden sind z.B. nach ihrer Einführung überdurchschnittlich erfolgreich gewesen. Das hat sich herumgesprochen. Nicht dagegen, dass die Landesarbeitsgerichte daraufhin wesentlich besser auf dieses Grundrecht geachtet und den Beschwerden seither den Boden entzogen haben. Eine wenig gewürdigte, effektive gesetzgeberische Reform war das. Die übrigen Beschwerden – die häufiger sind – wachsen nach unserer Beobachtung aus zwei wesentlichen Gründen, die wir mal ganz böse formulieren wollen: Schuld sind mangelnde Qualifikation, die Rechtsschutzversicherer und die Betriebsräte. Uff. Warum? Also:
Erstens: Die Rechtsschutzversicherer zahlen die Nichtzulassungsbeschwerden. Sklavisch und meist ohne Sachprüfung. Der Anwalt kann verdienen und muss sich nicht blamieren, denn eine mündliche Verhandlung gibt es nicht. 1.000 EUR oder mehr haben oder nicht haben kann das bedeuten – den größten Zuwachs hat die Anwaltschaft aber leider im Anwaltsprekariat, wer will also verzichten, wenn er den Fisch schon an der Angel hat? Würde dieser Rechtsbehelf unter die verdient kritische Lupe genommen, gäbe es auch weniger Beschwerden.
Zweitens: Die Zahl der forensischen Fälle wächst derzeit nicht, dafür aber die Zahl der Anwälte, die Arbeitsrecht machen, machen wollen oder auch nur mitnehmen. Bei Nichtzulassungsbeschwerden muss das schiefgehen: Sie sind die Ausnahme und nicht die logische Folge eines verlorenen Verfahrens zweiter Instanz. Nur weiß das nicht jeder Anwalt, weshalb die Beschwerden allzu oft dergestalt schlecht begründet sind, dass die Missbrauchsgebühr – wie das Bundesverfassungsgericht sie hat (deren Wirkung hier im Blog von RA Ferner besichtigt werden kann) – durchaus eine Maßnahme wäre.
Aber liest man die Presseberichte genau, hat Frau Schmidt eigentlich nicht nur die Nichtzulassungsbeschwerden gemeint. Sie meint vielmehr zwei Dinge, und bei denen, da hat sie einfach irgendwie doch Recht.
Das eine Thema ist das AGG – unser Diskriminierungsrecht. Das befasst das BAG weit überdurchschnittlich. Der Grund ist aber nur, dass dieses Gesetz immer noch neu ist und jetzt erst richtig in Fahrt kommt. Dass eine sehr großzügige Auslegung der Beweisregeln durch das BAG selbst (z.B. gerade eben das Urteil vom 24. Januar 2013 – 8 AZR 429/11) dann auch zu mehr Verfahren führen (muss), ist fast offensichtlich. Tatsächlich kommt das durchaus segensreiche Wirken des AGG auch zunehmend in das bei seiner Einführung befürchtete Fahrwasser einer missbräuchlichen Nutzung für Leute, die sonst nichts zu tun haben. Aber es ist eben auch so: Tatsächlich laufen heutzutage Leute herum, die einfach nur so klagen. Wegen jeder Kleinigkeit, und die Diskriminierungs- und auch Mobbingfragen, die kommen da gerade recht. Also: Ganz falsch liegt die Präsidentin da vielleicht nicht.
Das andere Thema ist die immer geringere Akzeptanz von Grundsatzentscheidungen. Die gibt es eigentlich nicht mehr: Kaum wird begründet, warum eine bestimmte Altersstaffel in Tarifvertrag A unwirksam ist, wird Tarifvertrag B herausdifferenziert und trotz gleichen Sachverhalts in hunderte von Einzelverfahren vermehrt. Das ist eine Streitneigung, in der Tat, die man ärgerlich finden kann. Nur wo liegt die Ursache? Gerade Frau Schmidt, die den 1. Senat führt – der für die Betriebsverfassung verantwortlich zeichnet – sollte gemerkt haben, dass es immer mehr betriebsverfassungsrechtliche Streitigkeiten gibt. Es ist vieles ungeklärt, weil man sich früher eher geeinigt als gestritten hat. Befeuert werden diese Streitigkeiten aber – durch Betriebsräte. Denen steht mittlerweile eine ganze Anwaltsindustrie zur Seite. Der Arbeitgeber muss es ja bezahlen. Wer braucht denn eine Klärung der Frage, wie es um das Mitbestimmungsrecht an Parkplätzen steht (Beschluss vom 7.2.2012 – 1 ABR 63/10) – oder muss unbedingt geklärt werden, ob der Betriebsrat mitzubestimmen hat, wenn eine Eingangskontrolle im angemieteten Büro gar nicht vom Arbeitgeber, sondern vom Vermieter des Arbeitgebers vorgegeben wird (Antwort: Erstaunlicherweise ja, siehe Beschluss vom 27. 1. 2004 – 1 ABR 7/03)?
Das alles muss natürlich gar nicht geklärt werden, aber es wird: Betriebsräte schalten zunehmend auf Blockade und auf stur. Alles muss mitbestimmt sein, Kompromisse findet man allenfalls in der Einigungsstelle (zahlt der Arbeitgeber), wenn deren Spruch nicht angefochten wird (zahlt er auch). Ja, da ist weniger Akzeptanz als früher zu sehen. Nur: Die Quelle ist nicht die Arbeitnehmerschaft als solche, sondern eine institutionalisiere Elite.
Hat sie – die Präsidentin – jetzt also Recht oder nicht? Ich meine: Ihr Appell ist jedenfalls richtig. Reißt Euch alle mal zusammen! Nur: Er wird wohl ungehört bleiben…