Eine der zwei treffendsten und gleichzeitigsten dämlichsten Juristenweisheiten lautet: Recht haben und Recht bekommen sind zwei unterschiedliche Dinge (*).
Der Kirchenmusiker K. hat 15 Jahre lang prozessiert. Gegen eine Kündigung, die sein katholischer Arbeitgeber aussprach, weil er eine Geliebte hatte, die auch ein Kind von ihm bekam. Er war in allen Instanzen erfolglos – bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte feststellte, dass die Grundrechte des Klägers verletzt wurden – vom zuständigen Landesarbeitsgericht, das seine Kündigungsschutzklage rechtskräftig abgewiesen hatte. Er erhielt sogar eine Entschädigung.
Was macht man danach? Das Arbeitsverhältnis ist ja nicht wieder da, wenn der EGMR entschieden hat. Die Antwort gibt eine Verfahrensvorschrift der Zivilprozessordnung, die eine sog. Restitution rechtskräftiger Entscheidungen regelt. Einer der wenigen Fälle, in denen man rechtskräftige Entscheidungen also noch einmal aufbohren kann. Diese Vorschrift ist § 580 ZPO und lautet n der entscheidenden Passage wie folgt:
§ 580 Restitutionsklage
Die Restitutionsklage findet statt:
…
8.
wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.
Genau das war hier der Fall. Also flugs Restitutionsklage eingereicht, Kündigungsschutzprozess gewonnen.
So einfach ist das natürlich nicht. Warum?
Diese Vorschrift ist relativ neu. Im Einführungsgesetz zur ZPO steht folgender schlichter Satz (§ 35 EG ZPO):
Auf Verfahren, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, ist § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung nicht anzuwenden.
Dumm: Das Urteil des LAG war bereits im Jahr 2000 rechtskräftig geworden. Die folgenden 12 Jahre waren mit dem Rechtschutz vor dem EGMR draufgegangen. Zu lange, aber der arbeitet langsam. Sozusagen.
Das Bundesarbeitsgericht hat am Donnerstag (Urteil vom 22. November 2012 – 2 AZR 570/11) dem LAG Düsseldorf bestätigt: Die Restitution ist unzulässig. Der Kläger bekommt trotz des Urteils aus Straßburg keinen neuen Prozess. Keine Arbeit. Kündigung wirksam, endgültig, obwohl ein Verstoß gegen Menschen- und Bürgerrechte.
Das stößt sicher auf Verständnisschwierigkeiten, nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit. Das BAG lässt in seiner Pressemitteilung wissen:
Weder die EMRK noch deutsches Verfassungsrecht verlangen zwingend danach, einem die Verletzung der Konvention feststellenden Urteil des EGMR die Wirkung beizumessen, die Rechtskraft von Zivilurteilen im Ausgangsverfahren zu beseitigen. Hat der deutsche Gesetzgeber eine Wiederaufnahmemöglichkeit nur für solche Rechtsstreitigkeiten eröffnet, die bei der Einführung des Restitutionsgrundes noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren, hält sich dies im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums.
Aber was ist mit „unserer“ Werteordnung? Mit dem Verständnis vom Anstandsgefühl aller „billig und gerecht denkenden“ – der sog. Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB? War nicht in derselben Woche der 6. Senat des BAG hergegangen und hatte die Frage nach Vorstrafen als mit dieser Werteordnung unvereinbar angesehen? Ja: Das sind in der Tat zwei verschiedenen Sachen, aber sie hängen trotzdem zusammen. In „unserer“ Rechtsordnung ist die Ahndung eines sittenwidrigen Kündigungsvorgangs nun einmal, dass die Kündigung unwirksam ist und der Arbeitsvertrag weiterbsteht. Das ist nicht in allen Rechtsordnungen so. In manchen ist es kein Problem, dass man bei unfairer Behandlung Geld bekommt, aber nicht seinen Vertrag zurück. Hier ist das aber nun einmal anders und genau das macht das hinter der juristischen Entscheidung stehende Werturteil so schwer verständlich.
Das Urteil des EGMR hat damals viel Wirbel gemacht, heute berichtet allenfalls das Domradio in Köln. Der Kläger hat – hoffentlich – ein neues Leben.
Ich stelle mir ganz ausnahmsweise eine ganz andere und unjuristische Frage. Kein billiger Moralapell: Was ist mit Vergebung? Auch in der letzten Runde vor dem BAG saßen sich die Parteien gegenüber. Vergebung könnte heißen: Wir bieten dem Kläger nach alledem einfach eine Stelle an. Er sagt ja. Dann wird aus Vergebung sogar Versöhnung. Die Verletzungen eines Gerichtsverfahrens können doch kaum ausreichen, um ein Grundprinzip katholischer Tugend zunichte zu machen.
Ich weiß nicht, was in der Verhandlung passiert ist. Vielleicht gab es kein Angebot, vielleicht wollte der Kläger nicht mehr. Aber in den vergangenen Jahren wäre eine Verständigung ja auch denkbar gewesen. Oder nicht?
(*) Die zweite kennen Sie auch: „Vor Gericht und auf Hoher See sind wir alle in Gottes Hand!“.