Genau das ist es, was ich selbst (und einige Mandanten) in Bonn fanden. Am Faschingsdienstag.
Bonn, das ist die frühere Bundeshauptstadt, in der bis heute viele Dienststellen der Ministerien ihren Sitz haben. Tatsächlich sollen in einigen der Bonner Dienststellen gar mehr Leute arbeiten als in ihren Berliner Pendants. Als Berliner wundert man sich darüber schon manches Mal, weil das Hin- und Herfliegen zwischen Bonn und Berlin sicher weder angenehm noch billig ist (das aber, ja, das ist eine politische Diskussion).
Dem Konsumenten beschert dieser räumliche Spagat immerhin sehr günstige Flugmöglichkeiten aller erdenklichen Billigfluglinien zwischen Bonn und Berlin. Also kann man sich einen Trip an den Rhein schon einmal leisten.
Für einen ausgemachten Scherz hielten die meisten Kollegen allerdings den Umstand, dass ich mich ausgerechnet am 22. Februar 2012 nach Bonn am Rhein aufmachen sollte, um der Sitzung des so genannten Tarifausschusses beizuwohnen. Allerdings: Genau so stand es in der Einladung des Tarifausschusses und genauso wurde es auch im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Auf mein unverständiges Schafsgesicht hin klärte mich dann ein Kollege auf:
„Mensch, das ist nun einmal Faschingsdienstag. Im Rheinland ist die Hölle los. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dort in einem Ministerium so etwas Wichtiges an einem solchen Tag stattfindet. Die feiern alle Karneval!“
Mittlerweile überlege ich, ob die Wahl dieses Termins nicht vielleicht volle Absicht (seitens des Ministeriums jedenfalls) war.
Was eigentlich ein Tarifausschuss ist? Der gibt eine Empfehlung an das Bundesministerium (für Arbeit und Soziales) ab, wenn das einen Antrag bekommt, einen bestimmten Tarifvertrag für „allgemeinverbindlich“ zu erklären, § 5 TVG.
Die meisten Leser dieses Blogs haben ja mitbekommen, dass der Verfahrenstarifvertrag für das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) ein Problem ist. Der ist allgemeinverbindlich, aber vermutlich zu Unrecht. Das liegt am Quorum des § 5 TVG. Die Antragssteller müssen schon 50% der Branchenmitarbeiter unmittelbar an den Tarifvertrag gebunden haben. Sonst geht nichts. Vielleicht ist es einfach nur Naivität: Ich kann, wie so viele Mandanten (und andere), einfach nicht daran glauben, dass die Hälfte von 1,4 Millionen tatsächlich 329.000 ist. Wer mir da Recht gibt, sollte einmal zum Tarifausschuss gehen. Aber der Reihe nach.
Wir waren ja dabei, zu erklären, was ein Tarifausschuss ist. Nach § 5 Abs. 1 TVG kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären. Er gilt dann auch für alle so genannten Außenseiter, als hätten sie ihn selbst unterschrieben (Genaueres hier).
Die letzte Angabe der Tarifvertragsparteien selbst, wie viele Personen an ihren Tarifvertrag denn gebunden sind, lautet exakt 329.000. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat für dasselbe Jahr (2009) leider 1,4 Millionen Beschäftigte in der Baubranche ermittelt. Nun ist der politische Druck darauf, dass Sozialkassensystem des VTV um jeden Preis am Leben zu erhalten, erheblich. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entscheidet nach dem TVG zwar alleine, es muss den Antrag der Tarifvertragsparteien aber vor dem so genannten Tarifausschuss erörtern.
Dieser ist sehr rudimentär in einer besonderen Verordnung (Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes – “TVGDV”) geregelt. Seine Sitzungen sind “öffentlich”.
Wie oft eine „Öffentlichkeit“ wirklich dessen Sitzungen beiwohnt, das lässt sich für mich immerhin erahnen. Jetzt. Nach dem Faschingsdienstag.
Wir hatten für eine ganze Reihe von Mandanten einer erneuten Allgemeinverbindlichkeit dieses Tarifvertrags in einer 52 Seiten umfassenden Stellungnahme widersprochen. Der neue Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung wurde zwar bereits im Bundesanzeiger vom 17. Januar 2012 veröffentlicht, für seine zweiundfünfzigseitige Stellungnahme zu einem der kompliziertesten Probleme des Tarifrechts hatte man dann aber immerhin volle drei Wochen Zeit.
Die Stellungnahmen sind dann auch sicher sehr gründlich gelesen worden, weil nach Fristablauf am 7.2.2012 der Tarifausschuss schließlich schon am 22. Februar 2012 tagte (das kann man bewältigen, man muss nur Speedleser im Ministerium haben). Einsprüche gab es von einigen kleineren Verbänden, dem sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft (das aus mir unbekannten Gründen offenbar ist jeder Allgemeinverbindlicherklärung widerspricht, ohne es genau zu begründen, aber ich kann nur sagen: Weiter so!). Und natürlich: Von unseren eigenen Mandanten.
Neben vielen anderen Aspekten wollten wir gerne einmal die anwesenden Vertreter der Tarifvertragsparteien, den Tarifausschuss und nicht zuletzt den zuständigen Referatsleiter beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales fragen, wie er aus den 1,4 Millionen, die von der Wissenschaft ermittelt worden sind, denn genau das Doppelte von 329.000 macht. Wenn ihm das Kunststück nicht gelingt, dann klappt das mit der Allgemeinverbindlicherklärung nicht, s.o.
Man ist in Bonn allerdings gewappnet.
Nicht nur tagt man mitten im Karneval, sondern auch in einer – Kaserne.
Ich habe die bauliche Historie nicht ermittelt, das Ganze sieht aber aus wie eine Kaserne aus dem Ersten Weltkrieg und beheimatet noch Dienststellen zweier anderer Ministerien. Eine echte Idylle sieht natürlich völlig anders aus, aber hier wird ja schließlich auch gearbeitet, nicht Wellness gemacht. Der Altersteilzeitstand soll, sagt mancher, bei 12% liegen, die Dauerkrankenquote auch nicht klein sein. Vielleicht nur Gerüchte.
Außer dem erkennbaren Kater einiger Besucher der freundlichen Kantine waren Spuren des Karnevals in Bonn allerdings nicht aufzufinden. Neugierig machten wir uns nach einer kurzen Stärkung zum angegebenen Zimmer auf. Ich sage “Zimmer“ deshalb, weil jeder, der einen Einspruch eingereicht hatte, eine persönliche Einladung bekommen hat. Wegen des Begriffs der „Öffentlichkeit“ waren wir dem Irrtum verfallen, die Sitzung müsste eigentlich in einem Saal stattfinden, um diese ganze Öffentlichkeit unterzubringen.
Das ist mitnichten der Fall.
Der Raum bot gerade genug Platz, um die sechs Mitglieder des Tarifausschusses, den Referatsleiter des Bundesministeriums, etwa ein halbes Dutzend Vertreter der antragstellenden Tarifvertragsparteien und noch zwei oder drei Verbandsvertreter unterzubringen. Das sind so ziemlich die regelmäßigen Teilnehmer, nicht die „Öffentlichkeit“.
Als wir 10 Minuten vor der angegebenen Zeit erschienen, waren für uns deshalb keine Stühle mehr da. Man muss allerdings sagen, die Mitarbeiter des Ministeriums haben das souverän gelöst. Wenn es neugierige oder abwertende Blicke gegeben haben sollte, dann haben wir sie nicht bemerkt. Als sei es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt, trug man unter vollem Einsatz der Bandscheiben noch drei zusätzliche Stühle für mich und die beiden Unternehmensvertreter, für die ich neben anderen den Einspruch eingereicht hatte, herein. Dass man auf eine große Öffentlichkeit nicht vorbereitet war, mag ja auf früheren Erfahrungen beruhen. Vielleicht wird man sich zukünftig eine Turnhalle suchen.
Trotz der sehr ernsten Materie geschahen einige wundersame Dinge.
Für die knapp einstündige Sitzung standen nicht nur der VTV, sondern insgesamt drei Tarifverträge zur Allgemeinverbindlichkeit an. Für eine derart kontroverse Materie ein bisschen wenig Zeit, das ist vielleicht der Rahmen für eine Kammerverhandlung bei einem Arbeitsgericht.
Die zweite Überraschung bestand im Ablauf der Dinge. Es wurde kurz gefragt, was denn die Tarifvertragsparteien noch zu sagen hätten. In-sich-hinein-grinsend (nur unser Eindruck) meldeten sich dazu aber nur die Gewerkschaftsvertreter. Die Arbeitgebervertreter schauten (peinlich? – hey, nur unser Eindruck!) zu Boden.
Die Gewerkschaftsvertreterin erläuterte fröhlich, sie habe sich ja mit allen Einwendungen aufeinander gesetzt („Aha!“, dachte ich. Du hast also wirklich in den letzten 14 Tagen mehrere hundert Seiten Papier gelesen!) Wie sie sich damit auseinander gesetzt hatte, das verriet sie uns allerdings nicht. Sie sagte nur, sie habe die Einwendungen widerlegt. Als dann die Fragerunde eröffnet wurde (es gab ja nur drei potentielle Frager) habe ich die Gewerkschaftsvertreterin gefragt, welche gegenüber anderen (früheren) Anträgen auf Allgemeinverbindlichkeit desselben Tarifwerke verbesserten statistischen Methoden sie denn diesmal angewandt habe, um auch wirklich sicherzustellen, dass dem Quorum nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG Rechnung getragen sei.
Weil das ja eine öffentliche Debatte ist, durfte sie die Frage aber nicht beantworten (und wollte das wohl auch nicht). Vielmehr griff der Referatsleiter (der ja eigentlich nur eine Empfehlung von Tarifausschuss bekommen soll) zum Wort und beschied mich, man
„…schöpfe alle Erkenntnisquellen aus, werde sie gegeneinander abwägen und käme dann zu einer Entscheidung für oder gegen eine Allgemeinverbindlicherklärung…“
Na, das ist mal eine kernige und klare Aussage.
Das habe ich auch so in die Runde hinein gesagt und habe wenigstens einige Lacher, ein paar Grinser und ein paar Stille-in-sich-Hineinlacher auf meiner Seite gehabt. Bevor ich nachsetzen konnte, dass meine Frage eigentlich an die Dame von der Gewerkschaft gerichtet war, wurde die Sitzung geschlossen.
Alles in Allem ist das ziemlich enttäuschend.
Ich habe aber vor allem mitgenommen, dass ich zwar Verfahrensteilnehmer war, aber eben nicht alles wissen dürfte. Erstaunlich, nicht wahr: Da gab es „Stellungnahmen“ der Antragsteller zu unseren eigenen Einsprüchen, die mir aber niemand gezeigt hatte. Ich wusste nicht einmal, dass sie existierten. Für diese Gegenvorstellungen gab es auch keine Fristen. Unklar bleibt, wann sie vorgelegen haben und was drin steht.
Ich habe deshalb dem Referatsleiter im Anschluss an diese schöne Sitzung einen Brief geschrieben, mit der Bitte, als Verfahrensbeteiligter Einsicht in diese wertvollen Unterlagen zu erhalten. Denn wie die Verbände nun begründen, dass sie das oben erwähnte mathematische Wunder tatsächlich verbringen können, das wäre ja interessant. Ob ich eine Antwort bekomme? Bislang ist sie nicht eingegangen, obwohl die Bitte ja eine sehr einfache ist.
Meine bisherigen Briefe an denselben Referatsleiter blieben allerdings nicht unbeantwortet. Ganz im Gegenteil enthielten sie eine harsche Absage. Ich habe an anderer Stelle darüber berichtet. Nein, man könne mir auch nicht nach dem Gesetz über die Informationsfreiheit irgendwelche Auskunft darüber erteilen, ob man und wie man ermittelt habe, dass die von den Antragstellern unmittelbar tarifgebundenen Arbeitnehmer mindestens die Hälfte der Branche ausmachten.
Zwei Begründungen gäbe es dafür.
Zum einen handele es sich um ein Staatsgeheimnis, weil die arme Bundesrepublik Deutschland gerade verklagt werde (von einem bösen Arbeitgeberverband), der genau diese Allgemeinverbindlicherklärung für unwirksam halte. Man könne doch die eigene Position im Prozess nicht dadurch kompromittieren, dass man mir entsprechenden Dokumente gebe und dadurch auch noch eine öffentliche Diskussion anstachle! (Da ist wieder dieses eigene Verständnis von „Öffentlichkeit“).
Schließlich, so der zweite Grund, hätte ich ja öffentlich in meinem Internetblog (das ist dieser hier) behauptet, ich würde die lächerliche Korrespondenz mit dem Bundesministerium eben „öffentlich“ machen wollen – genauso wie die Zahlen, wenn ich sie denn bekäme.
Igitt, ja.
Das habe ich indes erst zu einem späteren Zeitpunkt getan, als nämlich über die verweigerte Auskunft bereits ein verwaltungsgerichtliches Verfahren anhängig war.
Ich hoffe aber hier auf weit mehr Milde.
Schließlich: ich bin doch Verfahrensbeteiligter. Die Anhörung im Tarifausschuss und die Beteiligung der Öffentlichkeit sollen doch gerade den Sinn haben, sich ein vernünftiges Meinungsbild und ein Bild über die Fakten zu machen. Wie soll jemand eine Meinung zu etwas fassen, das er gar nicht kennt?
Alle Stellungnahmen und Einsprüche müssen ohne Kenntnis der Verfahrensmaterialien ja ins Blaue hinein abgegeben werden. Stellen Sie sich das einmal vor: Das Ganze läuft ab wie ein Gerichtsverfahren, bei dem ihr Anwalt nur den Antrag aus der Klageschrift bekommt, nicht aber die Klagebegründung. Er darf sich dann eine Klageerwiderung ausdenken, ohne zu wissen, worum es geht. Alle Schriftsätze, die von der Gegenseite eingereicht werden, erhält zwar das Gericht, aber weder der Anwalt noch die beklagte Partei (denken Sie auch an Kafka?).
Ein bisschen sieht das auch wie der Kampf von Conan, dem Barbaren, gegen die Schatten im Eisschloss aus (das kommt zugegebenermaßen erst in „Conan, der Zerstörer“ vor [Richard Fleischer, 1984, aber auch mit Arnold Schwarzenegger in der Titelrolle]). Wir wollen uns aber nicht betätigen wie Conan der Barbar, sondern fühlen uns immer noch in einem Rechtsstaat ganz gut aufgehoben. Sonst müssten wir ja ein großes, dickes Schwert nehmen, noch ein paar Muskeln antrainieren und dann mit unseren Fellkumpels nach Bonn reiten, um die gewünschten Unterlagen zu kriegen. So weit will es doch sicher niemand kommen lassen, oder?
Was ist nun mit der neuesten Allgemeinverbindlicherklärung? Wird es die geben?
Die Antwort des Referatsleiters haben wir oben wiedergegeben. Der Eindruck war zwiespältig. Die Kritik an den Zahlen der Tarifvertragsparteien ist mittlerweile in Fachkreisen allgemein bekannt. Es wird also ziemlich schwer, die Zeichen stehen aber dennoch darauf, dass der Staat sich noch einmal gnädig (harmlos: Willfährig gegenüber Lobbyinteressen) zeigen wird.
Warum er das tut, bleibt allerdings ziemlich offen. Er ist nicht der Anwalt der Tarifvertragsparteien, die so gerne einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären würden. Er ist vielmehr der Anwalt der Öffentlichkeit, die vielleicht Interesse hat, dass es genau diese Allgemeinverbindlicherklärung nicht gibt. Die Tarifvertragsparteien vertreten schließlich nur ihre eigenen Interessen. Die der restlichen Branche oder der Allgemeinheit müssen das nicht wirklich sein. Eigentlich sollte soviel auf der Hand liegen.
Schöpfen Sie aber keine falsche Hoffnung. Selbst wenn die Allgemeinverbindlichkeit abgelehnt werden sollte, dann wird das nicht begründet. Es wird also keine Begründung geben, in der z.B. drin steht, dass die Zahlen einfach nicht ausreichend sein, um das vor dem Gesetz zu rechtfertigen.
Man hätte dann ja auch dann die früheren Allgemeinverbindlicherklärungen deutlich kompromittiert. Nein, und wenn diese Allgemeinverbindlicherklärung nicht erfolgt, bleiben alle früheren in Kraft. Man wird sich noch weiter mit der Urlaubskasse des Baugewerbes herumschlagen müssen, solange nicht endlich mal ein Gericht den Mut hat, die himmelschreiende Divergenz der Zahlenwerte zum Anlass zu nehmen, um klipp und klar zu sagen, dass es diese Allgemeinverbindlichkeit, die Hunderte von Existenzen vernichtet hat und die niemandem nützt, nicht geben darf.
Nicht wegen eines moralischen Urteils darüber, sondern nur, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen. Dass man gerüchtweise gehört, die Tarifvertragsparteien stünden der Frau Bundesministerin im Wortsinn auf den Füßen, sie möge doch für eine Gesetzesänderung sorgen, dass die Tarifvertragsparteien nicht mehr 50 % der Branche repräsentieren müsste, sondern 30 % auch ausreichend seien, beruhigt nicht gerade. Eine solche Regelung wäre zwar verfassungswidrig, aber wissen Sie, wie lange ein verfassungsrechtlicher Rechtsschutz tatsächlich dauert? Bis dahin gehe ich in Pension.
Es bleibt also dabei, dass die Arbeitsbedingungen ganzer Branchen auf dem Umweg über die Allgemeinverbindlichkeit in einem fast geheimen Verfahren geregelt werden, auf das man von außen so gut wie keinerlei Einfluss nehmen kann. Für die Politiker, die immer wieder Transparenz predigen, ist das eine wirkliche Schande. Das sagt nicht (nur) Conan der Barbar (den Wikipedia völlig ungerecht und auch unwissend beurteilt).