Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
13.03.2013

Die allerliebste kleine Bagatelle…

…ja, die Petitesse. Sie steht diese Woche im Vordergrund, oder? Gleich zwei Grundsatzfragen zum Verfassungsrecht und zur Arbeitnehmerüberlassung standen auf dem Programm.

Da war doch das Schulbuch für 14,95 EUR – das hat das BAG für ersatzfähig gehalten, wie jetzt alle wissen (Urteil vom 12. März 2013 – 9 AZR 455/11 – PM). Die verfassungsrechtlichen Implikationen müssen noch geprüft werden.

Und um das gleich klar zu sagen: Ich finde das ja auch nicht falsch oder ungerecht, dass das Land Niedersachsen zu 14,95 EUR verurteilt worden ist. Es ist echt doof, einem Lehrer zu sagen, benutz mal dieses Buch, aber kauf es selber, Du kannst es ja von der Steuer absetzen. Aber „doof“ ist andererseits keine Anspruchsgrundlage. Und der hier teilweise gemachte Vorschlag, man müsse diejenigen, die sich für eine Revision entschieden haben, in die Pausenaufsicht versetzen und ihnen die Kosten vom Gehalt abziehen, hat rein pragmatisch etwas für sich, denn das Land Niedersachsen muss jetzt vorhersehbar Anreisekosten (Bahnticket 2. Klasse Hannover-Erfurt ca. 60-70 EUR, Übernachtung in Erfurt 100 EUR, das ganze mindestens mal zwei, da kommen wir leicht auf über 20 solcher Büche rund mindestens noch mal so viele für die Prozesskosten) zahlen.

Vorhersehbar? Hatte ich nicht noch neulich geschimpft? Stimmt. Es ist ein altes Trauma. Das BAG entscheidet seit den 60er Jahren so, wissend, dass es keine Anspruchsgrundlage gibt. Genauer gesagt ist der rechtshistorische Beginn auf den Beschluss des „Großen Senats“ des BAG (siehe § 45 ArbGG) vom 10. 11. 1961 – GS 1/60 zu datieren. Das ist eine meiner Lieblingsentscheidungen, weil ich sie im Ergebnis nie verstanden habe. Sie werden keinen Volltext im Internet finden, was ich sehr bedaure (ich jedenfalls finde keinen), aber auch bei Professoren ist der Beschluss zu recht sehr beliebt, weil er so systematisch eine Unzahl von Anspruchsgrundlagen für die Frage prüft, wer einen dienstlich erlittenen Fleck auf der Privatkleidung zu zahlen hat (Ergebnis: Der Arbeitgeber). Wenn Sie eine NJW haben: Im Jahrgang 1962 ab Seite 411 gibt es einen Text auf Papier, den man auch noch wird lesen können, wenn dieses Blog nur noch das falsche Format hat. Ein wirklich lesenswertes Stück Rechtsprechung, das ich aber nur wegen seiner leicht chauvinistischen Passage im Gedächtnis behalten habe; Asche auf mein Haupt, aber ich war eben jung:

Wenn sich eine Sekretärin bückt, um aus dem untersten Fach eines Regals ein Buch herauszunehmen, und es dabei Laufmaschen gibt, so kann sie vom Arbeitgeber nicht ein neues Paar Strümpfe oder den Kaufpreis dafür verlangen.

Ich habe mich schon im Studium gefragt, warum ausgerechnet dieses Beispiel, ohne echten Bezug zum Fall übrigens, gewählt worden ist und was die Richter (m) sich dabei dachten. Na ja, 1960 waren allerdings Strümpfe vermutlich weit teurer als heute. Ich lasse Sie mal mit Ihrer Fantasie zurück – § 670 BGB wurde schon damals nutzbar gemacht, obwohl der eben auf entgeltliche Dienstverträge ausdrücklich unanwendbar ist. Ein beachtenswertes juristisches Kunststück, das zu begründen, auch für den Großen Senat. Aber unangefochten. Und in Hannover hätte man also durch ein paar Fantasien Geld sparen und sich dieses Beschlusses erinnern können. Es musste einfach schiefgehen.

Wollen wir hoffen, dass jetzt nicht ein armer Referent in einer Staatskanzlei einen Vermerk schreiben muss, welche verfassungsrechtlichen Implikationen die neue BAG-Entscheidung hat. Denn hören Sie mal:

Das beklagte Land als Arbeitgeber des Klägers und nicht die Gemeinde als Schulträgerin ist verpflichtet, dem Kläger den Kaufpreis für das Schulbuch zu erstatten.

Da lässt sich sicher noch viel zu schreiben. Der Zahlungsausgleich zwischen Land und Kommune ist jetzt schwer belastet. Auch das noch. Ohne Urteil hätte man das unter den Teppich kehren können. Auber sie wollten ja nicht auf das LAG hören…

Szenenwechsel:

Ich habe den Tag, an dem die Entscheidung fiel, in einer anderen Landeshauptstadt verbracht und einer mehrstündigen Prüfung der Bundesagentur für Arbeit beigewohnt. Geprüft wurde ein Unternehmen, das eine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis hat. Das kann nur schiefgehen, ohne Beanstandungen läuft das nie ab.

Das meinten auch die ernsten Mienen der Prüfer in der Abschlussbesprechung. Bei uns bildete sich Angstschweiß auf der Stirn:

Wir haben einen formalen Verstoß gefunden

Äh…ja?

Nürnberg!

Äh, wie bitte?

Nürnberg. Es muss „Nürnberg“ heißen!

Was denn…hä?

Grinsen

Na, wenn Sie den Arbeitnehmern mitteilen, welche Behörde die Erlaubnis erteilt hat. Da schreiben Sie „Regionaldirektion XXX“. Das Gesetz schreibt vor, dass Sie einen Ort angeben. Eine Region ist kein Ort. Unsere Regionaldirektion hat ihren Sitz in Nürnberg. Das ist ein Ort.

Stimmt. Steht gleich in § 11 Abs. 1 Nr. 1 AÜG. Unangenehm: Nach §16 Abs. 1 Nr. 8 AÜG ist jetzt ein Bußgeld fällig. Rahmen: Bis zu tausend Euro.

Aber nun: Es handelte sich um bayerische Prüfer. Die haben eine Ausbildung. Der Grundsatz de minimis non curat praetor ist ihnen geläufig und hat zwei Jahrtausende frisch überdauert. Und bevor ich Luft holen konnte, hieß es jovial:

Joa, dos moachen Sie dann aber künftig korrekt, nicht woar?

Wir haben genickt. Vor Glück.

De Minimis. Es lebe die Petitesse.