Es sind die unauffälligen Entscheidungen, die durchaus intellektuell brillanten, die auf den zweiten Blick so manch einen zucken lassen. Wie der jetzt auf den Markt gespülte Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 17.11.2010 – 7 ABR 100/09. Unbedingt lesen. Kommen Sie mir nicht mit “is’ so trocken”. Ist es nicht. Es ist wunderbar und erschreckend zugleich.
Prelüde:
Was ist eine Einigungsstelle? Eine Geldfressmaschine. Unter dem Vorsitz – meist – eines Arbeitsrichters versuchen die Betriebsparteien, eine Einigung über einen sogenannten Mitbestimmungstatbestand hinzukriegen (z.B. § 87 BetrVG), weil sie es bisher nicht geschafft haben. Die Rechnung zahlt der Arbeitgeber. Scharfes Mittel des Betriebsrats ist die Einigungsstelle, wenn er ärgern will (den Arbeitgeber, wen denn sonst). Dem kann man nach § 98 ArbGG meist mit Erfolg eine solche aufzwingen. Umgekehrt geht es auch, wird aber seltener gemacht. Ein irres Verfahren: Das Ding wird ohne Sachprüfung einfach vom Arbeitsgericht eingesetzt. Beschwerde nur zum LAG, innerhalb zweier Wochen zu begründen, Ende. Ablehnung nur bei offensichtlicher Unzuständigkeit der Einigungsstelle (gibt es so gut wie nicht). Das kann schmerzhaft sein. Aber es soll ja schnell zu einer Einigung führen. Früher einmal musste das Arbeitsgericht prüfen, ob es ein Mitbestimmungsrecht gab. Das dauerte zu lange. Jetzt wird also erst gezahlt, damit die Einigungsstelle dann vielleicht selbst ihre Unzuständigkeit feststellt. Tritt sie zusammen, zwingt sie den Parteien durch ihren Spruch eine Betriebsvereinbarung auf.
Kann man da noch was machen? Wenn man einfach keinen Bock hat?
Man kann:
1. Akt:
Jedes Rechtsmittel ausgeschöpft, kann man mindestens mal so zwei, drei Monate eine Einigungsstelle auf Distanz halten. Dann wird es eng: Das LAG setzt Herrn Richter am Arbeitsgericht X als Vorsitzenden ein.
2. Akt:
Der verzweifelte Antragsgegner rauft sich die Haare (meist – wie gesagt – der Arbeitgeber).
Dann kommt – selten – die erlösende Nachricht: Der Richter, den der Betriebsrat wollte, kann oder will nicht. Aha! Kommt vor – auch Betriebsräte und ihre Anwälte vergessen manchmal, zu fragen. Das ist der Joker (für den, der keinen Bock auf Einigung hat). Denn jetzt gibt es eine ungeklärte Rechtsfrage. Wenn der Eingesetzte ablehnt – kann man dann beim LAG um einen Neuen bitten oder muss man die ganze Instanzenrennbahn noch einmal durchlaufen? Da gibt es keine Gerichtsentscheidungen! Sage noch einmal einer, alles sei schon mal dagewesen (Darstellung des Streits im Kommentar von Schwab/Weth zum ArbGG, § 98 ArbGG, Rd.-Nr. 54).
3. Akt:
Ist der Mensch erst einmal eingesetzt, fragt sich, ob man ihn ablehnen kann. Weil er fies ist, oder, im Fall des BAG, etwa deshalb:
“…Nach einer Einigungsstellensitzung vom 9. November 2007 lehnten die Beisitzer des Betriebsrats den Vorsitzenden der Einigungsstelle mit Schreiben vom 21. November 2007 ab. Sie begründeten das Ablehnungsgesuch damit, dass der Vorsitzende in der Sitzung vom 9. November 2007 nur über einen Antrag der Arbeitgeberseite habe abstimmen lassen, obwohl der Antrag der Beisitzer des Betriebsrats denselben Gegenstand betroffen habe…”
Also, der Ablehnungsgrund ist ja hinter dem letzten erkalteten Atomofen hervorgezerrt. Aber: Vorschriften dazu fehlen.
Rechtsprechung fehlt.
Das BAG musste alles neu erfinden. Und der Betriebsrat hat das Ding erfolgreich torpediert: Zwischen der Ablehnung und der BAG-Entscheidung liegen satte vier Jahre (!). In der Zeit ging nichts voran.
4. Akt:
Kann man überhaupt ablehnen? So rechtlich, meine ich?
Dass es geht, wurde zum Glück schon ein paar mal entschieden. Wenn er den Ablehnungsbrief aber bekommt und dennoch weitermacht, was tun?
5. Akt:
Kann mir das Arbeitsgericht helfen?
Ja nun. Irgendwie schon. Muss man erst einmal erfinden: Anwendbar sein sollen jetzt die Vorschriften über das Schiedsverfahren (Analogie!). Nach §§ 1062 und 1065 ZPO ist das bei der Ablehnung ein einstufiges Verfahren. Das Oberlandesgericht entscheidet in erster und letzter Instanz. Streiche OLG, setze ArbG.
Wenn das so ist: Warum darf dann das BAG überhaupt entscheiden? Ganz einfach: Es war eine Beschwerde zum LAG eingelegt worden. Das hätte sie als unzulässig verwerfen müssen (Rechtsmittel ist nicht statthaft, Analogie zu § 1065 ZPO, s.o.). Hat es aber nicht. Es folgte der falschen Theorie (falsch nur, weil das BAG jetzt ja eine andere hat), dass stattdessen eine Analogie zu § 98 ArbGG gegeben wäre, also in einem zweistufigen Verfahren zu entscheiden sei. Der Clou: Daran hat es sich selbst nicht gehalten. Denn § 98 sieht keine dritte Instanz vor, das LAG hat sie aber ausdrücklich zugelassen. Irre.
Das BAG müsste also verwerfen. Das unstatthafte Rechtsmittel gegen eine Entscheidung, die ein bereits unstatthaftes anderes Rechtsmittel behandelt, muss doch eben – unstatthaft sein. Oder? Alles unstatthaft!
Das hatte man im Griff: Ist ein Instanzenzug gar nicht gegeben, dann kann ihn das Landesarbeitsgericht nicht erzwingen, indem es die Rechtsbeschwerde zum BAG einfach zulässt und “Ätsch” sagt (BAG, Beschluss vom 22.7.2008 – 3 AZB 26/08). Patient tot. UNSTATTHAFT und UNZULÄSSIG.
Oder?
Nein. Diesmal doch nicht. In wunderschönen Worten der Rd.-Nr. 14 des Beschlusses, den wir hier besprechen:
“…Diese Beschränkung gilt dann nicht, wenn es darum geht, die gesetzgeberische Entscheidung, nach der ein Beschluss unanfechtbar ist, gegenüber einem Gericht durchzusetzen, das in einem Rechtsmittelverfahren in der Sache entschieden hat…”
Also sind unstatthafte Beschwerden eben statthaft, wenn man das unstatthaft handelnde Gericht auf den rechtsstaatlichen Weg führen muss, das LAG sich also unstatthaft verhalten hat. Stattlich!
Epilog:
Für diesen komplizierten Ritt durch die exotischsten Teile des Verfahrensrechts, bei dem die wesentlichen Elemente nebenbei neu zu erfinden waren, hat das BAG, das manches Mal eher Rechtsgutachten statt Urteile schreibt, gerade einmal 26 Randnummern, also vielleicht 4 großzügig beschrieben DIN-A-4-Seiten, benötigt. Und an diesem Beschluss stimmt nicht nur hinsichtlich der getroffenen Wertungen alles, er ist auch beim ersten Lesen ohne weiteres verständlich. Bei der Thematik grenzt das an das Prädikat “Meisterwerk”. Gäbe es einen Preis für die stilistisch am besten abgefasste Entscheidung des Jahres, müsste er jetzt an den 7. Senat gehen.
Schade nur: Der Rechtsstaat hat seinen Preis. Die Ablehnung hat das Verfahren über die Einigung auf Jahre zum Erliegen gebracht. Wer auch immer das wollte, er hat sein Ziel erreicht. Hoffentlich macht das keine Schule. Allerdings: Es muss ja auch einen Ablehnungsgrund geben. Immerhin.