Liest man die Berichterstattung (hier in der taz), muss man sich emotional auf die Seite der Klägerin, einer „Whistleblowerin“, stellen. Sie hat einen langen Weg hinter sich, bis zum europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (wir hatten hier berichtet). Sie fühlte sich im Recht und hat ihre Entscheidung, ihren früheren Arbeitgeber, einen Berliner Klinikbetreiber, anzuzeigen, mit allen Mitteln verteidigt.
Der hatte ihr wegen einer Strafanzeige gekündigt, die Frau H., die Klägerin, aufgrund angeblich rechtswidriger Zustände in der Pflegegestellt hatte. Aber: Außer dem Arbeitsgericht Berlin in erster Instanz (03.08.2005 – 39 Ca 4775/05) gab ihr einzig der EGMR Recht (Beschluss vom 21.10.2011 – Beschwerde Nr. 28274/08). Die maßgeblichen Berufungs- und Revisionsinstanzen erklärten die Kündigung für zulässig, das damalige LAG Berlin mit Urteil vom 28.03.2006 (7 Sa 1884/05). Es wurde rechtskräftig (Nichtzulassungsbeschwerde: Zurückweisungsbeschluss vom 6.06.2007 – 4 AZN 487/06).
Am 24.5.2012 nahm sie jetzt – im Wiederaufnahmeverfahren vor dem LAG Berlin-Brandenburg – 90.000 € Abfindung und beendete den Streit (und das Arbeitsverhältnis) endgültig.
Abseits der emotionalen Ebene ist kann die Klägerin im konkreten Fall nicht wirklich alle Sympathien für sich verbuchen. Das LAG Berlin hatte ihr letztlich vorgehalten, sie habe in der Strafanzeige Behauptungen über ihren Arbeitgeber ausgekübelt, die sie nicht einmal ansatzweise im Prozess plausibel machen, geschweige denn belegen konnte. Es war mit Schlagworten operiert worden, von Überlastung und einer Patientin, die hilflos in einer Blutlache lag, die Rede. Weder die Patientin konnte beim LAG richtig identifiziert werden noch die Unterschreitung des Personalschlüssels. Geschmacklich ein wenig verirrt sicher auch die Flugblattaktion der Klägerin, die nicht an harten Worten sparte.
Das Dilemma von Whistleblowern ist ja offensichtlich:
Sagen sie etwas, verhalten sie sich illoyal gegen ihren Arbeitgeber, sagen sie nichts, ist das Gewissen belastet oder es droht sogar Schaden für die Gesundheit und das Leben von Menschen. Aber wer will die Grenze ziehen? Schon jetzt schützt die Rechtsprechung im Prinzip Whistleblower, wenn es darauf ankommt. Sie sollten sich aber einen qualifizierten anwaltlichen Rat einholen, bevor sie kraftvoll in die Pfeife pusten. Schreiben voller Drohungen des Anwalts (wie sie im Fall vorkamen) sind da eher unprofessionell bis kontraproduktiv (zugegeben: Anwälten dürfte es auch an Erfahrung im Umgang mit solchen Fällen mangeln, aber Fingerspitzengefühl kann man schon verlangen). Sie sollten sich vor allem nicht von einer subjektiven Einschätzung der Lage mitreißen lassen. Nach dem Motto „ich bin überlastet“ + „der Arbeitgeber kümmert sich nicht“ = Der Arbeitgeber ist kriminell“ kann es nicht gehen. So sah es – leider – nach der LAG-Entscheidung aber aus (übrigens scheiterte die Nichtzulassungsbeschwerde mangels ordnungsgemäßer Begründung, was nicht ausschließlich die Schuld der bösen Gerichte ist…).
Weil der Fall der Frau H. aber auch wieder einmal zeigt, dass die gleiche Sache von den Gerichten sehr unterschiedlich, aber gleichermaßen rechtlich richtig eingestuft werden kann (das Urteil der ersten Instanz liest sich nicht wenig überzeugend, auch wenn es die Meinungsfreiheit gar zu abstrakt vor die scheinbare Haltlosigkeit der konkreten Vorwürfe stellt), schreit sie, möchte man meinen, wieder mal nach einer gesetzlichen Regelung (obwohl man derer doch immer weniger statt mehr versprochen bekommt).
Der Bundesrat auf Antrag Berlins hat es versucht, ist aber kläglich gescheitert – was nicht sehr schade ist. Wer die Vorschläge nämlich liest (BR-Drucksache Nr. 534/11), kann kaum Änderungen zum jetzigen Richterrecht sehen. Vielleicht sind formale Regeln hier auch nicht zu finden, weil der notwendige Grad, in dem sie Spielräume für den Einzelfall lassen müssen, nie ein angemessenes Schutzniveau aufbauen kann. Schließlich müssen einerseits Unternehmen vor hirnlosen Aktivisten geschützt, andererseits straf- und ordnungswidrige Missstände ohne Risiko aufdeckbar sein.
Schwierige Balance – sie lässt sich vielleicht institutionell lösen:
Tatsächlich könnte man sich eine Art Ombudsmann vorstellen – das kann ein innerbetrieblicher Compliance-Beauftragter sein, den es in vielen Betrieben schon gibt. Oder auch eine außerbetriebliche Institution, die beraten, abwägen und weitere Schritte einleiten kann – unter Schutz des Informanten, aber mit angemessenem juristischen Filter. In beiden Fällen kann man auch jetzt schon davon ausgehen, dass ein „Verrat“ keine kündigungsschutzrechtlichen Folgen haben würde. Eine öffentliche Ombudsstelle müsste natürlich bezahlt werden und zudem hohes Ansehen und Vertrauen aufbauen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass vielen die Antidiskriminierungsstelle des Bundes nicht bekannt zu sein scheint. Jedenfalls erlebe ich keinen Prozess, bei dem es um Diskriminierungen geht, bei dem man sich auch nur an diese Stelle gewandt hätte. Unmöglich scheint es nicht. Ich traue mich ja kaum, es vorzuschlagen, ohne meinen Ruf zu schädigen. Aber betriebliche Ombudsstellen lassen sich durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen freiwillig auf jeden Fall schaffen. Man darf auch mal darüber nachdenken, ob eine solche Einrichtung nicht auch unter das Ordnungsverhalten und damit in den Bereich erzwingbarer Mitbestimmung fällt. Für die Beschwerdestelle nach dem AGG hat das Bundesarbeitsgericht sich durchaus dafür erwärmen können (Beschluss vom 21.7.2009 – 1 ABR 42/08) – warum also mal nicht in der Frage eines „Whistleblowing-Beauftragten“ (wer sich jetzt die Augen reibt über so viel Mitbestimmung auf diesem Blog: Ich wasche mir den Mund später mit Kernseife aus, ok?)?
Andere Blogeinträge bei Liz Collet (Jus@Publicum) über das EGMR-Verfahren und die Wiederaufnahme.