Es tut mir leid: Chattanooga ist kein Indianerhäuptling, den man wohl auch als “chief” bezeichnen müsste, wie er auch kein Indianer, sondern Angehöriger der First Nations sein dürfte.
Chattanooga ist eine Stadt im strukturschwachen US-Bundesstaat Tennessee, die in Deutschland Schlagzeilen macht. Die Volkswagen AG hat dort ein Werk aufgebaut. Jetzt droht der (deutsche) Konzernbetriebsrat, weitere Expansionspläne dort zu blockieren, weil es keine Arbeitnehmermitbestimmung gibt. Insbesondere hat Chattanooga keinen Betriebsrat. Lesen Sie den Bericht im Handelsblatt , so scheint damit alles gesagt zu sein: Betriebsrat einrichten, Klappe zu., Affe tot.
Wenn aber die Einrichtung von Betriebsräten illegal wäre?
Das ist in den USA – cum grano salis – durchaus der Fall. Deshalb gibt der Fall Chattanooga Einblicke in einen der größten kulturellen Gräben der globalen Wirtschaft. Ein Artikel in „Mitbestimmung“, einem Magazin der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und sicher nicht eine häufig von mir zitierte Quelle, arbeitet das (allerdings aus sehr deutscher Perspektive) eindrucksvoll (und lesenswert) auf. Bernd Kupilas schreibt dort, selbst in China gäbe es so etwas wie Gewerkschaften und Mitbestimmung, in 100 VW-Werken sei das eben nur in Chattanooga nicht der Fall. Und man muss ihm Recht geben – der Umstand, dass es kostenlose Rechtsberatung für Arbeiter gibt, die sich gegen gewerkschaftliche Einflussnahme wehren wollen (!), ist nicht nur für europäische Gewerkschafter sehr, sehr, sehr schwer zu verstehen. Die Beratung kommt von einer Organisation mit dem Namen „National Right To Work Legal Defence Foundation, Inc.“, was eine Übersetzung spätestens überflüssig macht, wenn man auf der Homepage die Einteilung der Welt (USA) aus deren Sicht gesehen hat:
Do you live in a right to work state?
Die gibt es auffälligerweise nur als konservativ regierte Staaten, der Gegensatz ist ein „forced unionism state”, was ein Übersetzung auch verbietet.
Krass, und Obama war doch so nett, als er in Berlin war, denkt sich da der deutsche Gewerkschafter.
Aber zurück zum Betriebsrat: Den kennt das amerikanische Recht nicht. Trotzdem gibt es viele ähnliche Gremien. In einer Untersuchung von 2009 des United States Department of Labor, einer Regierungsbehörde, wurde deutlich, dass diese freiwillig oder nach europäischen Vorbild importierten Gremien in den meisten Fällen illegal waren und eine Verletzung des National Labor Relations Act darstellten. Dieser für europäische Augen geradezu verstörende Befund hält einer Überprüfung stand. Denn Section 8 (2) dieses Gesetzes verbietet die nicht von einer unabhängigen Gewerkschaft unterstützte Einrichtung solcher Gremien ausdrücklich. Die Abgrenzung geht so weit, dass das Gesetz sogar klarstellen muss, dass die Arbeiter überhaupt mit ihrem Arbeitgeber sprechen dürfen – während der Arbeitszeit – und trotzdem ihr Geld bekommen; bezahlte Gesprächszeit sozusagen:
,…an employer shall not be prohibited from permitting employees to confer with him during working hours without loss of time or pay…
Das alles hat einen Grund. In den USA existierten bis 1935 sogenannte Betriebsgewerkschaften („Company Unions“), die nicht nur Arbeitgeber strangulierten, sondern auch (in der Filmgeschichte immer wieder sogar) mit Mafia, organsierter Kriminalität, Erpressung und Gewalt bis hin zu Mord in Verbindung gebracht wurden. Außerdem wurden sie nicht selten von den Arbeitgebern selbst finanziert – Filz vorprogrammiert.
Seit 1935 zwingt das US-Recht Gewerkschaften deshalb zu einem Modell, wie es in Deutschland praktiziert wird, also die nach Branchen geordnete Gewerkschaft, die Einheitsgewerkschaft, aber eben nicht die Gewerkschaft nur für einen Betrieb. Außerdem verbietet es jede arbeitgeberseitige Finanzierung solcher Organisationen. Eine eigenständige Betriebsverfassung – wie in Deutschland und den meisten Teilen Europas – gab es 1935 dagegen nicht. Betriebsverfassung bedeutet ja im Kern, dass die Arbeitnehmer eines Betriebs Vertreter wählen, die über andere (personelle und soziale) Fragen mit dem Arbeitgeber sprechen, als Gewerkschaften, die in der US-amerikanischen Vorstellung jedenfalls vorranging für Entgeltfragen zuständig sind. Auch in Deutschland zieht man diese Linie, denn der Betriebsrat ist in seiner Mitbestimmung dort eingeschränkt, wo (gewerkschaftlich abgeschlossene) Tarifverträge existieren, wie man dem berühmten Eingangssatz zu § 87 Abs. 1 BetrVG entnehmen kann. Dass es in Deutschland trotzdem Betriebs-„räte“ (russisch übrigens ja „Soviets“) gibt, hat historische (und nicht nur kommunistische) Gründe.
In den USA hat so etwas nicht existiert. Betriebsverfassung ist historisch dort ein Teil der gewerkschaftlichen Aufgaben. Dem National Labor Relations Act liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Einrichtung von Betriebsräten ohne die Zustimmung einer zugelassenen Gewerkschaft die verbotenen Betriebsgewerkschaften wieder einführen würde. Schlimmer noch: Indem der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern erlaubt, bei voller Lohnfortzahlung nicht ihrer Arbeit nachzugehen, sondern sich um Mitbestimmung zu kümmern (wie es nach § 37 BetrVG etwa der deutschen Rechtslage entspricht), geschähe nichts anderes als die seit 1935 verbotene Arbeitgeberfinanzierung von Gewerkschaften. Und damit wird die Aussage, dass ein Betriebsrat illegal sein kann, logisch.
Also die Gewerkschaften ins Boot holen – und genau dort liegt das Problem. Die United Automobile Workers (die mittlerweile auf den komplexen Namen „The International Union, United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America“ hört) ist ein Politikum. Sie gilt Konservativen als Hauptschuldiger am Beinahe-Untergang der Autoindustrie, als konfrontativ und klassenkämpferisch. Weil nach amerikanischem Tarifrecht die Beschäftigten in Chattanooga ausdrücklich ihre Gewerkschaft erwählen müssten (ähnlich wie bei einer Betriebsratswahl), machen alle Seiten jetzt Lobbyismus. Die Regierung in Tennessee argumentiert, dass – wäre die UAW schon vor VW in Tennessee gewesen – VW nie angesiedelt worden wäre. Der UAW würde auch die Vertreibung der Arbeitsplätze in kürzester Zeit wieder gelingen.
So ist Wahlkampf der ungewohnten Sorte in Chattanooga. Und wie viel man auch immer darüber nachdenkt, der Graben im Atlantik wird nie ganz verschwinden. Wer die Erläuterungen der American Bar Association etwa liest, wozu der ganze Gewerkschaftskram gut sein soll, atmet tief durch. Samuel Estreicher erläutert, dass es international zwei Grundmodelle gewerkschaftlicher Organisation gäbe, die „redistributive bargaining agent“-Schule, die davon ausgeht, der vom Unternehmen erarbeitete Wert würde von den Gewerkschaften einfach ohne Zusatznutzen umverteilt, und die „integrative bargaining agent“-Schule, die Mitarbeiterrepräsentanz auch als (profitsteigerndes) Plus für den Arbeitgeber sieht, stößt ich nicht nur an der atemberaubenden Komplexität solcher Begriffe. Es fällt vor allem auf, dass selbst Fachleute in den USA größte Schwierigkeiten haben, ungelenk zu erklären, wozu das alles gut sein soll.
Globale Wirtschaft hat eben kulturelle Grenzen.