Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
04.08.2010

Arbeitnehmer werden mächtiger, sagen die Wirtschaftswissenschaftler

Prognosen sind für die Wissenschaft eine Feuertaufe, die fast immer schiefgeht: Wirtschaftswissenschaftler, vor allem die Volkswirte, sind ja deshalb seit der Wirtschaftskrise selbst in der Krise. Das freut uns Rechtswissenschaftler natürlich, die wir auch nie verstanden haben, was an unserer Tätigkeit so wissenschaftlich ist wie z.B. an der eines Astrophysikers. Nachdem die Wirtschaftswissenschaftler schon die Krise überwiegend nicht haben kommen sehen, haben sie auch leider den rapiden Aufschwung nicht kommen sehen, der gerade im Schwange ist. Zeitweise hatte ihr Versagen sie sogar mit den Meteorologen auf eine Stufe gestellt, bis dann Jörg Kachelmann kam und den Score wieder nach unten zog. Jetzt wagen sie sich schon wieder an eine Prognose: “Arbeitnehmer werden mächtiger” heißt es da. Grund: Bevölkerungsschwund und Wirtschaftsaufschwung sorgen für ein verändertes Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. “Draußen stehen noch 100 andere, die ihren Job wollen” ist bald kein zugkräftiges Argument mehr. Die stehen da nämlich gar nicht.   Bevor ich nach Neukölln (das ist ein Stadtteil von Berlin, über den Sie sich im Internet informieren können) auf den Herrmannplatz gehe und von den neuen paradiesischen Zeiten berichte, in denen keiner mehr Drogen verkaufen muss, um sein Geld zu verdienen, spielen wir die “Machtfrage” doch mal in der Theorie durch. Verknappen die Arbeitnehmer tatsächlich, schwindet das, was die Arbeitsrechtler unter “strukturellem Ungleichgewicht” verstehen. Viele Arbeitgeber hatten bei den Arbeitsgerichten allerdings bislang den Eindruck, das gäbe es zwar, aber es falle anders, als in der Rechtswissenschaft allgemein unterstellt, zu ihren Ungunsten aus. Das war vielleicht etwas subjektiv geprägt. Jedenfalls bedürfen die Mitarbeiter nicht mehr in gleichem Maße des Schutzes der Arbeitsgerichte. Theoretisch. Noch vor ein paar Jahren hatten wir es bei den “Personalern” oft mit einer Generation zu tun, die eine Befristung für einen “fairen Deal” hielt, und deshalb kein Verständnis für eine Befristungskontrolle hatte (obwohl es die seit 1961 gibt). Auch viele Arbeitnehmer dieser Generation sehen das genauso. Die Liste dieser - beiden Seiten gemeinsamen - Beispiele ließe sich verlängern. Die moderne Generation von Personalern hat sich natürlich längst dem juristischen Diktat gebeugt und heult mit den Wölfen. Sie bewältigt die Personalanpassung ihrer Unternehmen mit wesentlich komplexeren Mitteln und notwendig größerem Aufwand als mit bloßem gesunden Menschenverstand. Die damit verbundene Empfindung, das sei ein Ausdruck oder mindestens eine Folge verbesserter sozialer Rechte, habe ich immer skeptisch gesehen. Ein Teil Wahrheit steckt da drin. Natürlich sind Arbeitnehmerrechte 2010 einklagbarer, selbstverständlicher als 1961. Mindestens in den Bereichen außerhalb des eigentlichen Bestandsschutzes kann man das sogar uneingeschränkt bejahen, wo z.B. Gleichberechtigungsfragen heute einen anderen (nämlich überhaupt einen) Stellenwert haben. Mein Lieblingsbeispiel ist nach wie vor die deutsche Großbank, die noch Ende der 60er “unverheirateten Fräuleins” die Stelle kündigte, wenn sie heiraten. Nicht etwa, um ihnen zu schaden, sondern um ihrem Mann einen Gefallen zu tun - sie mussten sich ja jetzt um eine Familie kümmern. Gesellschaftliche Fortschritte haben wir also gemacht, und das Arbeitsrecht ist dafür mitverantwortlich. Es gab aber stets ein anderes Element, das nichts mit gesellschaftlichem Fortschritt, sondern mit Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu tun hatte. 1961 stand nämlich auch keiner einfach draußen vor der Tür, schon gar nicht, wenn man jemanden mit einem bestimmten Fachwissen zu ersetzen hatte. Eine Kündigung für eine geklaute Maultasche hat man sich da zweimal überlegt (wiewohl wir meinen, dass sich der Arbeitnehmer von 1961 so eine Nummer auch eher nicht geleistet hätte). Die Rekordzahlen an Arbeitsrechtsverfahren (in den 90ern hier im Osten und Berlin etwa) fielen stets auch in Perioden, die einen Arbeitskräfteüberschuss hatten. Da kämpfte der Arbeitnehmer mit dem Rücken zur Wand. In den letzten Jahren etwa gab es in den fünf Bundesländern östlich der Elbe und Berlin ständig die Szene in immerwährender Wiederholung vor dem Arbeitsgericht, in der sich alle Beteiligten zwar auf eine Abfindung einigen wollten, aber nicht konnten - sie wäre ja bei Hartz IV angerechnet worden. Also durch - bis zum BAG. Bei einem Arbeitskräftemangel schwindet dagegen die Streitneigung. Wer will seinem Arbeitgeber schon Mobbing vorwerfen, wenn er den so empfunden Idioten einfach sitzen lassen und sich eine neue Stelle suchen kann? Richtig: Kaum einer. Wir machen uns daher mal Gedanken, ob man in 20 Jahren noch so viele Arbeitsrechtler braucht. Oh, graus.