Die Lektüre der Zeitung war arbeitsrechtlich heute erbaulich. Abgesehen davon, dass Easy Jet (die mit den tollen Bordmagazin) seine Leute auf die Straße setzt, damit sie die nächste Tarifstufe nicht erreichen, erfuhr man neues von der Kopftuchfront - durch ein „erst jetzt bekannt gewordenes“ Urteil des Arbeitsgerichts Berlin (55 Ca 2426/12). Das soll bereits aus dem Mai 2012 stammen, ist rechtskräftig und nie in der Rechtsprechungsdatenbank Berlin-Brandenburg aufgetaucht. Leider.
Dabei ist schon die Schlagzeile im Tagesspiegel fast reißerisch. Wohl zu „ersten Male“ habe ein deutsches Arbeitsgericht wegen des Kopftuchtragens eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ausgeurteilt. Gegen einen Zahnarzt. Der hatte der Trägerin (des Kopftuchs) bei ihrer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz bescheinigt, sie sei bestens qualifiziert, er nehme sie aber nur, wenn sie kein Kopftuch bei der Arbeit trage. Sie bekam 1.500 EUR Entschädigung nach § 15 AGG.
Alles richtig daran?
Erst mal eine Manöverkritik in alle Richtungen: Mit dem Vorsitzenden der 55. Kammer hatte ich vor einiger Zeit gesprochen, wie und unter welchen Voraussetzungen seine Urteile – und die anderer Kammern – eigentlich in die Landesrechtsprechungsdatenbank kommen. Er hat mit den Schultern gezuckt. Das Thema ist im Arbeitsgericht also wohl nicht gerade Priorität AAA+. Schade bei der 55., denn er schreibt gelegentlich kontroverse, aber intellektuell oft genug bedenkenswerte Urteile. Wie hier. Jetzt äußern sich – Monate nach dem Verfahren – alle mögliche Leute in der Zeitung. Auch von Antidiskriminierungsnetzwerken.
Leute:
Juristische Erfolge erzielt man, indem man in seinem Gebiet eine Rechtsprechung etabliert. Das nützt nichts, wenn man die Urteile dann nirgends öffentlich macht. Man kann sie an die NZA schicken oder die NJW oder ins Internet stellen – gerne auch in der dafür vorgesehenen Rechtsprechungsdatenbank. Einfach nur drüber zu reden, so dass niemand die Gründe lesen kann, ist nicht zielführend.
Das Urteil hat es nämlich in sich:
Der Zahnarzt hat offensiv argumentiert. Ihm gehe es um religiöse Neutralität. Unterstellen wir einen Moment, dass sei keine Ausrede (unterstellen, habe ich gesagt!): Dann argumentiert er ebenso wie alle Landesschulbehörden. Das Kopftuch ist ein Lehrerinnenphänomen geblieben. Die Lehrerinnen haben stets verloren: Die Landesschulgesetze haben eine staatliche Neutralitätspflicht verankert.
Die gibt es bei Zahnärzten nicht per se. Der Tagesspiegel zitiert aus dem Urteil:
Das AGG solle im Kern einem „menschlichen Grundübel“ entgegenwirken, dem Fremdenhass – wozu sich der mehrheitlich rot-grüne Gesetzgeber leider nie bekannt habe. Xenophobie, diesen Hass gegen Fremdes, gebe es aber „auch im progressiven Gewande“. „Die Frau mit Kopftuch gilt als unemanzipiert und rückständig. Dabei ist sie in Wahrheit nicht verkehrt, sondern nur anders. Und Mensch, unter dem Schutz der Gesetze.“
Die juristische Konsequenz ist auf den zweiten Blick erst klar: Neutralität ist nur staatlichen Institutionen gegeben, wohl auch nur dann, wenn sie einem Neutralitätsgebot unterliegen (etwa durch ein Landesschulgesetz). Andernorts – in privaten Einrichtungen – kann man sich nicht auf eine selbst verordnete „Neutralität“ zurückziehen. Danach verpflichtet, anders als gemeinhin angenommen, das Gleichbehandlungsrecht nicht dazu, alle Religionen gleich zu behandeln. Es verpflichtet vielmehr dazu, Religionen in ihren Ausdrucksformen explizit zu tolerieren.
Das ist ein argumentativer Schritt, der für viele Beobachter nicht zwingend ist.
Er ist nur denkbar bei Religionen und Weltanschauungen, nicht bei den anderen im AGG genannten Diskriminierungstatbeständen, das macht ihn besonders, spitzt seine Wirkung aber auch enorm zu. Bekanntlich ist Religion ja ein konfliktgeladenes Feld. Alter, Geschlecht, „Rasse“ oder „Ethnie“ (die anderen AGG-Merkmale) kann man anders als Religion und Weltanschauung nicht mit einem Neutralitätsargument ausschalten. „Wir sind ethnisch neutral“ klappt nicht, weil man dann gar niemanden einstellen kann, denn irgendeiner Ethnie gehören alle Menschen sichtbar an; ebenso unsinnig klingen „altersneutral“ oder geschlechterneutral („Wir haben hier Geschlechterneutralität, Sie aber sind eindeutig als Frau zu erkennen, deshalb stellen wir Sie nicht ein“). Bei Religion und Weltanschauung kann man die äußeren Zeichen abschalten: Kein Kreuz, kein Kopftuch, keine Kippa – was Du an Religion hast, zeige bitte nicht auf der Arbeit.
Ich bin überzeugt: Viele würden unterschreiben, dass hier die Neutralität gerade das Ziel einer Abschaffung von Diskriminierung sein sollte.
Der Arzt, der konsequent jede religiöse Symbolik untersagt, ist hier aber trotzdem als Täter – einer Diskriminierung – behandelt worden. Bei der Frage, ob das nicht über das Ziel hinausschießt, ist der augenfälligste Befund der, dass kein Grund ersichtlich ist, warum Neutralität nur bei Religion und Weltanschauung geeignet sein soll, eine Diskriminierung auszuschließen.
Die anderen Beispiele (Geschlechterneutralität) mögen sich absurd anhören. Neutralität entfaltet, betrachtet man es von ihrer Wirkung her, aber keine davon grundverschiedene Wirkung: Getroffen wird ja in der Wirklichkeit nur stets die Religion, bei der eine bestimmte (optische) Äußerung in Form eines Kopftuchs (eventuell) nicht „Mainstream“ ist. In Deutschland heißt das: Die Christin wird gar nicht auf ihre Religion angesprochen, weil man sie ihr regelmäßig nicht ansieht. Die Muslima schon, jedenfalls, wenn sie ein Kopftuch trägt. Es geht, wie immer beim Kopftuch, also um Bildsymbolik.
Bekennt man sich zu diesem Befund, wird die Diskriminierung eventuell nicht mehr so betrachtet, wie § 3 Abs. 1 AGG es scheinbar definiert:
(1) Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.
Der Arzt könnte nämlich zu Recht einwenden: Eine vergleichbar junge und gut ausgebildete Christin mit einem auffallenden Kreuz an einer Halskette hätte er auch gesagt: „Gerne, aber nur, wenn Sie das Kreuz im Dienst ablegen“. Was also macht ihn zu einem Täter?
Eine strikt juristische Bewertung führt da nicht zu einem eindeutigen Ergebnis:
Das Recht der Muslima, ihre Religion mit einem Kopftuch zu dokumentieren oder zu befolgen (die Frage, ob ein religiös zwingendes Gebot existiert, soll dabei keine Rolle spielen), ist durch das Grundgesetz geschützt (Art. 4 GG – Religionsfreiheit). Das AGG konkretisiert diesen Schutz in der Realität. Wie alle Grundrechte, existiert aber auch das Grundrecht aus Art. 4 GG nicht alleine, sondern kollidiert mit anderen – so der Berufsausübungsfreiheit und den Eigentumsrechten des Arztes an seiner Praxis (Art. 12 GG und Art. 14 GG). Das bedeutet so viel wie: „In meinem Haus bin ich der Herr – begrenzt durch die Religionsfreiheit“. Die Begrenzung erschließt sich gewöhnlich durch eine Abwägung: Grundrecht gegen Grundrecht. Wer soll in der Bewerbungssituation vorgezogen werden? Der Arzt kann sich erstaunlicherweise auch auf Art. 4 GG berufen – er kann sich als Atheisten darstellen und ein negatives Recht geltend machen: „Unterlasse Religionsbekundungen in meiner Gegenwart, jedenfalls, solange es in meinen vier Wänden und meinem Betrieb geschieht“ – so könnte der Programmsatz lauten. Ein eindeutiges Ergebnis gibt es da nicht. Denn die Artikel 12 und 14 sind zudem sehr einschränkbare, flexible Grundrechte – ist es wirklich so schlimm, wenn ich meine areligiösen Dogmen nicht in meiner Arbeitnehmerschaft umsetzen kann?
Schlauer wird man nur, wenn man eine soziologische Betrachtung hinzufügt: Es ist doch in Berlin glasklar, dass nur die Muslima mit dem Kopftuch als religiös auffallend wahrgenommen wird (oder auch der Jude mit der Kippa). De facto wirkt das vermeintliche „Neutralitätsgebot“ deshalb im Fall des Arbeitsgerichts wie eine Ablehnung von Muslimen, jedenfalls weiblichen. Daran führt kein Weg vorbei: Es zementiert den status quo, wenn man so will, der sagt, dass Kopftücher „hier“ nun einmal exotisch, ja provokant (implizit unerwünscht) sind und keinesfalls Mainstream. Will man das AGG dagegen ins Feld ziehen lassen, muss man also die Grundrechtsabwägung um eine Wirklichkeitskontrolle ergänzen. Man muss, um das Urteil zu rechtfertigen – und das hat das Arbeitsgericht ja in sehr deutlicher Form umgesetzt – betrachten, ob indirekt durch eine vermeintliche Neutralität nicht eine Diskriminierung bloß kaschiert wird.
Dieser Schritt ist außerordentlich und verdient, in künftiger Rechtsprechung, aber auch in der Literatur, künftig messerscharf herausgearbeitet zu werden. Denn diese Debatte sollte transparent sein. Sie markiert einen (vertretbaren, aber eben diskussionswürdigen) Übergang, bei dem aus „Antidiskriminierung“ eine Forderung zu positiv gelebter Toleranz – fast im Sinne der berühmten, aber auch berüchtigten „Affirmative Action“ – wird.
Das muss man wollen. Es hat weitreichende Folgen: Übertagen auf Geschlechterdiskriminierung kann man die Debatte um die Quote wiederbeleben – steht sie dann nicht schon im AGG? Denn: Dass die Bewerberin weiblich ist, wird man kaum übersehen können. Hat der Arbeitgeber keine 50% Frauen in der Hierarchieebene beschäftigt, käme er im Grunde schon in Erklärungszwang – die vermeintlich rein qualifikationsorientierte, „geschlechtsneutrale“ Einstellungspraxis wirkt dann de facto wie eine kaschierte Diskriminierung. Fälle, wie die berühmte GEMA-Entscheidung (zwischen BAG und LAG Berlin-Brandenburg über die Bande gespielt) bekommen so eine andere Legitimität. Die dort gefällten Entscheidungen haben das Probleme intuitiv angesprochen, aber nicht so deutlich wie das Arbeitsgericht herausgearbeitet. Das Problem wird dort wie in der Literatur als „verdeckte“ Diskriminierung durchaus gesehen, nur: Eigentlich wäre es bei konsequenter Überlegung ja egal, ob sich jemals eine Frau für eine Führungsposition bei der GEMA beworben hat (vgl. BAG, Urteil vom 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08). Alleine schon ihre Wahrnehmbarkeit als Frau – wie im Fall des Arbeitsgerichts Berlin der Bewerberin als Muslima – indiziert dann eine Diskriminierung.
Es beschleicht einen das Gefühl: Das geht ein bisschen weit. Jetzt könnte man noch einwenden, der GEMA-Bewerberin habe man ja nie mitgeteilt, sie werde nicht genommen, weil sie ein Frau sei (“gläserne Decke”), während man die Muslima auf das Tuch des Anstoßes hinwies. Das bezeichnet aber nur das Indiz für die Diskriminierung, nicht die Diskriminierung selbst.
Daran kann man aber auch erkennen, dass ein soziologisch motiviertes Programm innerhalb des AGG eine Begrenzung braucht, um nicht uferlos zu werden. Die Grenze muss eigentlich unterhalb der Schwelle liegen, die eine starre Quote vorgibt – nur wo? Es gilt: Die Geister, die man ruft, wird man nicht so schnell wieder los.
Genauso wenig kann man aber ignorieren, dass bei Diskriminierungsfällen Recht so soziologisch ist wie andernorts selten. Es ist eben eine Mainstreamfrage: Sind Kopftuchträgerinnen akzeptiert, obwohl sie kein Mainstream sind, geht auch die Diskriminierung zurück. Das Arbeitsgericht hat damit mutig, aber richtig entschieden. Denn Diskriminierung oder ihre Abwesenheit hat auch mit wechselseitiger Erfahrung zu tun, der man sich erst einmal aussetzen muss. Ein Erfahrungsbericht des Autors zeigt z.B.: Ein Betriebsausflug findet per Bus mit 50 Leuten drei Tage durch die Schweiz statt. An Bord dabei: Eine einzige Muslima (klar in der Minderheit also und ebenso “auffällig” wie die Berliner Bewerberin), mit Kopftuch und diskretem, aber stetigem Ausrollen eines Gebetsteppichs. Das war kein Experiment, sondern eine Mitarbeiterin. Aber: Anders als der Zahnarzt im Fall hatte sie bei der Bewerbung nicht gesagt bekommen, sie solle sich auf Arbeit anders anziehen. Sie hat im Betrieb – ein Büro – dann monatelang ihre Arbeit verrichtet, bevor der Betriebsausflug kam. Das durchaus bemerkenswerte Ergebnis bestand darin, dass ihre Kollegen die – sieht man es durch die Brille des Zahnarztes in Berlin – gelebte Religiosität gar nicht mehr wahrgenommen haben. Damit ist nicht „ignoriert“ gemeint, sondern „als normal empfunden“. Es findet keine Ausgrenzung mehr statt, weil man durch Erfahrung klug geworden ist (mancher hat auf zunächst schüchterne Nachfrage dann auch Sachen über den Koran erfahren, die er nicht wusste). Die nächste Bewerberin mit Kopftuch hat deshalb keine Ablehnung und damit auch keine Diskriminierung zu befürchten. Das mag in Ansätzen Klippschulsoziologie sein, funktioniert aber nur, weil der vermeintlich ach so große religiös-kulturelle Graben schon mit der allerersten Erfahrung zugeschüttet war. Dazu müssen manche Leute ein wenig geschubst werden.
Das spricht für das Arbeitsgericht Berlin und die Haltung der 55. Kammer.