Was ist eine „Behinderung“? § 2 SGB IX gibt Aufschluss:
„…Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist…“
Durch ein Berliner Urteil aus dem Juli 2011 (ArbG Berlin, 21.07.2011 – 17 Ca 1102/11), das seinerzeit Wirbel machte (Kommentare auf dem Beck-Blog und bei der Rechtslupe) bekam die Definition eine Art Popularitätsschub: Der Kläger im Verfahren wollte eine Entschädigung, da er als HIV-Infizierter gerade deswegen gekündigt worden war. Aus seiner Sicht sicher schmerzhaft meinte das Arbeitsgericht, das sei hart, aber es habe auch für den Arbeitgeber Verständnis, der eine Infektion für einen Risikofaktor am Arbeitsplatz halte. Der Kläger war nämlich als Laborant beschäftigt. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Grund natürlich: Nach der o.g. Definition ist ein lediglich HIV-Infizierter keinen Einschränkungen unterworfen, die ihn als behindert erscheinen lassen. Nur Behinderte darf man aber nicht diskriminieren, andere „Kranke“ schon – oder wie?
Nun lässt der Kläger auf verschiedenen Kanälen melden, er werde beim LAG Berlin-Brandenburg Berufung einlegen. Hat er Aussichten auf Erfolg?
Das Interessante an der Entscheidung ist zunächst nicht etwa, dass sie „falsch“ oder gar himmelschreiendes Unrecht wäre. Ganz im Gegenteil muss man strikt rechtsgebunden wohl sagen, dass durch das AGG eben nur eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung geschützt ist; lehnt man sich aber an das SGB an, wenn es um die Definition geht, dann hat ein HIV-Infizierter völlig offensichtlich keine Behinderung.
Der Fall wirft allerdings ein Schlaglicht darauf, dass Diskriminierung in einem umgangssprachlichen Sinne eigentlich immer bei einer als Unrecht empfundenen Ausgrenzung gesehen wird, das Gesetz aber scheinbar viel enger ist.
Der HIV-Infizierte wird auch als Laborant vorbringen (und vermutlich seriös vorbringen können), dass er keine Gefahr darstelle, weil er Laborproben nicht infizieren könne; für Hepatitiskranke oder andere mit einer chronischen Infektion gilt im Grunde auf den ersten Blick dasselbe. Mit ein bisschen Nachdenken zeigt sich: Es ist eben schon sehr schwer, objektiv festzustellen, wann man eine vorurteilsbeladene Ausgrenzung vor sich hat. Den Pförtner wegen einer HIV-Infektion zu kündigen, wird sicher jedermann für verwerflich halten. Der Laborant dagegen liegt mitten im Graufeld der Vorurteile. Wie das Arbeitsgericht sagte, viele werden „Verständnis“ haben, dass man diese Art der Tätigkeit als Risikofaktor ansieht – aber ist das Verständnis wirklich sachlich begründet? Mein eigener Sohn hatte eine Herpesinfektion im Alter von 2 Jahren, die das Auge befiel und an der er hätte erblinden können. Deshalb sind auf Säuglingsstationen Herpes-Infizierte, bei denen die Krankheit gerade ein Akutstadium hat, nicht willkommen. Als besorgte Eltern wird man meinen, Leute mit Herpes hätten da dann auch generell nichts zu suchen. Aber wenn man weiß, dass mehr als 90% der Bevölkerung damit infiziert sind, ist die vermeintliche „Igitt, bloß weg…“ Reaktion ja gegen die Allgemeinheit gerichtet. Ausgrenzung und Diskriminierung sind ein schwieriges Feld.
Der deutsche Gesetzgeber des AGG hat den oben zitierten Behinderungsbegriff zugrunde gelegt. Das ergibt sich eindeutig aus der Gesetzesbegründung. Allerdings dürfte das ziemlich egal sein. Das AGG dient der Umsetzung europäischen Rechts; die Gedanken des deutschen Gesetzgebers sind damit ausnahmsweise kein taugliches Mittel zur Gesetzesauslegung. Und der Europäische Gerichtshof hat verschiedentlich angedeutet, sein Behindertenbegriff sei weiter – und stelle vor allem auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt ab (interessant EuGH, Urt. v. 11.06.2006, Rs. C-13/05). Es bleibt bis heute aber unklar, wo man die Grenze zwischen „Krankheit“ und Behinderung ziehen will – und ob das überhaupt die richtige Fragestellung ist. Der HIV-Infizierte ist nach den meisten Definitionen nicht einmal krank, er wird es erst, wenn er AIDS entwickelt. Die Ausgrenzung liegt aber trotzdem auf der Hand. Häufig wird darauf hingewiesen, dass die USA einen Diskriminierungsschutz für HIV-Infizierte haben. Das ist allerdings nur der Vergleich von Äpfel und Birnen, denn das Diskriminierungsrecht hat dort eine andere Funktion.
Es hilft also alles nicht: Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wird sich wohl auf einen eigenständigen Diskriminierungsbegriff im AGG zubewegen und die Bindung an das Sozialrecht über Bord werfen müssen. Der Kläger hat also durchaus Chancen, unter eine solche neue Definition zu fallen. Denn wenn man lesen kann (hier etwas in der “Süddeutschen Zeitung”), dass es in Krankenhäusern Sonderregeln nur für HIV-Infizierte Ärzte gibt, die selbst operieren, dann kann er sicher mehr Objektivität einfordern, als die Bemerkung, er sei eben ein Risikofaktor.
Dem LAG Berlin-Brandenburg steht daher – wieder einmal nach Emmely, der Geschlechterdiskriminierung und der CGZP – eine schwierige Operation bevor.