Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
31.12.2012

2013 drehen alle Arbeitnehmer voll durch

Wirklich: Der DGB meint, das sei schon 2012 und das Jahr davor und das Jahr davor und das Jahr davor so gegangen, Tendenz steigend, versteht sich, Burnout auf dem Vormarsch; Frühverrentung wegen psychischer Schrottreife ebenso; auch die aktuelle Meldung (diesmal über die Deutsche Rentenversicherung Bund und die “Welt am Sontag” verbreitet) wird so etwas vier- bis fünfmal im Jahr geklont.

Dabei ist nichts so schwer einzuschätzen wie die Psyche der Menschen, noch dazu für Arbeitgeber und Sozialversicherer – wenn die Menschen, die betroffen sind, Arbeitnehmer und damit (auch) Anspruchssteller sind. Nicht alles ist natürlich Lug und Trug auf diesem Gebiet. Die Anerkennung der Depression als massive und unterschätzte Erkrankung hat in der öffentlichen Wahrnehmung Jahrzehnte gedauert, war aber ein Fortschritt. Subjektiv-empirisch hat die alltägliche Aushändigung des „gelben Scheins“ durch einen nachlässig-verantwortungslosen Arzt (in bestimmten Konstellationen ein Regelfall) aufgrund einer vorgeblich psychischen Erkrankung, die eine Woche zwischen zwei Feiertagsblöcken andauert, aber auch einen anderen Grund: Anders als bei einer Infektion fällt die Überprüfung schwerer. Wo sonst alle immer ohne Anlass „Missbrauch“ schreien, bleiben die Mahner beim Thema „psychische Erkrankung am Arbeitsplatz“ auffallend still. Das wird sich noch rächen, Opfer werden die ernsthaft psychisch Kranken sein.

Warum so viel Gift und Galle zum Jahresende? Weil 2013 die beginnende Erosion medizinischer Diagnosestandards drohen könnte (Kurzübersicht in einem übrigens auffällig gut recherchierten Artikel bei n-tv ). Wir werden unbemerkt alle zu Spinnern, hätte man früher dazu gesagt.

In Deutschland gibt es amtliche Diagnoseklassen, die von der Weltgesundheitsorgnisation übernommen werden (ICD-10 in der Version 2013). Das ist keine Bibel, aber als wissenschaftlicher Standard funktioniert es international erstaunlich gut für arbeitsrechtliche Zwecke. So wird, weil nicht klassifizierbar, die Ausrede des Gekündigten („…ich bin krank, weil süchtig nach Internetpornos – also durfte ich den ganzen Tag surfen…“) wenig Gehör finden, in der Regel jedenfalls (nein; das ist nicht erfunden, sondern aus dem Leben gegriffen).

Wissenschaft lebt von Aktualität und eine der wichtigsten Quellen der – derzeit bearbeiteten – Nachfolgeleitlinie ICD-11 ist das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM), das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird und jetzt in der 5. Auflage herauskommt. Zu einem Konzert von Kritik, die sich so zusammenfassen lässt: Wir öffnen Tür und Tor, Krankheiten zu attestieren, die gar keine sind. Gesunde zu Kranken zu klassifizieren (denken Sie an den bayerischen Fall Mollath, dann wissen Sie, wie problematisch dieses Feld ist). Mit allen rechtlichen und gesellschaftlichen Folgen.

Chefkritiker ist Allen Frances, der DSM-4 verantworten hat und laut gegen das neue System anschreibt (hier in der ohnehin wundervollen Huffington Post). Er hat es so auf den Punkt gebracht:

Except for autism, all the DSM-5 changes loosen diagnosis and threaten to turn our current diagnostic inflation into diagnostic hyperinflation. Painful experience with previous DSMs teaches that if anything in the diagnostic system can be misused and turned into a fad, it will be.

Was missbraucht werden kann, wird missbraucht werden. Nichts leichter als das.

Der DGB hat in einem Recht: Das kann Milliarden kosten. Es kann auch nicht sein Bewenden damit haben, dass man nach dem Prinzip verfährt, bei der gesellschaftlichen Abhandlung psychischer Erkrankungen sei immer die Hälfte des Geldes zum Fenster herausgeworfen, man wisse nur nie, welche. Es geht auch um mehr als darum, die Spreu vom Weizen zu trennen. Es geht darum, dass sich nicht nur hinter den Türen der Rentenversicherer, sondern auch Arbeitgeber, Arbeitnehmervertreter und vor allem die Arbeitsgerichte in aller Öffentlichkeit einer Erkenntnisdiskussion stellen, nämlich der, dass „psychisch“ kein Totschlagargument und keine Moralkeule ist, sondern ein janusköpfiges Phänomen, mit dem wir lernen sollten umzugehen, bevor wir unbemerkt zu einem Volk von Psychopathen werden (das ist begrifflich natürlich polemisch. P-o-l-e-m-i-s-c-h-!).

Ist nämlich alles eine Frage der Definition. Also starten Sie gesund nach 2013.