Dieses neue Urteil des LAG Berlin-Brandenburg
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6.5.2011 – 6 Sa 2558/10
ist eine Art richterlicher Nothilfe. Es wurde dieser Tage zwar schon oft rapportiert (auch in LawBlogs). Aber irgendwie scheint es keiner lesen zu wollen, denn es geht in den Besprechungen immer nur um “Abmahnungen” und ihre Entbehrlichkeit.
Dabei gibt es doch so viel Unterhaltsames. Also – vor Pfingsten:
Was war passiert?
Berlin. In einen Bus des ÖPNV (in Berlin von der BVG betrieben) steigt ein Fahrgast ein (1). Er stellt sich als Kollege des Busfahrers heraus (2). Die beiden geraten in Streit (3). Der Inhalt des Gesprächs ist streitig. Angeblich hat der zugestiegene Kollege den Fahrer beschuldigt, sich mit Fahrgästen zu unterhalten (4). Darauf will der Fahrer den Kollegen aus dem Bus werfen, der will aber nicht gehen. Er hält deshalb den vollbesetzten Bus an und ruft die Polizei (5). Der erzählt er von der ungeheuerlichen Anschuldigung, von der Weigerung des Kollegen, den Bus zu verlassen und davon, dass bei der Beklagten die Arbeitsbedingungen “menschenunwürdig” seien. Die Verkehrsbetriebe feuerten ihn.
Fußnoten eines Berliners:
(1) Passiert manchmal.
(2) Die dürfen auch mitfahren.
(3) Kommt oft vor. Neulich rief ein Fahrgast von hinten nach vorne “ey, ich helf Dir gleich beim Fahren…!” – Vollbremsung. Den Rest ersparen wir uns hier.
(4) Darf man nicht, als Fahrer, wird aber ständig angequatscht.
(5) Vollen Bus abstellen, das hatten wir schon. Die Polizei rufen - das noch nicht…
Was meint das Landesarbeitsgericht dazu?
“…Der Kläger hatte seine Arbeitspflicht und seine Pflicht zur Rücksichtnahme auf deren Interessen gemäß § 241 Abs. 2 BGB vorsätzlich schwer verletzt, indem er die Beklagte bzw. deren Auftraggeberin gleichsam „aus Daffke“ öffentlich vorgeführt hat. Angesichts der auch in seiner Bezeichnung der Arbeitsbedingungen als menschenunwürdig zum Ausdruck gelangten Einstellung des Klägers bestand die Gefahr, dass dieser bei nächster Gelegenheit erneut rücksichtslos seine auch nur vermeintlich berechtigten Interessen öffentlichkeitswirksam verfolgen würde…”
Kennen Sie “Daffke”? Das versteht der Busfahrer sicher. Endlich schreiben auch Gerichte mal in einer Sprache, die man versteht. Jedenfalls: Kündigung wirksam!
Witzig?
Sie kennen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin aus der Vorinstanz nicht.
Das ist nicht in der Rechtsprechungsdatenbank. Den Grund kennen wir natürlich nicht, aber: Nach dem Urteil war die Kündigung unwirksam. Und das – mal abgesehen von der Nummer mit dem abgestellten Bus und der Polizei und der Menschenunwürdigkeit – obschon der Kläger:
- Im Mai 2010 zwei Abmahnungen erhalten hatte, weil er den Bus (vollbesetzt) stehen ließ, um sich erst mal was zu Trinken/Essen zu kaufen (ja. Wirklich. Kennen Sie im Süden nicht? Schade!)
- Im selben Monat die Fahrgäste lautstark per Lautsprecher über eine unmittelbar bevorstehende Fahrscheinkontrolle unterrichtete
- Im selben Monat den (leeren) Bus unverschlossen stehen ließ, um nach Hause zu gehen.
Dem Arbeitgeber reichte es, dem Arbeitsgericht nicht. Er sei doch schon sooo lange dabei (9 Jahre), hieß es da (hat wohl jemand “Emmely” gelesen). Und so richtig einschlägig seien die Abmahnungen auch nicht gewesen. Waren ja auch wegen Nahrungsversorgung ausgesprochen worden. Der Kläger habe “überreagiert”.
Die Art von Begründung ist es, die Arbeitgeber manchmal am Rechtsstaat zweifeln lässt. Gottseidank kann man Berufung einlegen. Nicht nur aus Daffke.
Weblinks:
Unbedingt lesen:
Kollege RA Dan Fehlberg aus Chemnitz (Arbeitsrecht Chemnitz), der einen anderen, aber aus unserer Sicht schlicht DEN Busfahrerfall überhaupt aufgetan hat: http://arbeitsrecht-chemnitz.blogspot.com/2011/05/beschadigen-busfahrer-das-ansehen-der.html
Auch gut:
Andere Ansicht: http://www.lehrstellen-verein.de/blogg/archives/11213
RA Marcus Bodem (ECOVIS): http://www.rechtsanwalt-arbeitsrecht-berlin.com/2011/06/09/lag-berlin-brandenburg-bvg-busfahrers-muss-gehen-bvg-arbeitsbedingungen-sind-wohl-doch-nicht-menschenunwurdig/
Rechtsanwalt Arbeitsrecht Berlin Blog (mit New-York-Vergleich): http://rechtsanwaltarbeitsrechtberlin.wordpress.com/2011/06/08/lag-berlin-kundigung-da-busfahrer-polizei-aus-nichtigen-anlass-ruft/