Da liegen Welten dazwischen: Während das Bundesarbeitsgericht noch letztes Jahr meinte, Anwälte bekämen bitteschön keine Überstunden bezahlt, gilt nach dem neuesten gilt nach dem jüngsten Überstundenurteil vom 22.02.2012 genau das Gegenteil für Lagerarbeiter, die auf 1.800 € gesetzt sind. Der konkrete Lagerarbeiter jedenfalls bekam fast 1.000 Überstunden zugesprochen.
Die Welt ist nicht so verkehrt und es wird auch nicht ungerechtfertigt mit zweierlei Maß gemessen. Das BAG macht nur endlich, endlich, klare Ansagen. Dass das notwendig ist, daran ist es allerdings selbst schuld:
Es geht um die Regelung von Überstunden im Arbeitsvertrag. Früher, als bekanntlich alles besser wäre, war “alles” ja auch einfacher. Da hat man kurzerhand die Formel verwendet
“Überstunden sind mit dem Grundgehalt abgegolten”
Vor fast exakt 52 Jahren, am 24.02.1960, fand das BAG das noch in Ordnung (4 AZR 475/57). Sogar im öffentlichen Dienst. Das passte in die Zeit. Der Krieg war so lange vorbei wie für uns im Jahr 2005 die DDR, man atmete durch und baute auf, Konrad Adenauer war Kanzler, Heinrich Lübke Bundespräsident und immerhin Dwight D. Eisenhower Präsident der USA. Was das mit Überstunden zu tun hat, ist noch ungeklärt. Also zum Thema:
Natürlich haben damals auch viele die bange Frage gestellt, wie viel denn nach so einer Klausel genau gearbeitet werden müsse – eine, zwei oder zehn Stündchen vielleicht, pro Woche oder pro Monat eventuell? Hm, in der ersten Auflage des Erfurter Kommentars von 1998 hat Ulrich Preis (§ 611 BGB, Rd.-Nr. 951) schon vorausschauend mitgeteilt, das könne man in dieser Pauschalität – allenfalls – bei leitenden Angestellten durchgehen lassen.
Der 5. Senat und das AGB-Recht haben das Ganze dann bekanntlich beendet (Urteil vom 31. 8. 2005 – 5 AZR 545/04). Das sei eine intransparente Regelung, die an § 307 Abs. 1 S. 1 BGB scheitere. Der Arbeitnehmer könne nicht erkennen, wie viele Stunden er danach denn für sein Geld zu leisten habe. Eine ebenso logische wie lebensfremde Bewertung natürlich. Wer ständig schuften muss, kündigt meist oder klagt erfolgreich auf eine Viertelmillion Schmerzensgeld, aber das ist eine andere Geschichte. Das ganz große Heulen blieb übrigens im juristischen Blätterwald aus. Die Entscheidung schlich sich erst ganz langsam in das Bewusstsein von Arbeitgebern.
Schlaflose Nächte hatten die Anwälte dieser Arbeitgeber. Sie mussten sich jetzt komplexe Überstundenklauseln ausdenken. Statt des Satzes oben gibt es z.B. folgende Monster:
„…Die Arbeitgeberin kann Über- und Mehrarbeit im von bis zu ____ Stunden monatlich bei Bestehen eines betrieblichen Bedürfnisses anordnen. Diese Über- bzw. Mehrarbeit ist im Grundgehalt abgegolten-ten. Darüber hinaus gehende Über- oder Mehrarbeit ist nur aufgrund einer einvernehmlichen Ab-sprache möglich. Treffen die Parteien keine gesonderte Vereinbarung, dann wird Über- oder Mehrarbeit nach Wahl der Arbeitgeberin entweder entsprechend der Vergütung für sonstige Arbeit in Geld vergütet oder durch Freizeitausgleich in gleichem Umfang ausgeglichen. Dieser Ausgleich kann in beiden Fällen nur innerhalb von 6 Monaten nach Leistung der Über- oder Mehrarbeit erfolgen. Macht der Arbeitnehmer in diesem Zeitraum keinen Ausgleich geltend, verfällt der Anspruch…“
Es gibt noch schlimmere Dinger. Rainer Göhle nennt das manchmal die Tendenz zum „Telefonbuch“ in Arbeitsverträgen, Recht hat er.
Das Ganze wirft noch eine andere Frage auf.
Wenn also die Klausel unwirksam ist, dann – sabber – darf ich dann alle Überstunden gelten machen (Verjährung: 3 Jahre auf Jahresende – d.h., bis zu fast vier Jahren. Großartig!)? Diese an sich richtige Überlegung hat eine Berliner Rechtsanwaltskanzlei vor einiger Zeit motiviert, mal alle Associates (so nennt man angestellte Rechtsanwälte in der Welt der großen Kanzleien, damit es nicht so unschick klingt; manchmal wird es auch „Associslaves“ gedoppelt, aber das sind ja wieder böse Zungen) der großen Kanzleien anzuschreiben. Leute, Ihr habt da eine Menge Überstunden, weiß man ja, und wenn ihr mal fliegt (nach dem schönen Grundsatz „up or out“, sehr arbeitsrechtskompatibel…), dann greift zu, wir helfen Euch gerne.
Beim BAG steckte man da eine Niederlage ein (Urteil vom 17.8.2011, 5 AZR 406/10). Klar: Nur sehr böse Zungen sagen, das habe daran gelegen, dass der Kläger ein Anwalt war. Der Grund ist ein kleiner Zwischenschritt. Wenn der Vertrag im A…Eimer ist, gilt das Gesetz. Das Gesetz sagt:
„…§ 612 Vergütung
(1) Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist…“
Diese Vergütungserwartung knöpft man sich in Erfurt jetzt mit klaren Regeln vor: Der Anwalt mit seinem exorbitanten Einkommen erwartet natürlich nicht, dass er zusätzlich bezahlt wird. Jetzt kommt eine relativ klare Ansage: Es muss bezahlt werden, wenn – so zumindest die Pressemitteilung zum Fall – der Arbeitnehmer kein
herausgehobenes Entgelt
beziehe. Das ist sicher keine glasklare Abgrenzung, aber sie ist hilfreich.
Bei 1.800 EUR monatlich kann man wohl nicht von „herausgehoben“ reden. Wer jetzt immer noch schlaflose Nächte hat, dass seien Arbeitnehmer ihn mit Überstundenansprüchen traktierten, deren Rechtsgrundlage bis Erfurt auszustreiten ist, kann wieder einschlafen. Er darf auch von der guten alten Ausschlussfrist träumen.