Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
17.05.2013

Überlandpartie (und warum ich trotzdem Anwalt geblieben bin)

Der Ausdruck „Blog“ leitet sich – falls Sie es nicht wissen – von (engl.)  „weblog“ ab. Deshalb heißt es auch eigentlich „das“ Blog, es ist ein Tagebuch. Ich wollte nie eins führen. Aber die letzten zwei Tage muss ich mir von der Seele schreiben. Wegen Zeitverschwendung und Frust war Ihr Autor nämlich geschädigt in diesen Tagen! Dass das keine Spätfolgen hat, liegt an der Bibliothekarin des BAG. Es ist die Geschichte einer Reise im Frühsommer, die ich mir ganz anders vorgestellt hatte.

Station 1: Berlin, 14.5.

Der Kläger (in Stuttgart) will Überstunden haben. Also deren Auszahlung, ein kapitaler Wert ist da aufgerufen, man fragt sich, wann der Mann mal geschlafen haben will. Er hat (September 2012) eine unschlüssige Klage eingereicht, das Gericht im Januar 2013 auf die Unschlüssigkeit hingewiesen. Weiter kam nichts. Der Klageabweisung war entgegen zusehen, der Stuttgarter Kollege zur Abholung des Urteils bereits in die Spur gebracht. Da sehe ich die Post durch – und nein. Ein Kollege aus dem Schwäbischen hat sich neu bestellt und seitenweise Ansprüche gelistet. Man erwartet offenbar Gegenvortrag quasi über Nacht, nachdem man sich selbst ein paar Monate Zeit gelassen hat. Richter telefonisch (natürlich) unerreichbar. Also Flug gebucht und nach Stuttgart geschwebt.

Sie haben keine Reihe 13 im Flieger. Abergläubisch? Pah!

Station 2: Stuttgart, 14.5.

In Stuttgart ist Messe.

Alle Hotels sind deshalb ausgebucht. Alle Bekannten, Verwandten und sonstigen Übernachtungsopfer bekommen anscheinend dafür frei, d.h., sind nicht in der Stadt. Das einzig freie Hotel darf froh sein – sehr froh – dass ich mir nicht die Mühe mache, seine Leistungen auf einer der berüchtigten Bewertungsplattformen darzustellen. Sagen wir: Es macht meiner Heimat keine Ehre…

Station 3: Stuttgart, 15.5., S-Bahn Feuersee

Ich steige am Feuersee aus, die Sonne scheint und ich trotte die Johannesstraße zum Arbeitsgericht hinauf. Wer in Stuttgart groß geworden ist, weiß, dass man immer Klettern muss. Irgendwann geht es auch wieder runter. Auf der anderen Seite oder auf dem Rückweg.

Aber ich mache immer wieder neue Entdeckungen beim Klettern, so auch heute. Etwa eine Form des gemeinsamen Betriebs mehrerer Unternehmen, der möglicherweise zwar gemeinsam, aber kein Betrieb ist. Dazu muss ich aufklären, dass nach der Rechtsprechung des BAG sich zwei (oder mehr) Unternehmen zusammentun können, um einen gemeinsamen Betrieb zu gründen (z.B. BAG, Beschluss vom 11. 2. 2004 – 7 ABR 27/03). Das gilt es aus Arbeitgebersicht eher zu vermeiden – dann werden nämlich z.B. die Arbeitnehmer beider Betriebe für die Betriebsgröße zusammengerechnet, die etwa nach § 23 Abs. 1 KSchG für die Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes relevant ist.

Es gibt aber auch besondere „gemeinsame Betrieb“ in der Johannesstraße in Stuttgart.

Dieses Exemplar hängt seit Jahren da, aber ich habe es mir noch nie angesehen.

Was fällt auf? Genau: Hier muss man sich fragen, ob es wirklich einen gemeinsamen Betriebszweck gibt. Allerdings hat eine Wellness-Fahrschule natürlich ihren Reiz. Also doch Zusammenrechnung? Ich lasse den Gedanken fallen und quäle mich zum Arbeitsgericht vor.

Station 4: 15.5., Arbeitsgericht Stuttgart

Der (neue) Kollege im Verfahren ist wenigstens kein Krawallanwalt, sondern ebenso nett wie kompetent. Besser so: Ich habe mich in der Jugendherberge (Komfortniveau) dem Luxushotel (Preis) so verlegen, dass ich kaum reden oder auch nur den Hals wenden kann. Ich muss still leiden. Aber weil wir keinen Vergleich hinbekommen, wissen wir nun auch nicht, was wird.

Aufruf zur Sache.

Richter (zu mir):

Sie haben noch gar nicht erwidert

Ich:

…weise höflichst auf das Datum des letzten Klägerschriftsatzes hin.

Stille. Ich renke heimlich an meinem Hals herum.

Richter:

Verspätung, Zurückweisung, halte ich nichts von.

Ich:

Ja, ich auch nicht. Dürfte auch schwer werden. Es sind keinerlei Belehrungen erteilt worden. Aber ich will dann doch ein bisschen Zeit für eine Erwiderung…

Es werden ein paar Meinungen ausgetauscht. Und es gibt eines Tages einen neuen Termin.

Ich fühle mich unproduktiv.

Station 5: 15.5., Johannesstraße, bergab

Auf dem Weg den Berg wieder herunter ein anderes Schild, das mir noch nie aufgefallen war:

Gut, was soll man als Schwabe auch sonst machen. Irgendwie kommt mir das für einen Augenblick produktiver vor als „Rechtsanwalt“.

Ich muss nach Erfurt, zum Bundesarbeitsgericht. Aber erst morgen. Alles wird gut, und auch Erfurter Hotels sind viel besser.

Station 6: 15.5., Hauptbahnhof Stuttgart

Ich lasse mal so viel beiseite, was zum Hauptbahnhof Stuttgart allgemein gerne gesagt wird (die meisten Menschen kennen ja nur den Namen seiner künftigen Reinkarnation „Stuttgart 21“. Wird ein Spaß, sich als Ausländer zum „Hauptbahnhof“ durchzufragen, wenn der Name kleben bleibt). Stelle fest, dass heute ein Zug immerhin pünktlich war: Die letzte ICE-Verbindung, über die man heute hätte Erfurt erreichen können. Weil sie so pünktlich war, konnte sie mich nicht mehr mitnehmen. 3 Minuten machen den Unterschied.

Als Kind stand ich staunend an einem der damals neu eingeführten Baureihen für die Intercity-Züge. Cool war auch der englische Name. Das damalige Spitzenprodukt! Heute, im kriegszerstörten umgebauten halbzerstörten was weiß denn ich selbigen Stuttgarter Hauptbahnhof sieht derselbe Intercity-Typ, mit dem ich – nach zweimaligem Umsteigen – nach Erfurt kommen kann, aus, als wäre der Lack gewaltig ab. Aber ich bin ja auch nicht mehr jung und das neue Spitzenprodukt heißt ja ICE – nur fährt es heute nicht mehr nach Erfurt, s.o.

W-LAN gibt es in ICs nicht. Warum auch.


Station 7: 15.5., Erfurt, Bahnhofsvorplatz

Soll Beate Zschäpe hier nicht mal rumgeballert haben? Davon wusste ich bei meinem letzten Aufenthalt noch nichts und schaue mich ängstlich um, bevor ich mir selbst sage, dass ich zu viele Thriller lese und jetzt endlich ins Hotel muss.

Station 8: 15.5., Erfurt, Hotel

Es entfacht sich ein Regensturm, Minuten, nachdem ich das Hotel betreten konnte. Das erste Mal Glück heute. Die Laune hebt sich.

Station 9: 16.5., Erfurt im Stau

Auch der Taxifahrer kennt keinen besseren Weg: Die Dauerbaustelle am Juri-Gagarin-Ring macht das Fortkommen zeitintensiv. Na schön. Ich schweife in die Vergangenheit und denke zum tausendsten Mal, dass ich auf einer Klassenfahrt im selben Hotel gewohnt habe. Aber damals hieß es eben noch „Jugendhotel Völkerfreundschaft“ (und wurde nach der Wende kurz ein Filzskandal). Das wissen viele jüngere Locals nicht. Ist aber besser geworden seitdem. Und manchmal glaube ich, ich werde alt.

Station 10: 16.5., 6. Senat, Bundesarbeitsgericht, Verhandlungssaal IV

Der 6. Senat soll eine Tarifvorschrift auslegen. Und ich fühle mich unwohl. Weil ich die zweite Runde gewonnen habe. Rechtsmittelinstanzen, finde ich in einer kleinen Ecke meines Herzens, sind ja nicht da, um durchzuwinken, was die Vorinstanzen gemacht haben. Das ist nicht das ganze Bild, ich weiß.

Station 11: 16.5., Ernst Fischermeier

Das ist der Vorsitzende des Senats. Er hat eine Anmerkung, in eine Nachfrage gekleidet. An mich. Nie ein gutes Zeichen, diese Art der Nachfrage ist gefürchtet. Sie deutet die Niederlage an. Schlimm: Ich verstehe nicht, was er meint. Auch kein gutes Zeichen. Hier gibt es etwas, das nur der Senat weiß. Und tatsächlich: Das Verfahren geht verloren. Beim BAG immer dumm: Darüber gibt es nur den blauen Erfurter Himmel.

Immerhin nehme ich noch wegen meiner Anmerkungen zum Thema „Kündigung ohne Abgabe eines Datums“ den Hinweis mit, dass am 20.06.2013 darüber beim 6. Senat verhandelt wird. Das ist – ehrlich – auch spannender als meine Tarifsache heute, denke ich.

Fühle mich nutzlos und freue mich auf den ICE nach Berlin (Umsteige Leipzig).

Station 12: 16.5., Bibliothek beim BAG

Bevor ich den Petersberg hinter mir lasse, fällt mir Gottseidank noch eine Anfrage ein – ob ich eine bestimmten Tarifvertrag hätte (den ich natürlich nicht habe, denn der Anfragende verfügt über weitaus größere Ressourcen als ich). Aber gelegentlich meines (erfolglosen) Termins wollte ich mal sehen, ob nicht die BAG-Bibliothek aushelfen kann. Das ist die letzte Instanz auch bei arbeitsrechtlichen Sammlungen.

Die Bibliothekarin nimmt sich eine gefühlte Stunde für mich. Sie findet das Exotenexemplar dann schließlich. Mein Herz schlägt höher. Es war nicht umsonst! Bin mit dem BAG versöhnt und hinterlasse vermutlich den Eindruck in der Bibliothek, man habe dort heute jemanden mal richtig glücklich gemacht. Stimmt auch.

Freue mich jetzt wirklich auf den ICE

Der hat Verspätung, deshalb erreiche ich ihn pünktlich.

Vielleicht – aber nur vielleicht – ist der Beruf doch noch tragbar.

Frohe Pfingsten.