Juristische Revolten kündigen sich auf leisen Sohlen an.
Wenn Sie überhaupt über die Entscheidung des BAG vom 18.10.2012 (6 AZR 86/11) gestolpert sein sollten, haben Sie sicher schnell wieder weggeklickt. Es geht um ein Spezialthema (Auslegung eines Rationalisierungstarifvertrags), das über die am Prozess beteiligten Kreise hinaus niemanden interessiert.
Falsch gedacht! Es kommt auf die Zwischentöne an.
(Dass Ihr Blogger damit auch eine Revision verloren hat, steht da nicht und eigentlich soll darüber auch geschwiegen werden. Nicht aus Scham, aber womit kann man sich da schon brüsten?)
Auslöser des Falls war eine Versetzung und ihr Verhältnis zum sog. Direktionsrecht. Alles klar, denken Sie? Dann wissen Sie mehr als ich und mehr als das Bundesarbeitsgericht. Das ist alles ziemlich unklar, und es steht vor einer Reform. Stellen Sie sich mal vor:
Arbeitnehmer Anton A. wird in München beschäftigt. Sein Vertrag enthält keinen Arbeitsort. Der Arbeitgeber, die Fies Gebrauchtgemüsehandel OHG („Recycled food is good for the environment and ok for you“ – na, aus welchem Film?), teilt ihm mit, dass er ab Montag unbefristet in Düsseldorf arbeiten soll. Er sei versetzt. Fallfrage: Darf der Arbeitgeber das verlangen?
Nebenbei, falls Sie in Geografie noch schlechter sind als ich: Vom Stachus zur Düsseldorfer Oper sind es 617 km, überwiegend Autobahn.
Es geht um etwas ganz Grundsätzliches; deshalb lassen wir mal alles Störende beiseite. Störend ist, wenn man Grundsätzliches bespricht, das Beiwerk: So eine Anordnung der Fies Gebrauchtgemüsehandel OHG nennt man nämlich gemeinhin „Versetzung“. Die wiederum hat traditionell zwei Voraussetzungen: Erstens muss der Arbeitgeber das überhaupt „dürfen“. Das bestimmt sich nach seinem Arbeitsvertrag: Steht da „München“, ohne, dass eine Versetzung vorbehalten ist, darf die Fies OHG nicht „versetzen“. Steht da indes nichts, darf sie. So meint man. Bisher. „Beiwerk“ ist dann der hier uninteressante, zweite Schritt der Rechtskontrolle. Wenn die Fies AG grundsätzlich „darf“, kann A. trotzdem klagen, um festzustellen, ob das auch in seinem Fall in Ordnung ist – dann gibt es eine unendliche Abwägungsorgie (alt/jung, schwerbehindert/gesund, Notwendigkeit der Versetzung, etc. pp.), die meist dazu führt, dass räumliche Verlegungen, die ein solches Gewicht haben, eher nicht gehen. Wir interessieren uns nur für das Erstgenannte, das „Dürfen“.
Dabei fällt auf: Im Individualarbeitsrecht – das ist alles, was die Vertragsbeziehung zwischen A. und der Fies OHG regelt – ist der berühmte Begriff der „Versetzung“ unbekannt. Erstaunlich ist das schon. Den Begriff gibt es tatsächlich nur im Kollektivarbeitsrecht (§ 95 Abs. 3 BetrVG). Das hat mit dem hier interessanten „dürfen“ nichts zu tun, sondern nur mit der Einbeziehung des Betriebsrats.
Man versetzt – von München nach Düsseldorf – aufgrund des sog. Direktionsrechts (für Soldaten: Befehlsgewalt!) des Arbeitgebers. Diese Befugnis ist in § 106 GewO geregelt. Meint man. (Dass der Gesetzgeber das ausgerechnet in die Gewerbeordnung hineingeschrieben hat, wurde nach der entsprechenden Reform bereits ausgiebig in der Fachliteratur durch den Kakao gezogen und soll hier mal ruhen.) Da steht auszugsweise:
Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.
Der „Ort“ – das bedeutet doch, möchte man meinen, Düsseldorf. Oder München. Es kann aber auch bedeuten „München, Stachus“ statt „München, Marienplatz“. Jeder hat so seinen Lieblingsort, wichtiger ist wohl die Entfernung. Bislang nimmt man gemeinhin an, gemeint sei die politische Gemeinde. Die Variante, vom Stachus an den Marienplatz zu geschickt zu werden, ist deshalb noch 2006 vom ersten Senat des BAG nicht als Versetzung angesehen worden (BAG, Beschluss vom 27. 6. 2006 – 1 ABR 35/05). Die Entfernung war zu klein.
Deshalb hält sich die Rechtauffassung, grundsätzlich sei eine solche (örtliche) Versetzung bundesweit, ja gar weltweit möglich (wenn nicht durch Arbeitsvertrag ausgeschlossen), ebenso hartnäckig wie berechtigt. Merkwürdigerweise ist das vor allem in der Rechtsprechung der Fall. Die Literatur hat unter dem „Ort“ mehrheitlich immer nur den Ort innerhalb des Betriebs verstanden, nicht etwa die politische Gemeinde. Die Kritik an manchen Urteilen und der Systematik (wenn man sie so nennen konnte) der Rechtsprechung wurde jüngst immer lauter. Um eine Lösung konnte sich die Rechtsprechung bislang stets drücken.
In einer Zeit, in der überregionale Unternehmen immer intensiver restrukturieren müssen und Mobilität ein Allgemeinplatz geworden ist, konnte das nicht lange so bleiben. Bundesweites Versetzungsrecht? Jetzt hören Sie mal rein beim BAG, vom 18.10.2012 (6 AZR 86/11), unter Rd.-Nr. 19:
Der Senat kann offenlassen, ob die Versetzung der Klägerin von Berlin nach Frankfurt (Oder) vom gesetzlichen Direktionsrecht der Beklagten (§ 106 Satz 1 GewO) gedeckt ist.
Ups.
Wieso offenlassen, das war doch stetige Rechtsprechung? Schauen Sie mal nach Rd.-Nr. 28:
Der Senat kann offenlassen, ob an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den arbeitsvertraglichen Grenzen des gesetzlichen Direktionsrechts (§ 106 Satz 1 GewO) bei Versetzungen mit einer Veränderung des Arbeitsorts festzuhalten ist…
Doppel-Ups….
Diese Einleitungssätze – obiter dictum, also ohne direkte Relevanz zum Fall – kündigen grundsätzlich immer einen Rechtsprechungswandel an. Kommt er, dann ändern sich die Grundfesten der Welt ein bisschen. Es sieht ganz danach aus – der 7. Senat will offenbar die Unklarheiten der Vergangenheit aufräumen und ein System für die Einordnung der örtlichen Versetzung in den dünnen Rechtsrahmen des § 106 GewO schaffen. Das könnte künftig heißen: Wenn die Versetzung über die Grenzen der Gemeinde hinaus nicht schon im Arbeitsvertrag vereinbart ist, ist sie ausgeschlossen. Das bedeutet eine Änderung der Vertragspraxis.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam mit einer damals eher wunderlichen Begründung das LAG Baden-Württemberg schon vor knapp zwei Jahren (Urteil vom 10.12.2010, 18 Sa 33/10). Das konnte man so übersetzen: Steht nichts im Vertrag, dann ist der vereinbarte Arbeitsort der, an dem die Arbeit aufgenommen wird. Nachträgliche Veränderungen durch Versetzung sind über die politische Gemeinde hinaus ausgeschlossen.
Das könnte künftig die Regel werden. So deutliche Ankündigungen kann man eigentlich nicht anders lesen. Ob man das gut findet, ist eine andere Sache. Klarheit raubt immer Flexibilität. Allerdings wird den Arbeitgebern nicht allzu viel weggenommen; Versetzungen über große Entfernungen ohne eindeutige Rechtsgrundlage waren immer schon schwierig durchzusetzen – in der Einzelfallabwägung. Künftig wird daher mehr Gewicht auf entsprechende Arbeitsvertragsformulierungen gelegt werden müssen, viel mehr auf entsprechende Tarifvorbehalte. Die sind nämlich nicht so leicht zu knacken wie ein Arbeitsvertrag.
Also: Es ist mal wieder Zeit für eine Revolution.