Rechtsanwalt Dr. Thomas Bode

Stiftung Europa-Universität Viadrina
15230, Frankfurt Oder
11.11.2010

Gutachtentechnik

Lösung eines Strafrechtsfalles: Gutachtentechnik

A. Einführung

Ziel der Fallbearbeitung ist die juristische Begutachtung eines vorgegebenen Sachverhaltes. Die Vorgehensweise ist streng formalisiert, in einer Klausur oder einer Hausarbeit führen Abweichungen vom sog. Gutachtenstil oft zu wesentlichen Punktabzügen.

 

Gutachtenstil ist eine Methode, nach der die aufgeworfene Rechtsfrage in mehreren Schritten beantwortet wird. Erst zum Schluß wird das Ergebnis mitgeteilt.

 

Das Pendant ist der Urteilsstil: hier wird zuerst das Ergebnis angegeben, das dann begründet wird. Urteilsstil sollte nur in sehr klaren Fragen angewandt werden! Bei solchen unproblematischen Punktes des Gutachtens  sollte man aber auch mutig genug sein, um vom nirgendwo im Prüfungsrecht verbindlich festgeschriebenen Gutachtenstil abzuweichen und in den Urteilsstil wechseln. Das kann eine klausurentscheidende Zeitersparnis bringen.

 

Die Bearbeitung eines Strafrechtsfalles soll nicht Anlaß geben, gelerntes Wissen um jeden Preis zu Papier zu bringen. Vielmehr ist nur auf die Rechtsfragen einzugehen, die der Sachverhalt aufwirft. Überflüssig und daher falsch sind abstrakte Ausführungen, die nicht der Lösung dienen.

 

Einzelne Arbeitsschritte

I. Erfassen des Sachverhaltes

1. Fallfrage

Es empfiehlt sich, zuerst die Fallfrage zu lesen, da auf diese Weise der Sachverhalt gleich entsprechend gelesen und analysiert werden kann. In den strafrechtlichen Aufgaben wird meistens nach der Strafbarkeit aller Beteiligten gefragt. Es kann jedoch durchaus vorkommen, daß von mehreren Beteiligten nur die Strafbarkeit eines Täters zu untersuchen ist. Es findet sich auch oft der Hinweis, daß Nebenstrafrecht nicht zu prüfen ist oder dass gewisse Straftatbestände außer Betracht zu lassen sind (insbesondere in den Anfängerfällen).

 

2. Sachverhalt

Der Sachverhalt soll aufmerksam und mehrmals gelesen werden. Es sind die Beteiligten, zeitliche und räumliche Umstände des Geschehens, Ursachen und Folgen zu erfassen. Beim ersten Mal soll der Sachverhalt einfach nur gelesen werden, dann empfiehlt es sich, wichtige Angaben zu markieren. Der Sachverhalt soll so oft gelesen werden, bis sich der Bearbeiter das Geschehen eingeprägt hat. Auf jeden Fall ratsam ist die Anfertigung einer Skizze, sei es in Form einer graphischen Darstellung, einer Zeitskizze oder einer simplen Notiz.

 

II. Gliederung nach den Beteiligten

Es ist alsdann herauszufiltern, welche Personen sich u. U. strafbar gemacht haben. Normalerweise ist die Strafbarkeit jeder Person getrennt zu untersuchen, Ausnahme bilden Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB).

 

III. Gliederung nach Tatkomplexen

Bei umfangreicheren Sachverhalten ist das Geschehen in Tatkomplexe zu gliedern. Meistens bietet sich die chronologische Reihenfolge an.

 

Bsp.:

Tatkomplex I – Schlägerei in der Kneipe

Tatkomplex II – Trunkenheitsfahrt

 

Hier ist stets daran zu denken, dass die Lösung nicht unbedingt chronologisch aufgebaut sein muß. Das Gutachten muß vor allem übersichtlich und klar gegliedert sein. Hat man es mit einem Sachverhalt zu tun, wo überwiegend Vermögensdelikte zu prüfen sind, kann die Lösung durchaus nach Personen gegliedert werden.

 

Bsp.: Tatkomplex I – Straftaten zum Nachteil des X

Tatkomplex II- Straftaten zum Nachteil des Y

 

(!) Der Aufbau der Lösung darf nicht begründet werden! Ist der Aufbau in sich schlüssig, bedarf er sowieso keiner Begründung.

 

IV. Suche nach den einschlägigen Normen des StGB

Alsdann sind die möglichen Straftatbestände auszusuchen. Diese können dann zuerst einfach notiert werden unter Zuordnung zur jeweiligen Person oder zum jeweiligen Komplex.

Danach ist eine zweite Skizze anzufertigen, wo die Straftatbestände sortiert werden. Es gelten taktische Regeln, die sich  aus Gründen der Klausurökonomie ergeben:

 

Geht chronologisch vor! Begonnen wird mit dem am weitesten in der Vergangenheit liegenden Delikt.

Innerhalb einer Handlung wird dann das schwerste Delikt (richtet sich nach der Strafdrohung) zuerst geprüft.

Spezielle Delikte werden vor den Allgemeinen geprüft

Grundtatbestand vor der Qualifikation (das gilt auch,wenn man  beide Tatbestände zusammen prüft, dann wird innerhalb des Gesamttatbestandes der Grundtatbestand vorangestellt)

Vollendung vor Versuch (hier wird ausnahmsweise die spätere vor der früheren Tat geprüft, da der Versuch bei Vollendung keine selbstständig Bedeutung mehr hat)

Vorsatz vor Fahrlässigkeit

Aktives Tun vor Unterlassen

 

V. Lösungsskizze als Vorbereitung der Niederschrift

Wenn der Sachverhalt erfaßt und den Straftatbeständen zugeordnet ist, kann die wirkliche Arbeit beginnen. Es ist eine Lösungsskizze zu entwerfen, die dann lediglich im Gutachtenstil ausformuliert wird. An diesem Punkt beginnt die Subsumtion.

Subsumtion ist die Zuordnung des tatsächlichen Geschehens unter die rechtlichen Merkmale eines Straftatbestandes. Sie erfolgt immer in 4 Schritten:

 

1. Benennung des geprüften Merkmals einer Strafnorm

2. Auslegung des Merkmals (Angabe der Definition)

3. Subsumtion

4. Ergebnis

 

Es ist im strafrechtlichen Gutachten nicht auf Sanktionen einzugehen. Stellen Sie sich bei der Anfertigung eines Gutachtens vor, daß Sie von einem Rechtsanwalt einen Auftrag erhalten haben und ein Geschehen juristisch begutachten sollen. Was damit später passiert (Erhebung der Anklage? Einstellung des Verfahrens?), ist keine Frage des materiell-rechtlichen Gutachtens. Auch die Strafzumessung ist die Aufgabe des Richters, nicht des Gutachters.

 

VI. Niederschrift

Ist die Lösungsskizze vorbereitet, soll mit der Niederschrift begonnen werden. Es müssen alle Fragen in der Skizze bereits beantwortet worden sein. Die Niederschrift ist nur die Ausformulierung der an sich fertigen Lösung. An diesem Punkt hat der Bearbeiter nur darauf zu achten, dass das Gutachten im Gutachtenstil formuliert wird.

 

B. Gutachtenstil

I. Begriff

Der Gutachtenstil ist eine besondere Form, die Antwort auf eine oder mehrere Rechtsfragen zu geben. Es gelten strenge Formvoraussetzungen, deren Mißachtung – insbesondere in den Anfängerklausuren – oft mit Punktabzug bestraft wird.

 

Der Hauptgedanke des Gutachtenstils ist, daß die Lösung nie am Anfang feststeht. Erst zum Schluß wird ein Ergebnis mitgeteilt, daß aus der Summe aller ihm vorangehenden Überlegungen formuliert wird.

Der Gutachtenstil soll gerade das zum Ausdruck bringen: der Verfasser zweifelt, stellt Überlegungen an und kommt erst dann zum Ergebnis. (Das Ergebnis kann selbst für den Verfasser des Gutachtens überraschenderweise davon abweichen, was er auf den ersten Blick vielleicht festgestellt hat!) Vergleichbar ist es mit einer mathematischen Aufgabe: nur anhand der angegebenen Zahlen kann nicht sofort ein Ergebnis genannt werden. Unter Heranziehen von Formeln wird Schritt für Schritt die Lösung aufgeschlüsselt. Am Ende steht dann eine Zahl. Und genauso verhält es sich mit einem juristischen Gutachten!

Daher sind auch gewisse sprachliche Regeln zu beachten. Das Gutachten wird überwiegend im Konjunktiv formuliert, es kann aber auch im Indikativ formuliert werden (vgl. die Beispiele unten). Wir werden in der AG die Indikativform einüben.  Zu vermeiden sind positive Feststellungen oder Sätze, in denen „weil“ oder „da“ vorkommen. Vielmehr sollen Konjunktionen verwendet werden, die auf logische Schlüsse hindeuten (z.B. „also“, „daher“).

Es ist sparsam mit der Sprache umzugehen. Ein juristisches Gutachten ist kein Aufsatz. Die Formulierungen müssen knapp sein (auch die Mathematiker fügen keine Einschübe in die Lösungen ein: es wird doch nicht erörtert, ob „2“ ein gerade oder ungerade Zahl ist!). Es sind lange Sätze zu vermeiden, dadurch verliert der Leser die Übersicht.

 

II. Kurze Übersicht über die einzelnen Bestandteile eines Gutachtens

Der Sachverhalt lautet: X erschießt Y. Strafbarkeit des X?

Schritt 1: Obersatz

X hat sich  nach § 212 StGB strafbar gemacht, wenn er durch den Schuß auf Y diesen als anderen Meschen vorsätzlich getötet hat und rechtswidrig und schuldhaft handelte.

 

Schritt 2: Gliederungsebene

Legt jetzt die Gliederungseben fest:

I. Tatbestand

a) objektiver Tatbestand

 

Schritt 3: Definition

(X müßte einen Menschen getötet haben.)

X hat  Y getötet, wenn X Schuss den Tod des Y verursacht hat und dies auch....bzw. Töten bedeutet...

Hier folgt eine Umschreibung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals. Es ist möglichst knapp, aber vollständig zu halten.

 

Schritt 4: Subsumtion

X hat den Tod des Opfers Y (durch den Schuß) verursacht.

Hier wird positiv anhand der Definition festgestellt, ob das Merkmal vom Täter erfüllt worden ist.

 

Schritt 5: Ergebnis

X hat sich durch den Schuß auf Y aus § 212 StGB strafbar gemacht.

 

C. Zur Gutachtentechnik – Qualifikation und Privilegierung

Die Delikte des BT des Strafgesetzbuches weisen eine bestimmte Systematik auf. Viele Delikte enthalten nicht nur sog. Grundtatbestände, sondern auch sog. Privilegierungen (wirken strafmildernd) und Qualifikationen (wirken strafschärfend). Diese sind die sog. unselbständigen Abwandlungen des Grunddelikts und dürfen nicht ohne diesen geprüft werden, vielmehr bauen sie auf diesem auf.

 

Beispiel: § 212 StGB – Grunddelikt

§ 211 StGB – Qualifikation (str., so die h. Lit.)

§ 216 StGB – Privilegierung

 

Achtung! Keine Qualifikationen sind die sog. Strafzumessungsregeln, diese bilden keine selbständigen Tatbestände, sondern modifizieren lediglich die Rechtsfolge. Diese werden auch geprüft, allerdings ist deren Bezeichnung als „Qualifikation“ ein schwerer Fehler.

 

Beispiel: § 242 StGB – Grunddelikt

§ 243 StGB – Strafzumessungsregel

 

Aufbautechnisch bieten sich mehrere Möglichkeiten:

 

1. Getrennte Prüfung: Zuerst wird der Grundtatbestand komplett durchgeprüft. Dann folgt die Prüfung der Qualifikation. Dabei kann bezüglich der Verwirklichung des Grundtatbestandes nach oben verwiesen werden.

 

2. Der Grundtatbestand wird im objektiven Tatbestand geprüft. Sodann wird der objektive Tatbestand der Qualifikation geprüft. Im subjektiven Tatbestand wird ähnlich verfahren: Zuerst wird der Grundtatbestand geprüft, dann die Qualifikation. Rechtswidrigkeit und Schuld werden gemeinsam für beide Tatbestände geprüft.

 

3. Der Grundtatbestand wird im objektiven und im subjektiven Tatbestand geprüft. Dann kann das Vorliegen der Tatbestandsmäßigkeit bejaht. Im zweiten Schritt werden der objektive und der subjektive Tatbestand der Qualifikation geprüft. Wieder werden die Rechtswidrigkeit und die Schuld für beide Tatbestände gemeinsam geprüft.

 

Wie im Einzelfall vorzugehen ist, ist eine Frage der Taktik und der Übersichtlichkeit. Wenn schon der Grundtatbestand wegen des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes nicht erfüllt ist, wird nur dieser geprüft. Die Prüfung der Qualifikation erübrigt sich, da ja der Grundtatbestand, auf dem die Qualifikation aufbaut, nicht gegeben ist. Wirft der Grundtatbestand Probleme auf, insbesondere bezüglich der Tatbestandsmerkmale, die nicht offensichtlich vorliegen, ist auch zuerst dieser komplett durchzuprüfen. Sind dagegen die Probleme eher in der Qualifikation eingebaut, können beide Tatbestände gemeinsam geprüft werden.

 

Eine andere Gruppe bilden die sog. Erfolgsqualifikationen (Beispiel: § 227 StGB, Fall aus der Vorlesung: Der versalzene Pudding). Dabei muß auch der Grundtatbestand erfüllt werden. Die Erfolgsqualifikation knüpft an eine besondere Folge an (§ 18 StGB). Zusätzlich ist der tatbestandsspezifische Gefahrzusammenhang zwischen dem Grunddelikt und der schweren Folge erforderlich. Dieser tritt an die Stelle der Kausalität und der objektiven Zurechnung. Auch im Vorsatz bestehen unterschiede: Die Folge kann auch nur fahrlässig herbeigeführt werden, wobei das Grunddelikt Vorsatz erfordert.

 

Zusammentreffen der Qualifikation und der Privilegierung

Nach h. M. (herrschende Meinung) sperrt die Privilegierung die Qualifikation, zu bestrafen ist nur aus der Privilegierung.

 

Nach a. A. (anderer Auffassung) lässt die Qualifikation die Privilegierung neutralisieren, übrig bleibt das Grunddelikt.

 

Literaturhinweise

Petersen, Typische Subsumtionsfehler in (straf-)rechtlichen Gutachten, Jura 2002, 105 ff.

Wolf, Bemerkungen zum Gutachtenstil, JuS 1996, 30 ff.

Wolf, Zur Methode der Lösung eines Strafrechtsfalles, JuS 1987, L 57 ff.

http://www.jurawelt.com/studenten/fallbearbeitung

Wertvolle Hinweise können auch dem Buch von Fritjof Haft („Einführung in das juristische Lernen“) entnommen werden.

Schnapp, Da hab ich einen Satz gemacht! Über Bildung und Missbildung von Sätzen, Jura 2004, 22 ff.