Rechtsanwalt Dr. Thomas Bode

Stiftung Europa-Universität Viadrina
15230, Frankfurt Oder
10.01.2011

Großer Fall zur Notwehrprovokation

 
„Adel verpflichtet“ (BGH NStZ 1996, 380) Der Jura-Student Welf Graf v. Besserburg fährt über Weihnachten zu seinen Eltern nach Königstein. Er sitzt allein im Abteil 1. Klasse des RE1. Zwei Stationen bevor Welf umsteigen will, setzt sich der leicht angetrunkene KuWi-Student Kevin in das Abteil, obwohl er nur ein Ticket 2. Klasse hat. Welf fühlt sich vom Alkoholgeruch sowie von der von Kevin mitgeführten Aldi-Bierflasche erheblich belästigt und öffnet mehrmals das Fenster, um Kevin hinauszuekeln. Kevin schließt immer wieder das Fenster und droht Welf schließlich Prügel an, sollte er noch mal versuchen, das Fenster zu öffnen. Welf zeigt Kevin daraufhin sein großes Schweizer Messer und öffnet wieder das Fenster in der Überzeugung, Kevin werde ihn in Ruhe lassen. Kevin stürzt sich jedoch auf den jungen Grafen und versucht, auf ihn einzuschlagen. Dabei greift er Welf gerade mit beiden Händen schmerzhaft ins Gesicht als Welf das Messer zum Zwecke der Verteidigung Kevin etwa 9 cm tief in den Bauch sticht. Welf will, das Kevin von ihm ablässt. Den Tod des Kevin möchte er möglichst vermeiden, ihm ist aber die eigene Sicherheit wichtiger. Der KuWi stirbt an der Verletzung. Während des Kampfes gehen zahlreiche Fahrgäste im überfüllten Zug am Abteil vorbei. Wie ist die Rechtslage strafrechtlich zu Beurteilen? Zur Vertiefung nachlesen:

BGHSt 24, 356 „Finnendolch“

BGHSt. 42, 97 (101) "Jamba"

 

 

Kommentar

Lösung

.

 

 

 

 

Lösungsübersicht zu dem Zug-Fall.  K darf nur geprüft werden, wenn sich das auf die Strafbarkeit des W auswirkt! Die Strafbarkeit des K an sich interessiert nicht, weil er tot ist! In einem praktisch verwertbaren  Rechtsgutachten also bitte nur Lebende prüfen. Tote müssen nicht mehr bestraft werden.

A.) § 223 I 1. Alt. StGB des W zu Lasten des K durch Öffnen des Fensters (-)
B.)  §§ 240 I, II, III, 22, 23 I StGB des W zu Lasten des K durch Öffnen des Fensters  (-) Kalte Luft ist in diesem geringen Umfang noch keine Gewalt. Die Drohung mit einem empfindlichen Übel ist ausreichend, nicht jedoch die Zufügung dieses Übels! Keine Nötigung.

C.) § 240, 22 des Welf zu Lasten des Karsten durch Vorzeigen des Messers?

I.) Tatentschluss und
II.) unmittelbares Ansetzen (+)
III.)  Rechtswidrigkeit/Verwerflichkeit (?)
§ 32?

a) gegenwärtiger rechtswidriger Angriff? (?)
1.) Angriff ist jedes Willensgetragen verhalten eines Menschen das ein Rechtsgut des Opfers gefähret. Wir der Tatbestand eines Delikts aus dem StGB verwirklicht, liegt in jedem Fall ein Angriff vor, soweit es sich wenigstens um einen tauglichen Versuch handelt: § 240 I, 22 des K zu Lasten des W durch Androhen der Schläge? (+)
2.) § 240 II Rechtswidrigkeit/Verwerflichkeit der versuchten Nötigung
1.) (?) § 223 des K zu Lasten des W (+) angekündigt, das Drohen mit Straftat (Verprügeln) ist verwerflich
3.) Gegenwärtigkeit? Bei Nötigung (str). ob Handlung oder Druck entscheidend, h. M. Druck wenn alsbald gehandelt werden soll (+)

b) Verteidigung? Messerzeigen generell geeignete Abschreckung (+)
c) erforderlich: Milderes gleich wirksames Mittel nicht zur Hand (+)
d) Gebotenheit (?): Provokation hier nicht schädlich, da Drohung nicht so schlimm wie tatsächlicher Einsatz des Messers also (+) (a. A. mit „Eskalationsargument“ vertretbar)
e) W hatte auch Verteidigungswillen.
f)  Zw- Ergebnis: Die Drohung mit dem Messer war gerechtfertigt (+)

D.) § 212 des Welf zu Lasten des Karsten durch Messerstich (?)
I.) Tatbestand: a) anderer Mensch, Tötung (+) b) Vorsatz? Wohl  (+) II.) Rechtswidrigkeit:

Notwehr, § 32 StGB?

Notwehr, § 32 StGB? a) Notwehrlage, § 32 II 1.) Angriff des K auf Rechtsgut des W ?

Wenn § 223 I 1. StGB des Karsten zu Lasten des Welf (inzident Prüfung)
aa) Tatbestand (+) Griff ins Gesicht
bb) Zwischenergebnis: Diese Körperverletzung ist ein Angriff auf Welfs Körper

2.) Rechtswidrigkeit des Angriffs Wenn K nicht seinerseits gerechtfertigt ist     =Rechtswidrigkeit der Körperverletzung durch K  § 32 I, II StGB: aa) Rechtswidriger Angriff durch Ärgern mit Fenster(-)keine Straftat zu Lasten des K dar bb)Rechtswidriger Angriff durch Messerzeigen (-) Das Vorzeigen des Messers durch Welf:  gerechtfertigt, s.o.
cc) Zw-Ergebnis: K. nicht durch § 32 StGB gedeckt, d. h. Angriff des K rechtswidrig!!! 3.) Gegenwärtigkeit (+) K hat die Hände noch im Gesicht des W
b) Geeignete Verteidigungshandlung des W: (+) hat Angriff beendet
c) Erforderlichkeit der Handlung: Notwendigkeit / Effektivität
aa) Flüchten muss er nicht.
bb)Androhung des Messers nicht gleich wirksam
cc) Um Hilfe rufen? nicht so effektiv wie das Abstechen.
dd) Zwischen-Ergebnis: Erforderlichkeit also (+).
d) Gebotenheit, § 32 I StGB:(?) Hier: Gebotenheit  schuldhafte Provokation?
1.) Welche Qualität muss das provozierende Vorverhaltenhaben? sozial-ethisch reicht nach h.M. quasi fahrlässig den K gereizt, Ws Verteidigung Messerstich war daher nicht geboten.
2.) Flucht, Hilfe zu Rufen war geboten, nicht das Abstechen.

III.) Schuld

Die Tat war auch nicht nach § 35 StGB entschuldigt. Hier ist auf die Argumentation zur Gebotenheit zu verweisen.

E.) Endergebnis: Welf hat sich nach alledem gemäß § 212 I strafbar.