In München bekommen 51,28 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen Psychopharmaka mit beruhigender oder sedierender Wirkung oder Nebenwirkung verordnet. Das hat eine Erhebung der Fachstelle für Qualitätssicherung in der Altenpflege im Zeitraum vom 1.6.10 bis 30.6.11 ergeben, in die 51 Einrichtungen in München und 6394 Bewohnerinnen und Bewohner einbezogen wurden. Der Qualitätsbericht 2011/2012 der Münchner Heimaufsicht spricht von einem bedenklichen Umgang mit Psychopharmaka. Die erhobenen Daten würden zeigen, dass zu schnell zu viele Medikamente aus der Gruppe der Psychopharmaka verabreicht werden. So hätten viele Bewohnerinnen und Bewohner fünf bis zehn und mehr Medikamente erhalten ohne Überprüfung von sich beeinflussenden Nebenwirkungen. Auch die Vergabezeiten seien ein problematisches Feld. Insgesamt hätten 74 Prozent der tatsächlichen Bedarfsvergaben abends (8 Prozent) und nachts (66 Prozent) stattgefunden. Die Münchner Heimaufsicht stellt in ihrem Bericht fest, dass es an einer grundlegenden Strategie fehlt, die ärztliches, betreuerisches und pflegerisches Handeln in Einklang bringt.
Genau dies hat sich zum Ziel gesetzt die Initiative München, Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen unter Federführung des Amtsgerichts München, Betreuungsgericht.
Das Amtsgericht München ist zuständig für die Genehmigungen von freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Stadt und dem Landkreis München. Das Gesetz sieht in § 1906 Absatz 4 BGB vor, dass immer dann, wenn ein Medikament mit sedierender Wirkung verabreicht werden soll, ohne dass der Hauptzweck der Medikamentengabe die Heilung des Patienten ist, eine betreuungsrechtliche Genehmigung vorliegen muss. Das Gesetz stellt somit die medikamentöse Ruhigstellung der mechanischen Fixierung gleich. Anträge für solche Genehmigungen sind von den Betreuern beim Betreuungsgericht München zu stellen, wo dann ein sogenanntes Unterbringungsverfahren durch den zuständigen Richter oder die zuständige Richterin durchgeführt. Dabei wird die Notwendigkeit der Medikamentengabe geprüft und die Medikamentengabe gegebenenfalls genehmigt. Bisher gingen beim Amtsgericht München solche Anträge nur in verschwindend geringer Zahl ein.
Das Amtsgericht München hat im November 2013 eine Arbeitsgruppe gegründet, um eine Sensibilisierung im Umgang mit Medikamenten, die freiheitsentziehende Wirkung haben können, zu erreichen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Beteiligten zu fördern. Der Arbeitsgruppe gehören Vertreter des Justizministerium, des Ministeriums für Gesundheit und Pflege, die örtlichen Betreuungsbehörden, die Fachstellen für Qualitätssicherung in der Altenpflege, Vertreter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen Bayern und des Bayerischen Hausärzteverbandes an. Am 6.11.14 wird ein Fachtag veranstaltet werden, an dem Vertreter der Alten- und Pflegeeinrichtungen in München, Fach- und Hausärzte, Angehörigenvertreter und -beiräte, Betreuungsvereine und Vertreter der Psychiatrien in München zu dem Thema informiert werden..
Das Genehmigungsverfahren für Psychopharmaka bei Gericht:
1. Das Gericht wird eng mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen Bayern und dem Bayerischen Hausärzteverband zusammenarbeiten, die in ihrem Bereich die Sensibilisierung für die Genehmigungsbedürftigkeit und Notwendigkeit ihrer Verschreibungen vorantreiben werden.
2. Auch bei der Vergabe von Gutachtensaufträgen durch das Betreuungsgericht wird die Aufforderung ergehen, explizit zu den verabreichten Medikamenten und ihrer Wirkung Stellung zu nehmen.
3. Das Gericht wird entsprechend der Zielsetzung die Anforderungen an die Berichte der Berufs-Betreuer anpassen. Konkret heißt das, dass die Betreuer aufgefordert werden, speziell zu der verordneten Medikation Stellung zu nehmen.
4. Bei Eingang eines Antrages auf Genehmigung einer Medikation bestellt das Gericht einen spezialisierten Verfahrenspfleger bzw. eine spezialisierte Verfahrenspflegerin mit beruflicher Pflegeerfahrung, der bzw. die die Interessendes Betroffenen vertritt. Diese Verfahrenspfleger verfügen sowohl über pflegefachliches als auch juristisches Wissen. Sie können daher mit den Pflegeverantwortlichen, Angehörigen, rechtlichen Betreuern sowie den Ärzten in der Einrichtung auf Augenhöhe diskutieren und nach alternativen Lösungen suchen. Sie erarbeiten vor Ort alternative Maßnahmen, um bei Ruhelosigkeit, herausforderndem Verhalten oder gesteigertem Antrieb der Betroffenen auf Psychopharmaka verzichten zu können.
5. Der Verfahrenspfleger wird abschließend eine in der Regel mit den Pflegeverantwortlichen und Angehörigen gemeinsam erarbeitete pflegefachliche Empfehlung abgeben, die die Grundlage der betreuungsrichterlichen Entscheidung bildet.
Das Amtsgericht München ist der Überzeugung, dass durch diese Initiative die Psychopharmaka-Gabe transparent gemacht werden und reduziert werden kann und insgesamt die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der Pflege in Heimen zum Wohl der Bewohner und pflegebedürftigen Menschen gefördert wird. Erfahrungen mit dem Werdenfelser Weg zeigen, dass die Fixierungen in München drastisch von 12 Prozent im Jahr 2011 auf unter 5 Prozent im Jahr 2013 reduziert werden konnten durch die Zusammenarbeit aller Disziplinen.
Gerhard Zierl, Präsident des Amtsgerichts München hierzu: Es ist mir bewusst, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der stationären Pflege bei der Fülle der Patienten und dem Stellenplan der Pflegekräfte eine enorme Herausforderung darstellt. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die neue Initiative die Lebensqualität der Heimbewohner verbessern und das gegenseitige Vertrauen fördern wird. Die Freiheitsrechte des einzelnen zu achten und zu schützen und so lang wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen ist eine grundlegende Verpflichtung unserer Gesellschaft.
Das Amtsgericht München hat daher mit der Initiative München, Psychopharmaka in Alten- und Pflegeheimen einen Weg gefunden, Hand in Hand mit allen Beteiligten zum Wohl der Patienten die Vergabe von Medikamenten zum Zweck der Sedierung zu reduzieren.
PM des AG München 26/14