Rechtsanwalt Mathias Klose

93049, Regensburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht Arbeitsrecht
09.09.2014

Hartz-IV-Regelsatz noch verfassungsgemäß

Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) sind derzeit noch verfassungsgemäß. Dies hat der  Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit am 09.09.2014 veröffentlichtem  Beschluss vom 23.07.2014 entschieden. Die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich  für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, werden im Ergebnis nicht verfehlt. Insgesamt ist die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe der existenzsichernden Leistungen tragfähig begründbar. Soweit die tatsächliche Deckung existenzieller Bedarfe in Einzelpunkten zweifelhaft ist, hat der Gesetzgeber eine tragfähige Bemessung der Regelbedarfe bei  ihrer anstehenden Neuermittlung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 sicherzustellen.


Sachverhalt und Verfahrensgang:

Gegenstand der Verfahren sind die Regelbedarfsleistungen für
Alleinstehende, für zusammenlebende Volljährige, für Kinder bis zu 6
Jahren sowie für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Den
zwei konkreten Normenkontrollen liegen Klagen miteinander verheirateter
Eltern und ihres damals 16-jährigen Sohnes für den Zeitraum Januar 2011
bis Juni 2012 (Az. 1 BvL 10/12) sowie eines alleinstehenden Erwachsenen
für den Zeitraum September 2011 bis August 2012 (Az. 1 BvL 12/12)
zugrunde. Das Sozialgericht Berlin hält die im Jahr 2011 geänderten
Regelungen zur Ermittlung und Festsetzung der Regelbedarfe für
verfassungswidrig; es hat die beiden Verfahren daher ausgesetzt und die
Frage ihrer Verfassungsgemäßheit dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.
Die Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR 1691/13) hat ein Ehepaar mit seinem
2009 geborenen Sohn erhoben. Ihre Klage gegen den Bescheid des
zuständigen Jobcenters für den Zeitraum von Mai bis Oktober 2011 hatte
vor dem Sozialgericht Oldenburg keinen Erfolg; das Bundessozialgericht
wies die Sprungrevision zurück.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

1. Das Grundgesetz garantiert in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art.
20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums. Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch
erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung
sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes
an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.

a) Der Gesetzgeber muss die entsprechenden Bedarfe der Hilfebedürftigen
zeit- und realitätsgerecht erfassen. Er hat einen Entscheidungsspielraum
sowohl bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse als auch bei
der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Das Ergebnis seiner
Einschätzungen muss jedoch tragfähig begründbar sein. Die Verfassung
schreibt zwar nicht vor, was, wie und wann genau im
Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen ist, sondern lässt
Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das
Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber auch nicht, durch Einbeziehung
aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums
vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik.
Entscheidend ist aber, dass die Anforderungen des Grundgesetzes,
tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im
Ergebnis nicht verfehlt werden.

Die Auswahl einer tauglichen und sachgerechten Methode zur Ermittlung
der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen kommt dem Gesetzgeber zu.
Er darf aber keine Methode wählen, die existenzsichernde Bedarfe
ausblendet, muss die Berechnung fortwährend überprüfen und, falls
erforderlich, diese weiterentwickeln.

b) Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entspricht eine
zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht; es setzt
sich bei seiner Prüfung nicht an die Stelle des Gesetzgebers. Das
Grundgesetz selbst gibt keinen exakt bezifferten Anspruch auf Leistungen
zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz vor. Die Verfassung
verlangt nur, dass der existenzsichernde Bedarf tatsächlich gedeckt
wird; die Höhe der Leistungen muss tragfähig begründbar sein.

Entscheidet sich der Gesetzgeber bei der Berechnung des Regelbedarfs für
ein Statistikmodell, das Leistungen nach Mittelwerten bestimmter
Ausgaben bemisst, muss er Vorkehrungen gegen mit dieser Methode
verbundene Risiken einer Unterdeckung treffen. Fügt er Elemente aus dem
Warenkorbmodell in diese statistische Berechnung ein, muss er
sicherstellen, dass der existenzsichernde Bedarf tatsächlich gedeckt
ist. Als Pauschalbetrag gewährte Leistungen müssen entweder insgesamt
den finanziellen Spielraum sichern, um entstehende Unterdeckungen bei
einzelnen Bedarfspositionen intern ausgleichen oder Mittel für
unterschiedliche Bedarfe eigenverantwortlich ansparen und so decken zu
können, oder es muss ein Anspruch auf anderweitigen Ausgleich solcher
Unterdeckungen bestehen. Für einen internen Ausgleich darf nicht
pauschal darauf verwiesen werden, dass Leistungen zur Deckung
soziokultureller Bedarfe als Ausgleichsmasse eingesetzt werden könnten,
denn diese gehören zum verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimum.

2. Nach diesen Maßstäben genügen die vorgelegten Vorschriften für den
entscheidungserheblichen Zeitraum in der erforderlichen Gesamtschau noch
den Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.

a) Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf lässt nicht
erkennen, dass der existenzsichernde Bedarf evident nicht gedeckt wäre.
Der Gesetzgeber berücksichtigt nun für Kinder und Jugendliche auch
Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.

b) Selbst wenn die Leistungshöhe einer politischen Zielvorstellung
entsprochen haben mag, ist dies für sich genommen verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Zwar entspricht der für das Jahr 2011 ermittelte
Regelbedarf der Stufe 1 mit 364 € exakt dem Betrag, der sich bei
Fortschreibung des 2008 geltenden Regelsatzes ergeben hätte. Aus
verfassungsrechtlicher Sicht ist jedoch allein entscheidend, dass die
Leistungshöhe sich mit Hilfe verlässlicher Daten tragfähig begründen
lässt und nicht auf schlicht gegriffenen Zahlen oder Schätzungen ins
Blaue hinein beruht.

c) Mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) stützt sich der
Gesetzgeber auf geeignete empirische Daten.

d) Die Entscheidung, bei der EVS 2008 nur noch die einkommensschwächsten
15 % der Haushalte als Bezugsgröße heranzuziehen (statt wie bei der EVS
2003 die unteren 20 %), ist sachlich vertretbar. Der Gesetzgeber hat
auch diejenigen Haushalte aus der Berechnung herausgenommen, deren
Berücksichtigung zu Zirkelschlüssen führen würde, weil sie ihrerseits
fürsorgebedürftig sind. Dass er die sogenannten „Aufstocker“, die neben
den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts über weiteres
Einkommen verfügen, nicht herausgenommen hat, hält sich im Rahmen des
gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums. Der Gesetzgeber ist auch
nicht dazu gezwungen, Haushalte in verdeckter Armut, die trotz Anspruchs
keine Sozialleistungen beziehen, herauszurechnen, da sich ihre Zahl nur
annähernd beziffern lässt. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass es
die Höhe des Regelbedarfs erheblich verzerrt hätte, in die Berechnung
Personen einzubeziehen, die Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz erhielten.

e) Soweit der Gesetzgeber in einzelnen Punkten vom Statistikmodell
abweicht, lässt sich die Höhe des Regelbedarfs nach der erforderlichen
Gesamtbetrachtung für den entscheidungserheblichen Zeitraum noch
tragfähig begründen.

Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der
Verbrauchsstatistik nachträglich einzelne Positionen - in Orientierung
an einem Warenkorbmodell - wieder herauszunehmen. Die Modifikationen des
Statistikmodells dürfen allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das
seine Tauglichkeit für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder
Regelbedarfe in Frage stellt; hier hat der Gesetzgeber die finanziellen
Spielräume für einen internen Ausgleich zu sichern. Derzeit ist die
monatliche Regelleistung allerdings so berechnet, dass nicht alle,
sondern zwischen 132 € und 69 € weniger und damit lediglich 72 % bis 78
% der in der EVS erfassten Konsumausgaben als existenzsichernd anerkannt
werden. Ergeben sich erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Deckung
existenzieller Bedarfe, liegt es im Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers, geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der
Grundlage eines eigenen Index zu erhöhen oder Unterdeckungen in
sonstiger Weise aufzufangen.

Das gilt beispielsweise für den Haushaltsstrom, wo der Gesetzgeber im
Falle außergewöhnlicher Preissteigerungen bei dieser gewichtigen
Ausgabeposition verpflichtet ist, die Berechnung schon vor der
regelmäßigen Fortschreibung anzupassen.

Es gilt auch für den Mobilitätsbedarf, wo der Gesetzgeber Ausgaben für
ein Kraftfahrzeug nicht als existenznotwendig berücksichtigen muss, aber
sicherzustellen hat, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf
künftig tatsächlich gedeckt werden kann. Zudem muss eine Unterdeckung
beim Bedarf an langlebigen Gütern (wie Kühlschrank oder Waschmaschine),
für die derzeit nur ein geringer monatlicher Betrag eingestellt wird,
durch die Sozialgerichte verhindert werden, indem sie die bestehenden
Regelungen über einmalige Zuschüsse neben dem Regelbedarf
verfassungskonform auslegen. Fehlt diese Möglichkeit, muss der
Gesetzgeber einen existenzsichernden Anspruch schaffen.

f) Gegen die Festsetzung der Regelbedarfe für Kinder bis zur Vollendung
des 6. Lebensjahres und Jugendliche zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr
mit Hilfe von Verteilungsschlüsseln bestehen keine verfassungsrechtlich
durchgreifenden Bedenken. Die Höhe der Leistungen ist nach der
verfassungsrechtlich gebotenen Gesamtschau derzeit nicht zu beanstanden.
Der Gesetzgeber muss Veränderungen im Rahmen der nächsten Anpassung des
Regelbedarfs Rechnung tragen.

Die teilweise gesonderte Deckung von existenzsichernden Bedarfen,
insbesondere über das Bildungspaket und das Schulbasispaket, ist
tragfähig begründet. Es liegt im Ausgestaltungsspielraum des
Gesetzgebers, solche Leistungen teilweise in Form von Gutscheinen zu
erbringen. Allerdings müssen die damit abgedeckten Bildungs- und
Teilhabeangebote für die Bedürftigen auch tatsächlich ohne weitere
Kosten erreichbar sein; daher ist die neu geschaffene Ermessensregelung
zur Erstattung von Aufwendungen für Fahrkosten als Anspruch auszulegen.

3. Die Vorgaben zur Fortschreibung der Regelbedarfe in den Jahren ohne
Neuermittlung weichen nicht unvertretbar von den Strukturprinzipien der
gewählten Ermittlungsmethode ab. Der Gesetzgeber hat tragfähig
begründet, warum sich die Fortschreibung an die bundesdurchschnittliche
Preis- und Lohnentwicklung anlehnt. Die Preisentwicklung muss allerdings
- wie geschehen - im Vergleich zur Lohnentwicklung stärker gewichtet
werden, weil gerade bei Leistungen zur Deckung des physischen
Existenzminimums deren realer Wert zu sichern ist.


Beschluss vom 23. Juli 2014, Az. 1 BvL 10/12 - 1 BvL 12/12 - 1 BvR 1691/13

PM 76/14 vom 09.09.2014