Das Mindestlohngesetz vom 11. August 2014 sieht vor, dass abhängig Beschäftigte ab dem 1. Januar 2015 einen Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts von mindestens 8,50 € brutto je Zeitstunde haben (§ 1 MiLoG).
Im Verfahren 1 BvR 555/15 wenden sich 14 auch in Deutschland tätige Transport- und Logistikunternehmen aus Österreich, Polen und Ungarn gegen § 16, § 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG. Zugleich beantragen sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung, um die Vorschriften bis zur Hauptsacheentscheidung vorläufig außer Kraft zu setzen. Nach § 20 MiLoG sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit Sitz im In- und Ausland verpflichtet, ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des Mindestlohns zu bezahlen; §§ 16 und 17 Abs. 2 MiLoG enthalten Meldepflichten gegenüber der Zollverwaltung sowie Dokumentationspflichten.
Der 17-jährige Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 37/15, der mit einem Stundenlohn von 7,12 € in der Systemgastronomie beschäftigt ist und im September 2015 eine Ausbildung beginnen wird, wendet sich gegen § 22 Abs. 2 MiLoG, wonach Kinder und Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung keinen Anspruch auf Mindestlohn haben.
Im Verfahren 1 BvR 20/15 wendet sich die Beschwerdeführerin gegen § 24 Abs. 2 MiLoG, der für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller nach einer schrittweisen Anhebung einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 € brutto erst ab 1. Januar 2017 vorgibt.
1. Die Beschwerdeführenden des Verfahrens 1 BvR 555/15 sind gehalten, zunächst den fachgerichtlichen Rechtsweg zu beschreiten.
a) Nach dem Grundsatz der Subsidiarität ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann. Die Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte besteht nur in Ausnahmefällen nicht, insbesondere wenn die Anrufung der Fachgerichte unzumutbar ist.
b) Dies ist hier nicht der Fall. Es ist zwar unzumutbar, zur Eröffnung des fachgerichtlichen Rechtswegs zunächst gegen die bußgeldbewehrten Pflichten aus dem Mindestlohngesetz zu verstoßen, um auf diese Weise eine Prüfung der angegriffenen Normen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren zu ermöglichen. Der Grundsatz der Subsidiarität reicht jedoch weiter. Hier besteht die Möglichkeit, vor den Fachgerichten auf Feststellung zu klagen, nicht zu den nach § 16, § 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG gebotenen Handlungen verpflichtet zu sein. Derartige negative Feststellungsklagen sind nicht von vornherein unzulässig, denn es liegt nahe, dass die Fachgerichte ein Feststellungsinteresse als gegeben ansehen würden.
Die vorherige Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Fachgerichte erscheint auch geboten. Deren Entscheidungen sind geeignet, die in der fachrechtlichen Diskussion bereits aufgeworfenen Unklarheiten bezüglich der Reichweite des Mindestlohngesetzes aufzubereiten; sie können damit auch die Bewertung des Gesetzes in verfassungs- wie unionsrechtlicher Hinsicht beeinflussen. Klärungsbedürftig ist insbesondere, ob die Voraussetzung einer Beschäftigung im Inland wie im Sozialversicherungsrecht zu verstehen ist, ob ausnahmslos jede, auch nur kurzfristige Tätigkeit auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eine Inlandsbeschäftigung darstellt oder ob etwa eine bestimmte Dauer oder ein Bezug zu den deutschen Sozialversicherungssystemen und zu den Lebenshaltungskosten in Deutschland vorauszusetzen ist. Dabei stellt sich auch die Frage, ob eine Mindestlohnpflicht bei kurzzeitigen Einsätzen in Deutschland erforderlich ist, um die mit dem Mindestlohngesetz verfolgten Ziele zu erreichen. Die Fachgerichte sind darüber hinaus aufgerufen, von den Beschwerdeführenden aufgeworfene unionsrechtliche Fragen aufzuarbeiten, soweit diese entscheidungserheblich sind.
Die Beschreitung des fachgerichtlichen Rechtswegs ist nicht deshalb unzumutbar, weil die Beschwerdeführenden den Eintritt schwerer Nachteile bei Fortgeltung des Mindestlohngesetzes befürchten. Es bestehen Zweifel an einer hinreichenden Substantiierung, soweit Insolvenzrisiken der betroffenen Unternehmen behauptet, aber nicht mit Bilanzen belegt werden. Jedenfalls kann zur Vermeidung von Nachteilen insoweit vorläufiger Rechtsschutz der Fachgerichte in Anspruch genommen werden.
c) Eine Vorabentscheidung ist auch nicht wegen allgemeiner Bedeutung der Verfassungsbeschwerde angezeigt, da dem Vorteil einer vorherigen Befassung der Fachgerichte nur verhältnismäßig geringe Belastungen der Beschwerdeführenden durch die Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsweg gegenüberstehen.
d) Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
2. Auch im Verfahren 1 BvR 37/15 ist dem Grundsatz der Subsidiarität nicht genügt. Dem Beschwerdeführer ist zumutbar, vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Zudem hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass ihm hierdurch ein schwerer und unabwendbarer Nachteil droht.
3. Im Verfahren 1 BvR 20/15 hat die Beschwerdeführerin nicht substantiiert geltend gemacht, durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt zu sein. Es fehlen Angaben dazu, ob die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen einer Zeitungszustellerin erfüllt, wie sie in § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG genannt sind, und zu einer aktuellen Vergütung, die unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 € brutto je Zeitstunde liegen müsste.
PM des BVerfG v. 01.07.2015 (49/15)
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