Beitrag vom 03.02.2011:
Nachfolgend einige Entscheidungen, die sich mit dem Umfang des Akteneinsichtsrechts der Verteidigung beschäftigen. Seitens der Verteidigung muss frühzeitig versucht werden, neben dem eigentlichen Akteninhalt weitere Unterlagen zum Meßvorgang zu bekommen (Lebensbuch, Handbuch des verwendeten Messgeräts, Videoband/CD-ROM, Beschilderungsplan, Original-Beweisfotos etc.). Nur so läßt sich überprüfen, ob die Messung zumindest von der technischen Seite her ordnungsgemäß erfolgte. Bei den hier genannten Fehlerquoten ist das ein guter Ansatz.
Zur Überprüfung der Sach- und Rechtslage ist die Verteidigung unbedingt darauf angewiesen, vollständige Akteneinsicht zu erhalten. Nur so ist sie in der Lage, die Richtigkeit des gegen den Betroffenen erhobenen Vorwurfs zu überprüfen. Bereits mehrere Gerichte haben den Umfang des Akteneinsichtsrechts so zusammengefaßt, dass der Verteidiger Einsicht in diejenigen Unterlagen erhalten muß, wie sie auch dem gerichtlichen Sachverständigen vorgelegt werden (AG Bad Kissingen, Beschl. v. 6.7.2006 – 3 OWi 17 Js 7100/06 = ZfS 2006, 706; AG Neuruppin, Beschluß v. 22.08.2008, Az. 84.1 E Owi 79/08, zfS 2009, 177; AG Jena, Beschluß vom 26.09.2008, Az. 11 Owi 222/08, zfS 2009, 178; AG Cottbus, Beschl. v. 17.06.2008, Az. 67 Owi 1611 Js – Owi 17966/08, VRR 2009, S. 118; AG Bad Liebenwerda, 27.04.2009, Az. 41 Owi 337/08, VA 2009, S. 196).
Dies gilt selbst dann, wenn sie bei der Polizei verwahrt werden und noch nicht Teil der Gerichtsakte sind, soweit sie zur Beurteilung der Erfolgsaussichten des Einspruchs notwendig sind, weil sonst das Recht auf rechtliches Gehör verletzt wäre (AB Bad Kissingen, a.a. O.)
Seit der Entscheidung des BayObLG v. 29.11.1990 (NStZ 1990, 190) ist es übereinstimmende Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung, dass bei Videoaufzeichnungen Akteneinsicht in der Weise zu gewähren ist, dass der Verteidigung eine Kopie desjenigen Teils des Videobandes zugänglich gemacht wird, das den vorgeworfenen Verkehrsvorgang enthält (siehe hierzu auch OLG Koblenz NStZ 2001, 584; AG Ludwigslust DAR 2004, 44 bzw. 112; AG Straubing DAR 2006, 637).
Nach der oben zitierten Entscheidung des AG Cottbus hat die Verteidigung auch das Recht zur Einsicht in einen Messfilm.
Die Verwaltungsbehörde ist jedenfalls dann, wenn sich beispielsweise Unterlagen wie eine Bedienungsanleitung in ihrem Besitz befinden, zur Übersendung an den Verteidiger verpflichtet; der Verteidiger kann nicht darauf verwiesen werden, die Anleitung in den Diensträumen der Behörde einzusehen (vgl. AG Kleve, Beschluss vom 03.08.2008, 11 Owi 164/08, VRR 2008, 357).
Diese Frage ist allerdings umstritten. Die oben zitierten Entscheidung der AG Neuruppin und Jena hatten urheberrechtliche Bedenken gegen eine Kopie und die Original-Bedienungsanleitung werde ständig gebraucht. Sie haben daher den Verteidiger auf eine Einsichtnahme in der Behörde verwiesen.
Diese Auffassung ist aber abzulehnen. Es ist nicht einzusehen, warum hier so viel Umstandskrämerei betrieben wird. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass die betreffende Behörde etwas zu verbergen hat.Man hat wohl Angst davor, dass Meßvorgänge geprüft und Unzulänglichkeiten aufgedeckt werden.
Für mich ist auch bis heute nicht nachvollziehbar, warum einige Gerichte die Auffassung vertreten, dass Eichurkunden oder die Prüfbescheinigungen des Meßpersonals nicht zur Akte gehören sollen. Bisweilen erhält man mit dieser Argumentation noch nicht einmal das Meßprotokoll. Und gerade aus diesem lassen sich in einer Vielzahl von Fällen bereits erhebliche Einwendungen gegen die Richtigkeit der Messung erheben. Nur ein Messung, die nach Herstellervorgabe durchgeführt wird, führt auch zur Annahme, dass es sich um ein standardisiertes Meßverfahren handelt. Die Folgen eines Verstoßes sind allerdings auch noch nicht abschließend geklärt. Während einige Unwertbarkeit der Messung befürworten, halten andere die Messung für verwertbar, aber nur mit einem höheren Sicherheitsabzug. In aller Regel wird sich ein Richter dann auch sachverständig beraten lassen müssen.
Update 29.04.2010:
Der Kollege RA Burhoff berichtet über zwei Entscheidungen des AG Schwelm und des AG Erfurt. Das AG Schwelm bejaht einen Anspruch auf Einsicht in die Bedienungsanleitung, lehnt aber eine Einsicht in die Lebensakte ab. Das sieht das AG Erfurt anders.
Update 19.05.2010:
Auch der BGH (Urteil vom 18.06.2009, Az. 3 StR 89/09, hier Rnr. 20) hat etwas zum Thema Akteneinsicht zu sagen; es ging in der Strafsache zwar um die Protokolle einer Abhörmaßnahme; ich denke aber, dass sich die Ausführungen auch auf das Bußgeldverfahren übertragen lassen (vielen Dank an den Kollegen Kutzki für den Hinweis):
“Dieses Recht bezieht sich auf die dem Gericht vorliegenden oder ihm im Falle der Anklage gemäß § 199 Abs. 2 Satz 2 StPO vorzulegenden Akten. Das sind nach herrschender Meinung die von der Staatsanwaltschaft nach objektiven Kriterien (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) als entscheidungserheblich dem Gericht zu präsentierenden Unterlagen. Dazu gehören – verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 63, 45; hierzu auch Lüderssen/Jahn in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 147 Rdn. 35 ff.) – zwar (nur) diejenigen, die durch die Identität der Tat und der des Täters konkretisiert werden (“formeller Aktenbegriff”, vgl. BGHSt 30, 131, 138 f.; zu den sog. “materiellen und funktionalen Aktenbegriffen” vgl. Wohlers in SK-StPO § 147 Rdn. 27 ff.; Lüderssen/Jahn aaO § 147 Rdn. 41 ff.; Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 199 Rdn. 8 ff.). Jedoch muss danach jedenfalls das gesamte vom ersten Zugriff der Polizei (§ 163 StPO) an gesammelte Beweismaterial, einschließlich etwaiger Bild- und Tonaufnahmen nebst hiervon gefertigter Verschriftungen, zugänglich gemacht werden, das gerade in dem gegen den Angeklagten gerichteten Ermittlungsverfahren angefallen ist (vgl. Meyer-Goßner aaO § 147 Rdn. 15; zum Begriff der Akten vgl. auch Schäfer NStZ 1984, 203). Eine Ausnahme gilt nur für Unterlagen oder Daten, denen eine allein innerdienstliche Bedeutung zukommt. Dies können etwa polizeiliche Arbeitsvermerke im Fortgang der Ermittlungen unter Bewertung der bisherigen Ermittlungsergebnisse oder sonstige rein interne polizeilichen Hilfs- oder Arbeitsmittel nebst entsprechender Dateien sein (vgl. Meyer-Goßner aaO § 147 Rdn. 18 a). Im Bereich der Justizbehörden sind vom Akteneinsichtsrecht ausgenommen etwa entsprechende Bestandteile der staatsanwaltschaftlichen Handakten, Notizen von Mitgliedern des Gerichts während der Hauptverhandlung oder so genannte Senatshefte (vgl. Wohlers aaO § 147 Rdn. 32 ff.).”
Update 13.08.2010:
Auch das AG Neuruppin (Entscheidung vom 22.09.2008, Az. 84/1 E Owi 79/08) ist der Auffassung, dass der Verteidiger Einsicht in diejenigen Unterlagen erhalten muss, wie sie ein Sachverständiger benötigt, inkl. Bedienungsanleitung. Allerdings können die Unterlagen, die nur im Original vorhanden sind oder ständig benötigt werden, nur bei der Behörde eingesehen werden (Quelle: ADAJUR Newsletter vom 18.08.2010).
Update 30.09.10:
Nach einer Mitteilung des ADAC-Newsletters vom 28.09.2010 ist das AG Verden (Entscheidung vom 23.08.2010, Az. 9B Owi 764/10) der Auffassung, dass das Akteneinsichtsrecht zwar die Einsicht in die Bedienungsanleitung umfasst, nicht aber in die Lebensakte.
Update 03.02.2011:
Der Kollege Burhoff hat in seinem Blog eine landgerichtliche Entscheidung (LG Ellwangen vom 14.09.2009, Az. 1 Qs 166/09, VRR 2011, S. 117) mit in der Tat bemerkenswertem Inhalt veröffentlicht:
“1. Das Einsichtsrecht des Verteidigers in die Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgerätes ergibt sich bereits aus seinem Recht, den Polizeibeamten, der die Messung vorgenommen hat, als Zeugen zu der ordnungsgemäßen Durchführung der Messung zu befragen, was ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung des Gerätes nicht möglich ist.
2. Kann dem Verteidiger wegen der weiten Entfernung zwischen seinem Kanzleisitz und dem Ort der Aufbewahrung der Akten eine Reise an den Aufbewahrungsort nicht zugemutet werden, ist Akteneinsicht im Wege der Übersendung einer Kopie der Bedienungsanleitung zu gewähren. Urheberrechtliche Bestimmungen stehen dem nicht entgegen.”
Das AG Ellwangen ist dem nun mit Urteil vom 25.10.10, Az. 5 OWi 146/10, gefolgt.
Update 28.4.2011:
Der Kollege Burhoff macht in seinem Blog auf eine interessante Entscheidung des AG Lemgo (Beschluss vom 14.4.2011, Az. 22 Owi 621/11) aufmerksam. Demnach sind vom Akteneinsichtsrecht auch umfaßt die digitalen Tatfotos. Dem angeblichen Verstoß lag eine Messung mittels ESO zugrunde. Hierbei handelt es sich eigentlich um eine Selbstverständlichkeit. Wie aber gerade die Berichterstattung des Kollegen Burhoff zeigt, muss das Recht auf vollständige Akteneinsicht immer wieder im Vorfeld oder im Rahmen einer Hauptverhandlung (dann ggf. mit Unterbrechungsantrag) erkämpft werden. Ich verstehe ehrlich gesagt die Anstellerei der Bußgeldbehörden und das teilweise Unverständnis der Bußgeldrichter nicht. Ich vertrete hierbei die Auffassung, dass ein Bussgeldbescheid gar nicht erst erlassen werden darf, wenn der Sachbearbeiter in seiner Akte nicht diejenigen Unterlagen hat, die eine Messung zB zum sog. standardisierten Messverfahren machen.
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Kommentare
- 17. Februar 2011, Einsicht in die Akten der Bußgeldstelle » Von RA Jürgen Frese » Bedienungsanleitung, Messung, Unterlagen, Verteidiger, Akteneinsicht, Einsicht » Schadenfixblog stets aktuelle Rechtstipps und Diskussionen zum Verkehrsrecht schrieb: [...] Quelle: http://ra-frese.de/ [...]
Über die Plattform "schadenfix.de" der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des DAV können Sie mir unkompliziert einen Unfallschaden melden.
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