Rechtsanwalt Joachim Sokolowski

Fachanwaltskanzlei Sokolowski
63263, Neu-Isenburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht
13.07.2011

Zeugnisverweigerungsrecht bei Gefahr der Strafverfolgung

Entscheidung des Bundesgerichtshofes

In seinem Beschluß vom 30. Juni 2011 in den Verfahren StB 8/11 und StB 9/11 hat sich der Bundesgerichtshof eingehend mit den Voraussetzungen des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 55 StPO befasst und u.a. folgendes ausgeführt:

Die Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne des § 55 StPO setzt voraus, dass der Zeuge Tatsachen bekunden müsste, die – nach der Beurteilung durch das Gericht – geeignet sind, unmittelbar oder mittelbar den Anfangsverdacht einer von ihm selbst oder von einem Angehörigen (§ 52 Abs. 1 StPO) begangenen Straftat zu begründen oder einen bereits bestehenden Verdacht zu bestärken. Bloße Vermutungen ohne Tatsachengrundlage oder rein denktheoretische Möglichkeiten reichen für die Annahme einer Verfolgungsgefahr nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Juni 1994 – StB 10/94, NJW 1994, 2839, 2840; vom 4. September 2009 – StB 44/09, NStZ 2010, 287, 288; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 55 Rn. 7). Eine das Recht zur Auskunftsverweigerung begründende Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO besteht grundsätzlich etwa dann nicht mehr, wenn gegen den Zeugen hinsichtlich der Tat, deren Begehung er sich durch wahrheitsgemäße Beantwortung der Frage verdächtig machen könnte, bereits ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, die Strafklage daher verbraucht ist und deswegen zweifelsfrei ausgeschlossen ist, dass er für diese noch verfolgt, das heißt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden
könnte (BGH, Beschlüsse vom 7. Juli 2005 – StB 12/05, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 6; 28. April 2006 – StB 1/06, NStZ-RR 2006, 239; 4. September 2009 – StB 44/09, NStZ 2010, 287, 288; Meyer-Goßner aaO Rn. 8 mwN).
Zweifelsfrei ausgeschlossen ist die konkrete Gefahr der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens in diesen Fällen allerdings nur dann, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung endgültig feststeht, dass wegen der Verfolgung der möglichen Straftat Strafklageverbrauch eingetreten ist. Wenn und solange die Frage des Strafklageverbrauchs mit vertretbarer Argumentation auch verneint werden kann, steht dem Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht zu (BGH, Beschluss vom 13. November 1998 – StB 12/98, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 4).

Hinsichtlich des Strafklageverbrauchs gelten im Bereich der Organisationsdelikte grundlegende Besonderheiten: Danach werden im Vergleich zu §§ 129, 129a, 129b StGB schwerere Straftaten, die mit der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Vereinigung in Tateinheit stehen, dann nicht von der Rechtskraft eines allein wegen dieser Beteiligung ergangenen Urteils erfasst, wenn sie in dem früheren Verfahren tatsächlich nicht – auch nicht als mitgliedschaftlicher Beteiligungsakt – Gegenstand der Anklage und der Urteilsfindung waren (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 1980 – 3 StR 9/80, BGHSt 29
288, 292 ff.). Unter dieser Voraussetzung ist daher ein wegen eines Organisationsdelikts Verurteilter durch die Rechtskraft des früheren Urteils nur vor weiterer Strafverfolgung wegen dieses Delikts und tateinheitlich mit diesem zusammentreffender weiterer, nicht schwerer wiegender Straftaten geschützt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 11. Juni 2002 – StB 12/02, NStZ 2002, 607608).

Die Entscheidung kann hier auf den Seiten des BGH im Volltext abgerufen werden.