Polizeiliche Oberservationsberichte können grundsätzlich gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesen werden. Die Aufklärungspflicht kann aber – ggf. zusätzlich – eine Vernehmung des Ermittlungsbeamten gebieten.
Diesen Leitsatz hat das LG Berlin in seinem Beschluss vom 19.02.2014 ((533) 254 Js 33/13 KLs (33/13)) aufgestellt.
In dem betreffenden Verfahren hatten die Angeklagten der Anordnung des Selbstleseverfahrens bezüglich polizeilicher Observationsberichte widersprochen und die Auffassung vertreten, diese dürften nicht durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden, auch nicht nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO.
Das LG hat die Widersprüche mit der Begründung, die Verlesung der Observationsberichte finde gerade in § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO eine tragfähige Rechtsgrundlage.
Im Einzelnen wird die Entscheidung u.wie folgt begründet:
Zuzugeben ist, dass vereinzelt in der Literatur explizit für Observationsberichte vertreten wird, diese fielen nicht unter § 256 StPO (SK-StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, § 256 Rdnr. 33; Lickleder/Sturm, HRRS 2012, 74 [77]).
Die zitierten Stimmen stützen sich allerdings – ergänzend zu eher knappen Begründungen – in erster Linie auf die Entscheidung BGH, NStZ 1982, 79. Das überzeugt nicht; denn diese Entscheidung stammt aus einer Zeit vor Inkrafttreten der hier relevanten Nr. 5 des § 256 Abs. 1 StPO im Jahre 2004. Konsequent verhält sie sich nur zur damals geltenden Fassung des § 256 Abs. 1 Satz 1 StPO und zur Qualität des Observationsberichts als „Zeugnis“ im Sinne jener Norm.
Auch die von Lickleder/Sturm a. a. O., Fn. 40, zusätzlich herangezogene Fundstelle – nämlich KK-StPO/Diemer, (hier zitiert: 7. Aufl. 2013), § 256 Rdnr. 2 – belegt nicht die eingangs wiedergegebene Ansicht, sondern eher deren Gegenteil. Dort wird zwar unter Bezugnahme u. a. auf vorgenannte BGH-Entscheidung ausgeführt: „Polizeiliche Observationsberichte oder polizeiliche Berichte über eine Fluchtwegmessung sind keine Zeugnisse oder Gutachten i. S. d. § 256“. Weiter heißt es dann aber bemerkenswert: „sie können jedoch unter den Voraussetzungen von Abs. 1 Nr. 5 [!] oder von § 251 Abs. 1 verlesen werden.“
2.
Unabhängig von solcher reinen Fundstellen-Auswertung teilt die Kammer schon den Ausgangspunkt der Widerspruchsbegründung nicht, Ermittlungshandlungen im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO beträfen ausschließlich Routinemaßnahmen.
a)
Aus dem Wortlaut der Vorschrift folgt eine solche Beschränkung nicht. Der Begriff „Ermittlungshandlungen“ wird nicht von einer eingrenzenden Wendung – etwa dem Wort „routinemäßigen“ oder einem sinnverwandten Attribut – begleitet.
b)
Auch der in diesem Zusammenhang gelegentlich zitierte (OLG Düsseldorf NStZ 2008, 358; LR-Stuckenberg, StPO, 26. Aufl. 2013, § 256 Rdnr. 57) Wille des Gesetzgebers gebietet die besagte Beschränkung nicht.
Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Ds. 15/1508 S. 26) sollte die Einfügung der Vorschrift „zu einer Entlastung der Strafverfolgungsbehörden und der Hauptverhandlung bei[tragen]“. Soweit es dann weiter heißt: „Die Strafverfolgungsbehörden erstellen im Rahmen der Ermittlungen Protokolle und Vermerke über Routinevorgänge“, drückt dies aus Sicht der Kammer zwar Motiv und hauptsächliche Zielrichtung des Gesetzgebers aus, nicht aber eine inhaltliche Eingrenzung.
Dafür spricht auch der kurz darauf folgende Passus: „Bei den meist routinemäßig erstellten Protokollen …“ Die – nur hier hervorgehobene – Relativierung zeigt, dass der Gesetzgeber auch außerhalb der Routine liegende Vorgänge bedacht und als möglichen Anwendungsbereich für die vorgesehene Vereinfachung eingeschätzt hat. Dieser bereits vom OLG Celle, StV 2013, 742 vertretenen Argumentation folgt die Kammer, ohne dass es auf die in der Widerspruchsbegründung aufgeworfene Frage ankommt, ob sich das OLG Celle dabei zu Unrecht auch auf die Entscheidung BGH, NStZ 2008, 529 berufen hat.
Im Übrigen ist nicht zu erkennen, weshalb der Gesetzgeber einem etwaigen Willen, die Vorschrift auf Routinevorgänge zu beschränken, nicht klar hätte Ausdruck verleihen sollen, etwa durch ein Attribut wie soeben unter a) genannt oder durch eine zusätzliche Klausel in § 256 Abs. 1 Nr. 5 (am Ende) StPO. Gerade diese letztgenannte Ausnahme belegt, dass der Gesetzgeber die von ihm gewünschten Einschränkungen der Vorschrift auch so formuliert hat.
c)
Soweit die genannte Beschränkung aus einer teleologischen Reduktion gefolgert werden soll (SK-StPO/Velten, 4. Aufl. 2012, § 256 Rdnr. 33), greift dies zu kurz. Gestützt wird diese Forderung auf die Erwägung in den Gesetzesmaterialien, dass bei den meist routinemäßig erstellten Protokollen „der Polizeibeamte oder sonstige Angehörige einer Strafverfolgungsbehörde in der Hauptverhandlung ohnehin in der Regel kaum mehr bekunden [kann] als das, was in dem Protokoll bereits schriftlich festgelegt ist“ (BT-Ds. 15/1508 S. 26).
Diese Analyse trifft aber – wie das Wort „meist“ in der amtlichen Begründung bestätigt – keineswegs ausschließlich auf Routinevorgänge zu. Gerade wenn es auf exakte Daten wie Zeitangaben usw. ankommt, wird selbst bei noch so individuellen und speziellen Maßnahmen die im Protokoll oder Vermerk verschriftete Angabe auch für den Ermittlungsbeamten die wesentliche Grundlage für eigene Bekundungen sein.
Überdies dient § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch weiteren Zwecken, nämlich der Beschleunigung und der Wahrheitsfindung; denn kleinste Details – etwa die vorgenannten genauen Zeitangaben oder sonstige Maße und Gewichte – werden in der zeitnahen Verschriftung oft zuverlässiger bekundet als nach oft langer Zeit in der Hauptverhandlung aus dem Gedächtnis (KK-StPO/Diemer, StPO, 7. Aufl. 2013, § 256 Rdnr. 9a m. w. N.). Darin unterscheiden sich routinemäßige und außergewöhnliche Ermittlungshandlungen ebenfalls nicht. Auch unter diesem Gesichtspunkt besteht also kein Bedarf, den Anwendungsbereich der Vorschrift allein wegen des Normzwecks zu verengen.
d)
Von vorstehenden Erwägungen zu trennen ist die Frage, ob eine alleinige Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO der Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO genügt. Es bedarf keiner Vertiefung, dass diese Pflicht durch die Verlesungsmöglichkeit nicht beschränkt wird und deshalb eine Vernehmung des betreffenden Ermittlungsbeamten gebieten kann. Dies mag bei außergewöhnlichen Ermittlungshandlungen oft näher liegen als bei routinemäßigen Maßnahmen, etwa wenn es um bestimmte Begleitumstände des Einsatzes geht. Vor diesem Hintergrund ist auch aus Sicht der Kammer ein wohlbedachter Umgang mit § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO geboten (vgl. LR-Stuckenberg, StPO, 26. Aufl. 2013, § 256 Rdnr. 57 a. E.: zurückhaltende Anwendung). Eine grundsätzliche Beschränkung seines Anwendungsbereichs aber lässt sich daraus nicht ableiten.
Im Übrigen dürfte nach Ansicht der Kammer selbst in Fällen, in denen die Aufklärungspflicht eine Vernehmung des Ermittlungsbeamten gebietet, eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht etwa verboten sein, wie KK-StPO/Diemer, 7. Aufl. 2013, § 256 Rdnr. 9a andeutet. Es ist nicht ersichtlich, weshalb eine Beweiserhebung unzulässig sein soll, nur weil sie letztlich unzureichend zur Aufklärung beiträgt. Überzeugender erscheint es, eine derartige Beweiserhebung als möglich – wenn auch nicht zwingend – zu erachten und das Unterlassen einer unter Aufklärungsgesichtspunkten gebotenen (mindestens zusätzlichen) Beweiserhebung, bei § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO also insbesondere die Vernehmung des Ermittlungsbeamten, auf eine Aufklärungsrüge hin zu prüfen (in diesem Sinne auch OLG Celle, StV 2013, 742 [743]).
3.
Selbst wenn – abweichend von der hier vertretenen Ansicht – § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO nur routinemäßige Ermittlungshandlungen erfassen würde, sähe die Kammer jedenfalls keinen Anlass, polizeiliche Observationsmaßnahmen von vornherein aus diesem Kreis auszuschließen.
a)
Dass sie überhaupt unter den Begriff der Ermittlungshandlungen fallen, bedarf keiner Vertiefung. Dann gilt für sie weiter die bereits oben unter 2. b) zitierte „routineprägende“ Erwägung, dass in der Hauptverhandlung ohnehin in der Regel kaum mehr an Beobachtungen bekundet werden kann als das im Protokoll schriftlich Fixierte. Wenn etwa Polizeibeamte bei der tagelangen Beobachtung eines Hauseingangs registrieren, dass am Tag A um 17.31 Uhr ein unbekannter Mann das Haus betritt, es um 19.14 Uhr wieder verlässt und zu einem Fahrzeug mit dem Kennzeichen XY geht, dass in der folgenden Nacht um 2.09 das Licht im Wohnzimmer angeht und um 3.49 Uhr wieder erlischt, dass am Tag B um 5.19 eine unbekannte Frau das Haus betritt und es um 6.42 Uhr mit einer gelben Plastiktüte mit rotem Aufdruck der Firma Z wieder verlässt (und so weiter), so ziehen diese Polizeibeamten für ihre Vernehmungen in der Hauptverhandlung vielfach ihre verschrifteten Berichte und Vermerke heran, weil sie selbst – auch aufgrund zwischenzeitlicher neuer Observationsaufträge – meist gar nicht mehr die genauen Abläufe und Einzelheiten erinnern können.
Für die grundsätzliche Einbeziehung von Observationsmaßnahmen in Routinemaßnahmen im vorgenannten Sinne spricht auch ihre Vergleichbarkeit mit – in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich als Beispiel für Routinevorgänge aufgezählten – Hausdurchsuchungen. Zwischen beiden Ermittlungshandlungen gibt es durchaus Parallelen. Etwa können auch bei Hausdurchsuchungen bestimmte Zuordnungen (wenn auch meist von Gegenständen und nicht von Personen) vorzunehmen sowie Beobachtungs- und Wahrnehmungsergebnisse wiederzugeben sein, bei denen sich sogar – beispielsweise bei größeren Häusern oder gar Anwesen – verschiedene Betrachtungswinkel und Standortwechsel ergeben können.
b)
Die Kammer verkennt dabei nicht, dass es innerhalb der Bandbreite von Observationsmaßnahmen – wie auch bei allen in den Gesetzesmaterialien explizit aufgeführten Beispielen für Routinemaßnahmen, insbesondere bei Hausdurchsuchungen – unterschiedliche Aufträge, Vorkenntnisse und Begleitumstände sowie dementsprechend unterschiedliche Protokoll- und Vermerksinhalte geben kann. Soweit sich der Kammer erschließt, stellt die Widerspruchsbegründung gerade auf anspruchsvolle und individuelle Observationsmaßnahmen ab, wenn sie mit diesen ein „tatsächliches oder vermeintliches Wiedererkennen“, das „Zuordnen von Situationen und Personen“ oder Angaben zu Wahrnehmungsmöglichkeiten und Standorten verknüpft. Das sind aber keine Merkmale, die alle Observationen prägen; deshalb können sie die Klassifizierung von Observationsberichten auch nicht grundsätzlich beeinflussen.
Die Kammer sieht hierin vielmehr Umstände, die gegebenenfalls – nicht anders als bei den in den Gesetzesmaterialien explizit aufgezählten Beispielen für Routinemaßnahmen – eine weiter gehende Beweiserhebung im Rahmen der Aufklärungspflicht begründen, und zwar nach den soeben unter 2. d) dargestellten Maßstäben, bei § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO also regelmäßig in Form einer Vernehmung des betreffenden Ermittlungsbeamten. Dies wird die Kammer auch im vorliegenden Fall je nach konkretem Verlauf der Beweisaufnahme im Blick behalten.
4.
Die Kammer sieht sich, ohne dass dies tragend wäre, in ihrer Auffassung zumindest indirekt durch die Entscheidung BGH, NStZ 2012, 708 bestärkt. Dort ging es zwar um ein anderes Problem, nämlich die Revisibilität einer unterlassenen Bescheidung des Widerspruchs gegen das Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die betroffenen Dokumente aber waren – neben Wortprotokollen von überwachten Telefongesprächen – gerade Observationsberichte.
Der BGH hat im dortigen Fall ein Beruhen des Urteils auf besagter Unterlassung ausgeschlossen, weil „in Anbetracht der im Urteil der Beweiswürdigung zugrunde gelegten Urkundeninhalte … nicht ansatzweise ersichtlich“ sei, „wie eine Verlesung in der Hauptverhandlung zu einer anderen Bewertung der eingeführten Telefongespräche und Observationsberichte hätte führen sollen“ (BGH, NStZ 2012, 708 [709]). Dabei sind nicht die leisesten Bedenken gegen die grundsätzliche Verlesbarkeit der Observationsberichte angeklungen.
Die Kammer will zwar gerade angesichts ihrer bisherigen Ausführungen vermeiden, einzelne Textpassagen (oder hier gar deren Fehlen) in der zitierten Entscheidung allzu forsch zu interpretieren. Sie kann sich aber vorstellen, dass der BGH dort bei seinen stark differenzierenden Abwägungen zur Einführung von Urkunden in die Hauptverhandlung auch etwaige Vorbehalte in Bezug auf die Verlesbarkeit von Observationsberichten zumindest in einem obiter dictum festgehalten hätte.
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