Rechtsanwalt Joachim Sokolowski

Fachanwaltskanzlei Sokolowski
63263, Neu-Isenburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht
17.07.2012

Selbstmord durch Arzt nicht verhindert

Bechluss des LG Gießen
Wer als zuständiger Arzt einer psychiatrischen Klinik nicht zur Verhinderung eines freiverantwortlich begangenen Selbstmordes unternimmt, macht sich nicht strafbar, auch wenn der betreffende Patient wegen Suizidgefahr überwiesen wurde.

Dies hat das LG Gießen in seinem Beschluss vom 28.06.2012 (7 Qs 63/12) festgestellt und in den Entscheidungsgründen u.a. Folgendes ausgeführt:

Es besteht kein hinreichender Tatverdacht, § 203 StPO, die Angeschuldigte habe eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen, §§ 222, 13 Abs. 1 StGB, begangen. Bei vorläufiger Tatbewertung hat die Angeschuldigte nicht dadurch den Tod eines anderen Menschen pflichtwidrig verursacht, dass sie dem Patienten keine Medikamente verordnet und ihm zum Suizid geeignete Gegenstände belassen hat. Nach Aktenlage besteht bei den gegebenen Beweismöglichkeiten keine Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung der Angeklagten.

Strafbar nach den §§ 211 ff. StGB ist die Tötung eines „anderen“ Menschen. Die Selbsttötung unterfällt demgegenüber nicht dem Tatbestand eines Tötungsdelikts (Leipziger Kommentar/Jähnke, StGB, 11. Aufl., vor § 211, Rn. 21). Die Mitverursachung eines Selbstmordes ist damit grundsätzlich ebenso straffrei wie die fahrlässige Ermöglichung der eigenverantwortlichen Selbsttötung (OLG Stuttgart, Beschl. vom 03.02.1997, Az. 4 Ws 230/96, juris Rn. 15; Leipziger Kommentar/Jähnke, a. a. O., Rn. 23). So kann derjenige, der mit Gehilfenvorsatz den Tod eines Selbstmörders mit verursacht, nicht bestraft werden. Schon dies verbietet es aus Gründen der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache für den Tod eines Selbstmörders setzt. Er ist sich – bei bewusster Fahrlässigkeit – wie der Gehilfe der möglichen Todesfolge bewusst, nimmt sie aber anders als jener nicht billigend in Kauf. Bei unbewusster Fahrlässigkeit fehlt sogar schon das Bewusstsein der möglichen Todesfolge. Es geht nicht an, das mit einer solchen inneren Einstellung verübte Unrecht strafrechtlich strenger zu bewerten als die Tat desjenigen, der mit Gehilfenvorsatz dasselbe Unrecht bewirkt, nämlich den Tod eines Selbstmörders mit verursacht (BGHSt 24, 342, 343; 32, 262, 264). Aus der Straflosigkeit von Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung folgt zwingend, dass der Garant, der nichts zur Verhinderung des freiverantwortlichen Suizids unternimmt, ebenfalls straffrei bleiben muss (Leipziger Kommentar/Jähnke, a. a. O., Rn. 24).

Hätte die Angeschuldigte durch aktives Tun Beihilfe zum eigenverantwortlichen Suizid des Patienten geleistet, indem sie ihm etwa in Kenntnis seiner Suizidabsicht den Gürtel gereicht hätte, käme eine Strafbarkeit wegen Beihilfe aufgrund der Straflosigkeit des Suizids von vornherein nicht in Betracht. Ausgehend hiervon würde es unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze einen unerträglichen Wertungswiderspruch darstellen, wollte man der Angeschuldigten das bloße Untätigbleiben im Hinblick auf die Verabreichung sedierender Medikamente und der Wegnahme des Gürtels strafrechtlich zum Vorwurf machen.

Dem steht auch nicht entgegen, dass sich aus dem vorliegenden ärztlichen Behandlungsvertrag besondere Sorgfaltspflichten der Angeschuldigten ergaben. Die besondere Garantenstellung des Arztes gebietet es unter anderem, den Patienten im Rahmen der von ihm gewählten Therapie keinen vermeidbaren Risiken auszusetzen, wie sie etwa mit der erstmaligen Anwendung einer neuartigen Entziehungstherapie verbunden sind (BGH, Urt. vom 18.07.1978, Az. 1 StR 209/78, juris Rn. 9). Da die Angeschuldigte im vorliegenden Fall aber weder therapeutische Maßnahmen ergriffen, noch aktiv vermeidbare Risiken für den Angeschuldigten geschaffen hat, ist die dem Urteil vom 18.07.1978 zugrundeliegende Sachverhaltskonstellation, die überdies keine eigenverantwortliche Selbsttötung zum Gegenstand hat, auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BGH vom 04.07.1984 (Az. 3 StR 96/84), wonach das Eingreifen des anwesenden Garanten geboten ist, wenn der Lebensmüde nach Beendigung seines Selbsttötungsversuchs das Bewusstsein verloren hat. Auf die Frage, ob es ab dem Zeitpunkt der Bewusstlosigkeit zu einem strafbegründenden Tatherrschaftswechsel kommt, weil der Garant damit zum Herrn über Leben oder Tod avanciert, kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Die Angeschuldigte war bei dem Suizid des Patienten nicht anwesend und konnte so zu keinem Zeitpunkt Tatherrschaft über das Geschehen erlangen.

Eine straflose Beteiligung am Suizid kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die Willensbildung des Suizidenten einwandfrei ist und der Selbsttötungswille fortbesteht (Leipziger Kommentar/Jähnke, a. a. O., Rn. 25). Jedoch steht einem Freispruch der Angeschuldigten bei den gegebenen Beweismöglichkeiten nach Aktenlage gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo“ wahrscheinlich auch insoweit nichts entgegen. Zwar kann nach den Erkenntnissen der Suizidforschung von einem eigenverantwortlichen Handeln des Lebensmüden nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden. Zweifel an der Eigenverantwortlichkeit können jedoch keine Strafbarkeit begründen, sondern wirken, wie stets, zugunsten des Angeklagten (Leipziger Kommentar/Jähnke, a. a. O., Rn. 27, m. w. N., Rn. 31).

Auch wenn sich aufgrund des vorliegenden Gutachtens des Sachverständigen … vom 05.09.2011 Zweifel an einem eigenverantwortlichen Handeln des Patienten ergeben, kann am Ende nicht die Feststellung getroffen werden, der Patient habe sich nicht eigenverantwortlich das Leben genommen. So ist nach Einschätzung des Sachverständigen bei dem Patienten zur Tatzeit die Diagnose einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen zu stellen. Die Psychose, die nach Einschätzung des Sachverständigen im Vordergrund stand, beruhte auf der wahnhaften Überzeugung des Patienten, er habe sich beim Hantieren mit Rattengift im Frühjahr 2010 Gesundheitsschäden zugezogen. Ausreichend schwere psychotische Symptome können, wie der Sachverständige überzeugend aufgezeigt hat, zu einer Aufhebung der freien Willensbildung führen. Jedoch befand sich der Patient genau an der Grenze zwischen freier Willensbildung und Verlust des freien Willens durch psychotisch aufgezwungene Handlungen. Diese Annahme stützt der Sachverständige insbesondere auf die wiederholte Aussage des Patienten, er wolle leben, habe aber Angst davor, sich etwas anzutun. Damit distanzierte sich das „Gesunde Ich“ von Suizidabsichten, wobei das „Gesunde Ich“ zugleich das Andrängen psychotischer Handlungsimpulse bemerkte und hierauf mit Angst reagierte. Da sich der Patient im Grenzbereich von eigenverantwortlicher Willensbildung und ausgeschlossener Eigenverantwortlichkeit befand, müssen sich die unüberwindbar bestehenden Zweifel an der Eigenverantwortlichkeit seines Handelns notwendig zu Gunsten der Angeschuldigten auswirken.

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