Rechtsanwalt Joachim Sokolowski

Fachanwaltskanzlei Sokolowski
63263, Neu-Isenburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht
20.09.2012

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei Widerruf einer Bewährung

Bei rechtsstaatswidriger Verzögerung des Verfahrens über einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung sind die für das Erkenntnisverfahren entwickelten Kompensationsregeln unter Berücksichtigung der strukturell geringeren Belastungen des Verurteilten entsprechend anwendbar. Danach ist jedenfalls eine Kompensation durch Feststellung, das Widerprufsprüf- bzw. beschwerdeverfahren sei rechtsstaatswidrig verzögert worden, eröffnet.

Unabhängig von der Frage einer rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bleibt bei besonders langem Zeitabstand zwischen Widerrufsanlassverhalten und Widerrufsentscheidung materiell-rechtlich als Widerrufshindernis zu prüfen, ob der Verurteilte wegen des Zeitfaktors auf ein Ausbleiben des Widerrufs hat vertrauen dürfen.

Diese Leitsätze hat das OLG Hamburg zu seiner Entscheidung vom 22.12.2011 (2 Ws 140/10) aufgestellt und in den Entscheidungsgründen u.a. folgendes ausgeführt:

[...]
Der Zeitablauf seit der Widerrufsanlasstat und seit dem Ende der Bewährungszeit sowie die Dauer des Widerrufsprüfverfahrens und des zugehörigen Beschwerdeverfahrens stehen in formeller Hinsicht [...] einem Widerruf der Strafaussetzung nicht entgegen. Die im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens eingetretene rechtsstaatswidrige Verzögerung kann jedenfalls durch deren Feststellung kompensiert werden.

Die genannten Zeitfaktoren hindern den Widerruf hier weder unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes (hierzu vgl. OLG Düsseldorf in NStZ-RR 1997, 254) noch der Verhältnismäßigkeit.

aa) Der Verurteilte hat die Widerrufsanlasstat vom 9./10. März 2008 weitgehend bestritten. Damit hatte die Strafvollstreckungskammer – dem Verurteilten erkennbar – den Eintritt der Rechtskraft des die Anlasstat betreffenden Urteils abzuwarten. Den Eintritt der Rechtskraft hat die Strafvollstreckungskammer hinreichend überwacht; auf ihre Sachstandsanfrage vom 7. Mai 2010 hat sie am 10. Mai 2010 erfahren, dass das Berufungsurteil seit 25. März 2010 rechtskräftig war. Zügig hat die Strafvollstreckungskammer am 20. Mai 2010 das Gehör zu ihrer Widerrufserwägung verfügt. Das Gehörsschreiben ist dem Verurteilten am 26. Mai 2010 zugestellt worden. In der kurzen Zeitspanne zwischen 25. März und 26. Mai 2010 kann der Verurteilte kein Vertrauen darauf entwickelt haben, ein Widerruf werde ausbleiben.

Das weitere Widerrufsprüfverfahren hat sich dadurch verlängert, dass die Strafvollstreckungskammer – über die gesetzlichen Anforderungen aus §§ 454 Abs. 4 S. 1, 453 Abs. 1 S. 2 StPO hinausgehend – auf Antrag des Verteidigers den Verurteilten zusätzlich mündlich angehört hat. Nach der mündlichen Anhörung vom 2. Juli 2010 hat die Strafvollstreckungskammer zügig spätestens am 9. Juli 2010 entschieden. Seit Bekanntgabe der Widerrufsentscheidung im Juli 2010 stand dem Verurteilten endgültig vor Augen, dass er wegen der in die Bewährungszeit fallenden Anlasstat den Widerruf der Reststrafenaussetzung zu gewärtigen hatte.

Daran änderte auch das mit Ablauf des 4. Oktober 2010 eingetretene Ende der Bewährungszeit nichts. Der Verurteilte hatte zuvor am 15. Juli 2010 sofortige Beschwerde gegen den landgerichtlichen Widerrufsbeschluss eingelegt. Entgegen dem Beschwerdevorbringen war auch für den Verurteilten erkennbar, dass ohne – ausstehende – Entscheidung des Beschwerdegerichtes der Widerruf wegen einer in die Bewährungszeit fallenden Anlasstat nicht entfallen würde. Im Sommer 2011 wurde der Verurteilte an das offene Beschwerdeverfahren dadurch erinnert, dass der Senat auf die anstehende Bearbeitung und Entscheidung hinwies. Der Verurteilte hat durch seinen Verteidiger Gelegenheit genommen, bis 9. September 2011 ergänzend Stellung zu nehmen.

bb) Es kann dahinstehen, ob über den Schutz eines – hier nicht entstandenen – Vertrauens in das Unterbleiben eines Widerrufes und über die – oben Ziff. 1. b) bb) erörterten – materiell-rechtlichen Auswirkungen eines längeren Zeitablaufes hinaus dieser auch unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit (zur Beziehung zwischen Dauer des Erkenntnisverfahrens und Verhältnismäßigkeit der Rechtsfolge vgl. allg. BVerfG in NJW 1993, 3254, 3255 m.w.N.) beachtlich ist. Jedenfalls würde es hier an einer Unverhältnismäßigkeit des Widerrufes fehlen.

Erfordernis und Eignung des Widerrufes stehen [...] nicht in Frage. Der Widerruf ist dem Verurteilten auch zumutbar. Insbesondere folgt eine Unzumutbarkeit nicht aus durch die Verteidigung vorgetragenen Unsicherheiten, denen der Verurteilte während des Zuwartens bei seiner Planung für die berufliche und familiäre Zukunft ausgesetzt gewesen sein mag. Der Verurteilte hat durchgehend in einem Arbeitsverhältnis gestanden. Dass die Erhaltung des Arbeitsplatzes bzw. ein unternehmensinterner Aufstieg bei erneuter Inhaftierung gefährdet sein können, ist der Vollstreckung von Freiheitsstrafen eigen. Dass bei einer früheren Inhaftierung der Verurteilte rund ein Jahr früher mit 47 statt mit 48 Jahren wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt hätte fassen müssen, hätte die Integrationsaussichten nicht wesentlich verändert. Die persönlichen Beziehungen zur Freundin und zu den Kindern sind nicht destabilisiert; eine Destabilisierung kündigt sich auch für die Zukunft nicht an. Wegen des Zuwartens auf den Ausgang des Widerrufsverfahrens aufgeschoben worden ist lediglich die geplante Anmietung einer gemeinsamen Wohnung durch Verurteilten und Freundin. Diesem Umstand kommt weder für sich noch in Zusammenschau mit anderen Faktoren Bedeutung zu, weil die schon seit 2005 durch getrennte Wohnungen gekennzeichnete persönliche Beziehung dadurch keinen spezifischen Belastungen ausgesetzt worden ist.

Eine abweichende Bewertung folgt entgegen dem Beschwerdevorbringen auch nicht aus dem § 56 g Abs. 2 S. 2 StGB zu Grunde liegenden Vertrauensschutzgedanken. Der auf einen rechtskräftigen Straferlass aufbauende Vertrauensschutz unterscheidet sich wesentlich von der Konstellation, dass während eines offenen Bewährungsaufsichtsverfahrens eine endgültige Entscheidung darüber, ob die Strafe erlassen oder die Strafaussetzung widerrufen wird, noch aussteht. Das gilt umso mehr, wenn – wie hier – die erstinstanzliche Widerrufsentscheidung dem Verurteilten noch vor Ablauf der Bewährungszeit bekannt gemacht worden ist. Der Verurteilte hat Anfang Dezember 2011 eine Verzögerungsrüge erhoben.

Das Beschwerdeverfahren ist für die Dauer von insgesamt rund fünf Monaten rechtsstaatswidrig verzögert worden.

Nachdem die Beschwerdebegründung der Verteidigung am 19. Juli 2010 bei dem Landgericht Hamburg eingegangen war, sind die ordnungsgemäß über die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde und über die Generalstaatsanwaltschaft geleiteten Akten am 20. August 2010 bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht eingegangen. Unmittelbar zuvor hatte der Verurteilte sich am 18. August 2010 zum Antritt der wegen der Widerrufsanlasstat erkannten siebenmonatigen Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt K. gestellt. Um seine Entwicklung im erneuten Behandlungsvollzug in die anzustellende neue Legalprognose einbeziehen zu können, war es jedenfalls vertretbar, das Strafende abzuwarten; dem entspricht das spätere Vorbringen der Verteidigung, welches die Entbehrlichkeit eines Widerrufes u.a. mit der Führung des Verurteilten in der neuen Strafhaft und mit dort stattgefundener therapeutischer Betreuung begründet hat. Dass aus nachträglicher Sicht die Entwicklung im Vollzug bei Gesamtwürdigung mit anderen Prognosefaktoren eine günstige Legalprognose nicht zu tragen vermag, lässt die potentielle Bedeutung der Vollzugsentwicklung und damit die Zulässigkeit des Abwartens unberührt.

Nach Haftentlassung vom 26. Februar 2011 war die Sache bearbeitungsreif. Wegen strukturell bedingter Überlastung hat der Senat das Beschwerdeverfahren gleichwohl von März bis Mitte Juni 2011 nicht fördern können. Damit ist es sachgrundlos für rund dreieinhalb Monate verzögert worden.

Die Bearbeitung in der zweiten Junihälfte 2011 hat dazu geführt, dass der Senat an der Monatswende Juni/Juli 2011 dem Verurteilten über die Verteidigung mitgeteilt hat, die Schlussberatung stehe im August 2011 an. Der Verteidiger hat die damit eröffnete Gelegenheit, zur weiteren Entwicklung des Verurteilten und zu dessen aktuellen Verhältnissen vorzutragen, am 16. Juli 2011 genutzt und ein Zuwarten bis zum Eingang einer Stellungnahme des Arztes Prof. Dr. B. angeregt; diese Stellungnahme ist am 1. September 2011 nachgereicht worden. Zu einem parallel eingeholten Bericht der Justizvollzugsanstalt K. hat der Verteidiger am 9. September 2011 Stellung genommen. Damit war die Sache entscheidungsreif.

Gleichwohl ergeht die Entscheidung erst rund dreieinhalb Monate später. Hiervon sind rund eineinhalb Monate durch die allgemeine Belastungssituation des Senats begründet, während für rund zwei Monate ein nicht vorhersehbarer und nicht vermeidbarer sachlicher Grund der Bearbeitung entgegenstand, weil der in die Sache seit Juni 2011 eingearbeitete Vorsitzende und Berichterstatter für diese Dauer (mit nur tageweisen einzelnen Unterbrechungen) dienstunfähig erkrankt war. Die kurzfristige Einarbeitung zusätzlich eines Vertreters in die durch eine komplexer und zehnjährige Vollstreckungsgeschichte gekennzeichnete Sache war mit Hinblick auf verfügbare Zeit und Ressourcen in Abgleich zur Bedeutung dieser und anderer zur Entscheidung anstehender Sachen nicht zu verantworten. Damit ist eine sachgrundlose Verzögerung – nur – um weitere rund eineinhalb Monate eingetreten.

Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kann auch im Strafvollstrekungsverfahren eine Kompensation gebieten. Ob dabei die vom Bundesgerichtshof für das Erkenntnisverfahren entwickelten Grundsätze der so genannten Vollstreckungslösung (BGHSt 52, 124) zu übernehmen sind, kann dahinstehen, weil nach Ausmaß und Auswirkung der Verzögerung vorliegend allemal die Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verzögerung des Widerrufsbeschwerdeverfahrens ausreicht.

Die so genannte Vollstreckungslösung knüpft daran an, dass durch staatliche Stellen zu verantwortende erhebliche Verzögerungen des Strafverfahrens den Beschuldigten in dessen Recht auf Verhandlung seiner Sache innerhalb angemessener Frist aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK und in dessen verfassungsmäßigem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 3 GG verletzen (BGH, a.a.O., 130, 132) und dafür eine Kompensation vorrangig mit durch das materielle und formelle Strafrecht zur Verfügung gestellten Mitteln vorzunehmen ist (BGH, a.a.O., 134 ff.).

Der an Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK anknüpfende Ansatz trägt indes im Strafvollstreckungsverfahren nicht, weil die Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf das Verfahren über eine „erhobene strafrechtliche Anklage“ beschränkt ist und ein solches Verfahren grundsätzlich mit rechtskräftigem Abschluss des Erkenntnisverfahrens endet, also nicht das strafrechtliche Vollstreckungs- und insbesondere Aussetzungswiderrufsverfahren erfasst (ganz h.M., vgl. Meyer in Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 Rdn. 32, 75; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Art. 6 MRK/Art. 14 IPBPR Rdn. 41; Paeffgen in SK-StPO, Art. 6 EMRK Rdn. 42).

Hingegen erfasst der Ansatz aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG auch das gerichtliche Strafvollstreckungsverfahren (vgl. BVerfG in NStZ-RR 2003, 379) und namentlich das Verfahren zum Widerruf einer Strafaussetzung (vgl. Pollähne in HK-StPO, 4. Aufl., § 453 c Rdn. 3); die Auffassung, eine entsprechende Anwendung des Beschleunigungsprinzips im Strafvollstreckungsverfahren scheide aus (so Pfeiffer/Hannich in KK-StPO, 6. Aufl., Einl. Rdn. 11), nimmt nur die Frage der Zulässigkeit der Vollstreckung, nicht aber die Dauer des erst die Vollstreckbarkeit herbeiführenden Widerrufsverfahrens in den Blick. Der Geltungsgrund des Gebotes zu angemessener Beschleunigung, neben dem öffentlichen Interesse vorwiegend die subjektiven Belange eines Beschuldigten zu schützen (vgl. BVerfG in NStZ 2006, 680, 681; BGHSt 26, 228, 232), erfasst auch das Widerrufsverfahren. So wie im Erkenntnisverfahren aus überlanger Ungewissheit über den Ausgang der Sache und insbesondere über die Sanktion eine besondere Belastung des Beschuldigten droht (vgl. BVerfG in NJW 1995, 1277), ist der Verurteilte im überlangen Verfahren über den Widerruf einer Strafaussetzung im Allgemeinen durch die Ungewissheit, ob die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe vollstreckt werden wird, belastet. Das Ausmaß dieser spezifischen Belastung ist zwar strukturell geringer als im Erkenntnisverfahren, weil Schuldspruch sowie Strafart und -höhe bereits rechtskräftig feststehen. Besonders spürbar wird die Strafe aber erst durch ihre Vollstreckung; die für den Betroffenen einschneidende Frage, ob er die Freiheitsstrafe wird verbüßen müssen, ist im Widerrufsverfahren offen und begründet im allgemeinen eine subjektive Belastung.

Bestätigt wird der Befund, auch rechtsstaatswidrige Verzögerungen des Widerrufsverfahrens seien dem Grunde nach beachtlich und ausgleichsfähig, durch § 198 GVG in der Fassung des Art. 1 Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – ÜberlVfRSchG – vom 24. November 2011 (BGBl I, 2302). Diese Vorschrift bestimmt, dass angemessen entschädigt wird, wer als Verfahrensbeteiligter infolge unangemessener Dauer „eines Gerichtsverfahrens“ einen Nachteil erlitten hat; Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 GVG ist nach dessen Abs. 6 S. 1 „jedes Verfahren“. Gerichtliche Strafvollstreckungsverfahren (hier das nach §§ 453, 454 Abs. 4 S. 1, 462 a StPO) sind weder begrifflich noch systematisch (§ 199 GVG in der Fassung des Art. 1 ÜberlVfRSchG, insoweit nicht geändert durch Art. 1 Nr. 5 Gesetz über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes vom 6. Dezember 2011 [BGBl I, 2554, 2555]) von „Gerichtsverfahren“ im Sinne des § 198 Abs. 1, Abs. 6 Nr. 1 GVG ausgenommen. Die gesonderte Erwähnung des Ermittlungsverfahrens (§ 199 Abs. 1 GVG), nicht jedoch des Vollstreckungsverfahrens dient lediglich der Ausweitung auf die staatsanwaltschaftlichen Teile des Ermittlungsverfahrens, lässt jedoch nicht auf eine Ausnahme der gerichtlichen Teile des Vollstreckungsverfahrens schließen. Die Gesetzesmaterialien belegen, dass § 198 GVG zur Umsetzung von Vorgaben nicht allein aus dem (das Vollstreckungsverfahren nicht umfassenden) Art. 6 Abs. 1 MRK, sondern auch aus dem (alle gerichtlichen Verfahren umfassenden) Art. 20 Abs. 3 GG bestimmt ist (Regierungsentwurf in BR-Drs. 540/10, S. 19, 24). Eine Ausklammerung gerichtlicher Strafvollstreckungsverfahren ist auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren (BR-Drs. 540/1/10, BR-Plenarprotokoll 875 vom 15. Oktober 2010, Stellungnahme des Bundesrates in BR-Drs. 540/10, BT-Plenarprotokoll 17/84 vom 20. Januar 2011, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages in BT-Drs. 17/7217, BT-Plenarprotokoll 17/130 vom 29. September 2011, BR-Drs. 587/11, BR-Drs. 587/1/11, BR-Plenarprotokoll 888 vom 14. Oktober 2011) nicht erwogen worden.

Damit ist dem Grunde nach die in der Rechtsprechung entwickelte und in §§ 198 Abs. 4, 199 Abs. 3 GVG in der Fassung des Art. 1 ÜberlVfRSchG kodifizierte Kompensationsregelung auch für rechtsstaatswidrige Verzögerungen eines gerichtlichen Verfahrens zum Widerruf der Strafaussetzung eröffnet. Ob wegen des aufgezeigten strukturellen Unterschiedes des Belastungsgrades von Betroffenen im Erkenntnisverfahren einerseits und im Widerrufsverfahren andererseits sowie wegen der aus der Rechtskraft der erkannten Freiheitsstrafe folgenden Besonderheiten auch die so genannte Vollstreckungslösung (BGHSt 52, 154) anwendbar ist, kann hier dahinstehen, weil vorliegend allemal die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (vgl. allg. BGH in NJW 2010, 1155 und NStZ 2010, 640; jetzt auch § 198 Abs. 4, § 199 Abs. 3 S. 1 GVG) ausreicht.

Das Verfahren ist während rund zunächst dreieinhalb und später nochmals eineinhalb Monaten sachgrundlos nicht gefördert worden. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer hängt von den Umständen des Einzelfalles ab; maßgeblich ist die Dauer des Gesamtverfahrens, nicht einzelner Abschnitte (vgl. BGH in wistra 2004, 140, 141). Von der insgesamt knapp ein Jahr sieben Monate umfassenden Verfahrensdauer entfallen rund fünf Monate auf eine sachgrundlose Nichtförderung. In diesem Umfang liegt eine rechtsstaatswidrige durch Justizorgane zu vertretende Verfahrensverzögerung vor.

Für deren Gewicht und die Belastung des Verurteilten werden insbesondere die beschränkte Dauer der sachgrundlosen Verzögerung, die Höhe des zur Vollstreckung drohenden Strafrestes von rund elf Monaten, die Ungewissheit des Verurteilten nur über die Vollstreckung statt auch über u.a. den – rechtskräftigen – Schuldspruch sowie die erörterten persönlichen Belastungen während des Zuwartens berücksichtigt. Nach Gesamtabwägung reicht zur Kompensation die – hiermit erfolgende – Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aus.

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