Rechtsanwalt Joachim Sokolowski

Fachanwaltskanzlei Sokolowski
63263, Neu-Isenburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht
18.11.2010

OLG Düsseldorf sagt ja zur nachträglichen Sicherungsverwahrung

Der 1. Strafsenat des OLG Düsseldorf hat sich in seinem Beschluss vom 25.10.2010 in dem Verfahren III-1 WS 256/10 der Meinung derjenigen Oberlandesgerichte angeschlossen, die beim gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung dem Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009 keine Bindungswirkung für die Gerichte beimessen und folgende Leitsätze aufgestellt:

  1. Die konventionsrechtliche Problematik des rückwirkenden Wegfalls der zehnjährigen Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung (EGMR Urteil vom 17. Dezember 2009, 19359/04) erfasst auch diejenigen „Altfälle“, bei denen die Sicherungsverwahrung aufgrund einer Überweisungsentscheidung gemäß § 67a Abs. 2 Satz 1 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen wird.
  2. Zur unmittelbaren „Umsetzbarkeit“ der Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 (19359/04) beim gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung.
  3. Nach zehnjährigem Vollzug der Sicherungsverwahrung ist zwecks Vorbereitung der Entscheidung gemäß § 67d Abs. 3 StGB und jeder daran anschließenden Nachfolgeentscheidung gemäß § 67d Abs. 2 StGB die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage erforderlich, ob von dem Untergebrachten nach wie vor die hangbedingte Gefahr einer Begehung erheblicher Straftaten ausgeht, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.

Seine Entscheidung, die hier im Volltext abgerufen werden kann, hat das OLG u.a. wie folgt begründet:

[...]
Der Senat schließt sich der Meinung derjenigen Oberlandesgerichte an, die beim gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung dem Urteil des EGMR vom 17. Dezember 2009 keine Bindungswirkung für die Gerichte beimessen.

aa) Zur Berücksichtigung von Entscheidungen des EGMR durch deutsche Gerichte hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2004 (NJW 2004, 3407) grundsätzlich Stellung bezogen. Die EMRK gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts zu beachten (aaO S. 3408), wobei den Entscheidungen des EGMR besondere Bedeutung zukommt, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt (aaO S. 3409). Hierbei sind jedoch die Auswirkungen der jeweiligen Entscheidung auf die nationale Rechtsordnung einzubeziehen. Vorrang genießt die konventionsgemäße Auslegung nur, solange im Rahmen geltender methodischer Standards entsprechende Abwägungsspielräume eröffnet sind. Sie scheidet indes aus, wenn sie auf einen Verstoß gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder gegen deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich Grundrechte Dritter, hinauslaufen würde (S. 3411).

bb) In Anwendung dieser Grundsätze kommt eine unmittelbare “Umsetzung” des EGMR-Urteils mittels Anwendung des § 67d StGB a.F. – mit der Folge einer sofortigen Entlassung des Verurteilten aus der Sicherungsverwahrung – derzeit nicht in Betracht, da die gegenwärtige Rechtslage hierfür keinen Auslegungsspielraum eröffnet.

Der Gesetzgeber hat bei der Änderung des Rechts der Sicherungsverwahrung durch das Sexualdeliktebekämpfungsgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160) mittels Einfügung eines dritten Absatzes in Art. 1a EGStGB seinen erklärten Willen zum Ausdruck gebracht, dass die Abschaffung der absoluten Höchstfrist – zu Gunsten der in § 67d Abs. 3 StGB n.F vorgesehenen differenzierten Regelung – im Interesse eines möglichst umfassenden Schutzes der Allgemeinheit vor drohenden schwersten Rückfalltaten auch für “Altfälle” gelten solle (vgl. hierzu BT-Drs. 13/9062 S. 12). Die spätere Streichung der Vorschrift (mit Änderung des Art. 1a EGStGB durch Gesetz vom 23. Juli 2004, BGBl. I 1838) nahm der Gesetzgeber nur deshalb vor, weil er sie vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das den fehlenden Rückwirkungsschutz für “Altfälle” ausdrücklich gebilligt hatte (BVerfGE 109, 133), für entbehrlich hielt (vgl. BT-Drs. 15/2887 S. 20). Der Umstand, dass das nationale Recht keine Regelung vorsieht, die in Abweichung vom Grundsatz des § 2 Abs. 6 StGB bei der Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB einen Rückwirkungsschutz für “Altfälle” anordnet, beruht daher auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers.

Angesichts dieser Rechtslage würde die unmittelbare Umsetzung des EGMR-Urteils mittels Anwendung des § 67d a.F. geltenden methodischen Standards der Gesetzesauslegung widersprechen und auf einen Verstoß gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht hinauslaufen. Zwar wird man dem Gesetzgeber nicht unterstellen können, dass er bei seiner Neuregelung des § 67d StGB durch das Sexualdeliktebekämpfungsgesetz unter bewusster Inkaufnahme eines etwaigen Konventionsverstoßes handelte. Auch diese Überlegung berechtigt die Gerichte indes nicht, den damaligen Willen des Gesetzgebers angesichts der mittlerweile erfolgten Feststellung eines Konventionsverstoßes bei der heutigen Normauslegung außer Acht zu lassen. Auf welche Weise der deutsche Staat seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung des EGMR-Urteils nachkommt und inwieweit hierbei das mit den nationalen Vorschriften ursprünglich verfolgte rechtspolitische Ziel (des Schutzes der Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern jenseits der Höchstfrist auch in “Altfällen”) aufgegeben werden soll, ist eine gesetzgeberische Entscheidung, der die Gerichte nicht durch eine schematische “Umsetzung” des EGMR-Urteils vorgreifen dürfen (hierzu ausführlich und zutreffend: OLG Köln Beschlüsse vom 14. Juli 2010 [2 Ws 428/10 und 2 Ws 431/10]).

c) Die rückwirkende Anwendung des § 67d Abs. 3 StGB n.F. auf “Altfälle” verstößt nach Ansicht des Senats – auch im Lichte der Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 – nicht gegen Verfassungsrecht. Insoweit gelten die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 5. Februar 2004 fort, das – insbesondere – auf einer umfassenden Abwägung zwischen dem Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und der Pflicht des Staates zum Schutz der Grundrechte potentieller Deliktsopfer beruht (BVerfGE 109, 133, 184-187). Der mit einer Rückwirkung des § 67d Abs. 3 StGB verbundene Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten ist unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten im Interesse überragender Gemeinwohlgüter vorerst hinzunehmen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren dort mittlerweile anhängigen Verfahren nicht veranlasst gesehen, die jeweiligen Beschwerdeführer mittels Erlass einer einstweiligen Verfügung umstandslos auf freien Fuß zu setzen (vgl. die Beschlüsse vom 22. Dezember 2009 [2 BvR 2365/09], 19. Mai 2010 [2 BvR 769/10] und 30. Juni 2010 [2 BvR 571/10]), was aber bei einer zwingenden “1:1-Umsetzung” des EGMR-Urteils auf verfassungsrechtlicher Ebene erforderlich gewesen wäre.

Copyright © 2010 by Anwalt bloggt J. Sokolowski