Rechtsanwalt Joachim Sokolowski

Fachanwaltskanzlei Sokolowski
63263, Neu-Isenburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht
11.01.2013

Entschädigung für überlanges Strafverfahren?

Entscheidung des OLG FrankfurtDas OLG Frankfurt hat in seiner Entscheidung vom 7.11.2012 (4 EntV 4/12) festgestellt, dass im Entschädigungsverfahren nach den §§ 198 ff. GVG die Beurteilung des Strafgerichts hinsichtlich der Strafbarkeit bestimmter Handlungen nicht zu überprüfen sei.
Gegenstand der Beurteilung des Entschädigungsgerichts sei es allein, ob die das Ausgangsverfahren abschließende Entscheidung nach dem ihr zugrunde liegenden Verfahren früher hätte getroffen werden können, also unangemessen verzögert worden ist.
Ob die Berücksichtigung der unangemessenen Verfahrensdauer durch das Strafgericht zutreffend und ausreichend ist, sei vom Entschädigungsgericht nicht zu prüfen, denn nach § 199 III S. 2 GVG sei das Entschädigungsgericht bei Klagen des Beschuldigten “hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden”.
Die Berücksichtigung einer unangemessenen Verfahrensdauer sei im Strafverfahren nicht allein durch eine Milderung der Strafe im Fall der Verurteilung, sondern auch bei Entscheidungen über eine Verfahrenseinstellung nach den §§ 153, 153a, 154 und 154a StPO möglich. Sie könne insoweit in die Entscheidung einfließen, als das Gericht oder die Staatsanwaltschaft bei der Ausübung ihres Beurteilungsspielraums oder eines Ermessens die lange Verfahrensdauer bei der zu treffenden Entschließung berücksichtigen. Von einer Berücksichtigung der Verfahrensdauer kann nur dann nicht gesprochen werden, wenn die Einstellung des Verfahrens allein aus anderen Gründen erfolgt.
Schließlich könne die Berücksichtigung einer unangemessenen Verfahrensdauer im Strafverfahren auch konkludent erfolgen. Ob dies der Fall war, könne vom Entschädigungsgericht jedoch nur anhand hinreichend beweiskräftiger Indizien festgestellt werden.

Im Einzelnen führt das OLG in seinen Entscheidungsgründen u.a. folgendes aus:

[...] Ein Anspruch des Klägers auf eine Entschädigung für die – möglicherweise – unangemessene Dauer dieses Strafverfahren ist ausgeschlossen, weil dem Kläger eine ausreichende Wiedergutmachung durch Berücksichtigung der Dauer des Verfahrens im Strafverfahren zuteil geworden ist.
Nach § 198 Abs. 2 S. 2 GVG kann eine Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen unangemessener Verfahrensdauer nur beansprucht werden, wenn nicht nach den Umständen Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Nach § 199 Abs. 3 S. 1 GVG gilt es als eine ausreichende Wiedergutmachung in diesem Sinne, wenn das Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Strafverfahrens zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt hat.
Dass dies geschehen ist, ergibt sich aus dem Beschluss des Landgerichts Gießen vom 25.1.2011. In diesem Beschluss hat das Landgericht bei der (deklaratorischen) Feststellung, dass das Verfahren nach nur vorläufiger Einstellung endgültig eingestellt sei, inzident geprüft, ob das Verfahren nach der Einstellung des parallelen Steuerstrafverfahrens, wegen dem die vorläufige Einstellung erfolgt war, nach § 154 Abs. 4 StPO wieder aufzunehmen war. Es hat seine Ermessensentscheidung, das Verfahren innerhalb der 3-Monatsfrist des § 154 Abs. 4 StPO nicht wieder aufzunehmen, vor allem damit begründet, dass sich im Falle einer Verurteilung bei der Strafzumessung die „lange Verfahrensdauer“ erheblich „strafmildernd auswirken“ werde (S. 4 des Beschlusses, Strafakte Bd V Bl. 879 f.). Darüber hinaus wären weitere Ermittlungen erforderlich geworden, die zu einer weiteren Verzögerung geführt hätten. Auf die weitere Strafverfolgung habe daher verzichtet werden müssen, da es unangemessen lange gedauert hätte, bis ein Urteil in dieser Sache hätte ergehen können.

Das Landgericht hat mithin bei seiner Entscheidung, innerhalb der Frist des § 154 Abs. 4 StPO das Verfahren nicht wieder aufzunehmen, die unangemessene Verfahrensdauer im Sinne von § 199 Abs. 3 S. 1 GVG „berücksichtigt“.

Ob die Berücksichtigung durch das Strafgericht zutreffend und ausreichend ist, ist vom Entschädigungsgericht nicht zu prüfen. Denn nach § 199 Abs. 3 S. 2 GVG ist das Entschädigungsgericht bei Klagen des Beschuldigten „hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden“. Damit sollen nach der Begründung des Regierungsentwurfs zu dieser Bestimmung „widersprüchlich Beurteilungen der Strafgerichte und der Entschädigungsgerichte zu ein- und derselben Frage“ vermieden werden (Bt-Drucks. 17/3802, S. 24). Folglich kann sich der Beschuldigte im Entschädigungsverfahren nicht darauf berufen, das Strafgericht habe die unangemessene Verfahrensdauer nicht ausreichend berücksichtigt (vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, A. § 199 GVG Rn. 33).
[...]
Dem Kläger steht wegen der von ihm wegen überlanger Dauer dieses Strafverfahrens geltend gemachten immateriellen Nachteile ein Anspruch auf eine Entschädigung nach den § 199 Abs. 1 GVG i.V.m. § 198 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 BGB gleichfalls nicht zu, weil ein etwaiger Anspruch bereits wegen Wiedergutmachung auf andere Weise durch Berücksichtigung der unangemessenen Verfahrensdauer im Strafverfahren nach den §§ 198 Abs. 2 S. 2, 199 Abs. 3 GVG ausgeschlossen ist.

Ob dieses gegen den Kläger wegen des Vorwurfes einer Steuerhinterziehung gerichtete Strafverfahren eine „unangemessene Dauer“ im Sinne von § 198 Abs. 1 GVG hatte und seine Beendigung um 6 ½ Jahre verzögert worden ist, kann dahin gestellt bleiben.

Der Senat weist gleichwohl darauf hin, dass nach seiner Auffassung der Zeitraum von 2 Jahren und 2 Monaten, in dem die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens zwischen dem 22.11.2006 und dem 5.2.2009 vom Landgericht zurückgestellt worden ist, als sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Verfahrens einzustufen ist. Dieser Verfahrensstillstand vermochte hier entschädigungsrechtlich nicht damit gerechtfertigt zu werden, dass dem Kläger damit die Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung der in beiden Verfahren zu erwartenden Verurteilungen oder alternativ die Möglichkeit der Abgabe des Verfahrens an das Amtsgericht (mit dem Vorteil einer zweiten Tatsacheninstanz) erhalten bleiben sollte. Denn nach der Anklageschrift wurde dem Kläger vorgeworfen, er habe Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer von zusammen 617.318,- Euro hinterzogen. Durch den zwei Jahre und zwei Monate später gefassten Beschluss, mit dem die Anklage überwiegend nicht zugelassen wurde, reduzierte sich dieser Tatvorwurf letztlich auf eine Hinterziehung von Einkommensteuer in Höhe von 5.890,- Euro und rechtfertigte – neben anderen Gesichtspunkten – die Einstellung des Verfahrens nach § 153 a StPO. Diese Entscheidung hätte jedoch schon ungefähr einen Monat nach der Zurückstellung der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens am 22.11.2006 getroffen werden können.

Die Tatsachen, auf denen die überwiegende Nichtzulassung der Anklage nach der Beurteilung des Landgerichts im Beschluss vom 5.2.2009 beruhte, waren schon im November 2006 ermittelt. Dass der Kläger über zwei Jahre hinweg ungerechtfertigt unter einem wesentlich erheblicheren Strafvorwurf stand, stellte eine erhebliche Belastung dar. Für eine Steuerstraftat mit einer verkürzten Steuer ab 500.000,- Euro drohte dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe. Demgegenüber kam bei einer Steuerverkürzung von nur 5.860,- Euro allenfalls eine Geldstrafe in Betracht. Die Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung mit einer Freiheitsstrafe im parallelen Strafverfahren nach dem AMG oder eine Anklage vor dem Amtsgericht vermag in dieser Lage – jedenfalls ohne Zustimmung des Angeschuldigten – die Zurückstellung der Entscheidung über die Zulassung der Anklage über zwei Jahre nicht zu rechtfertigen.
[...]
Das Gesetz schreibt nicht vor, in welcher Form die Strafgerichte die unangemessene Verfahrensdauer zu berücksichtigen haben. Allein für verurteilende Strafurteile ist es nach der Rechtsprechung des Großen Senats in Strafsachen beim BGH im Jahre 2008 (BGHSt 52, 124) geboten, eine Berücksichtigung für die Strafvollstreckung im Tenor auszusprechen. Für Verfahrenseinstellungen ist eine entsprechende Begründung nicht vorgeschrieben. Die Berücksichtigung einer unangemessenen Verfahrensdauer kann deshalb auch konkludent erfolgen. Ob dies der Fall war kann vom Entschädigungsgericht jedoch nur anhand hinreichend beweiskräftiger Indizien festgestellt werden.
[...]
Da die unangemessene Dauer des Verfahrens bei der Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO vom Strafgericht berücksichtigt worden ist, kann offen bleiben, ob bei einer Einstellung nach § 153a StPO ein Anspruch auf Entschädigung generell deswegen ausgeschlossen ist, weil der Beschuldigte dazu seine (notwendige) Zustimmung erteilt hat. Dies ist in Erwägung zu ziehen, weil der EGMR in einer Entscheidung vom 10.7.2007 (Az. 41514/04) festgestellt hat, dass die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers im Bezug auf einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK weggefallen sei, weil er als Beschuldigter einer Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO zugestimmt habe. Denn er habe sich dadurch in eine Lage versetzt, durch die er den innerstaatlichen Rechtsweg bezüglich der Rüge der Verfahrensdauer (ergänze: durch Strafmilderung im Urteil) nicht beschreiten konnte. Der Senat hat Bedenken, ob dies für die Anwendung der §§ 198 ff GVG gelten kann. Gegen einen generellen Ausschluss der Entschädigung bei einer Einstellung nach § 153a StPO unter Hinweis auf die sonst mögliche Milderung der Strafe im Urteil nach Durchführung der Hauptverhandlung spricht, dass die Einstellung des Verfahrens selbst eine „Milderung“ gegenüber einer Strafe darstellt. Die Einstellung des Verfahrens wird nicht als Strafe im BZRG verzeichnet und ist nicht mit der „Prangerwirkung“ einer öffentlichen Hauptverhandlung verbunden. Dementsprechend ist auch der Gesetzgeber bei Schaffung der §§ 198 ff. GVG davon ausgegangen, dass einer zu langen Verfahrensdauer auch durch die Einstellung des Strafverfahrens an Stelle einer Entscheidung durch Urteil Rechnung getragen werden kann und hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Einstellung nach § 153a StPO benannt
[...]

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