Artikel
01.10.2010
EU-Führerschein: LG Gießen legt vor
Das LG Gießen hat dem EuGH am 21.09.2010 in dem Verfahren 1 Ns 603 Js 36155/08 bezüglich des EU-Führerscheins folgende Fragen vorgelegt: Sind a) Artikel 1 Abs. 2 i.V.m. Art. 8 Abs. 4, 2 der Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (91/439/EWG) b) Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (Neufassung) dahin auszulegen, 1. dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn dem Erwerb der Fahrerlaubnis im Ausstellerstaat eine Versagung einer Fahrerlaubnis im Aufnahmestaat vorausgegangen ist, weil die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt worden seien; 2. bejahendenfalls: dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn dem Erwerb der Fahrerlaubnis im Ausstellerstaat eine Versagung einer Fahrerlaubnis im Aufnahmestaat vorausgegangen ist, weil die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges nicht erfüllt worden seien und aufgrund von Angaben auf dem Führerschein, sonstigen vom Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen oder aufgrund sonstiger unzweifelhafter Erkenntnisse, insbesondere etwaiger Angaben des Führerscheininhabers selbst oder weiterer sicherer Erkenntnisse des Aufnahmestaates, feststeht, dass ein Verstoß gegen die Wohnsitzregel des Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL 91/439/EWG bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. e der RL 2006/126/EG vorliegt – soweit sonstige unzweifelhafte Erkenntnisse, insbesondere etwaige Angaben des Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des Aufnahmestaates nicht ausreichen: Rühren Informationen auch dann im Sinne der Rechsprechung des Gerichtshofes vom Ausstellerstaat her, wenn sie nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar in Form einer auf solche Informationen gestützten Mitteilung Dritter, insbesondere der Botschaft des Aufnahmestaates im Ausstellerstaat, übermittelt wurden –; 3. dass sie es einem Mitgliedsstaat (Aufnahmestaat) verwehren, es abzulehnen, die von einem anderen Mitgliedsstaat (Ausstellerstaat) erteilte Fahrerlaubnis in seinem Hoheitsgebiet anzuerkennen, wenn zwar die formalen Voraussetzungen für den Erwerb eines Führerscheins im Ausstellerstaat gewahrt wurden, jedoch feststeht, dass der Aufenthalt allein dem Führerscheinerwerb und keinen weiteren vom Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten des AEUV und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, geschützten Zwecken dient (Führerscheintourismus) ? Die Vorlage begründet das LG u.a. wie folgt: Nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG (anwendbar für beide Fahrten des Angeklagten) bzw. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126/EG (anwendbar für die Fahrt vom 01.03.2009) werden die von den Mitgliedsstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt. Art. 8 Abs. 4 der RL 91/439/EWG sieht vor, dass ein Mitgliedsstaat es ablehnen kann, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedsstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie genannten Maßnahmen (Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis) angewendet wurde. Entsprechende Regelungen finden sich auch in Art. 11 Abs. 4 der RL 2006/126/EG (gültig ab 19.01.2009), die hinsichtlich Einschränkung, Aussetzung und Entzug dahingehend verschärft sind, dass die Nichtanerkennung nun zwingend vorgeschrieben ist. Vor diesem Hintergrund fragt sich zunächst, ob die vom Jugendschöffengericht angewandte Regelung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV in den Fällen den unionsrechtlichen Vorgaben genügt, in denen nicht eine bereits einmal erteilte Fahrerlaubnis wieder entzogen, sondern bereits die erste Erteilung verweigert (versagt) wird. So verhält es sich hier. Die tschechische Fahrerlaubnis war die erste, die dem Angeklagten erteilt wurde, sein früherer Antrag in Deutschland wurde zurückgewiesen. Nach Einschätzung der vorlegenden Kammer dürfte die Regelung mit den unionsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sein. Der Gerichtshof hat bereits in der Rechtssache Kapper (C-476/01) im Urteil vom 29.04.2004 ausgesprochen, dass einer Person nicht auf unbestimmte Zeit die Anerkennung eines Führerscheins versagt werden dürfe, der ihr möglicherweise später von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellt wird (Rn. 76). Dies hat der Gerichtshof im Beschluss vom 28.9.2006, C-340/05, Rs. Kremer, Rn. 29, 34, nochmals bestätigt. Wenn die frühere Versagung einer Fahrerlaubnis allein die Nichtanerkennung der später in einem anderen Mitgliedsstaat erworbenen Fahrerlaubnis nicht rechtfertigt, fragt sich für die Anwendung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 sowie Nr. 2 FeV, ob dies doch der Fall ist, wenn die Fahrerlaubnis früher versagt wurde und feststeht, dass ein Verstoß gegen die Wohnsitzregel des Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL 91/439/EWG bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. e der RL 2006/126/EG vorliegt. Der Gerichtshof hat diese Frage, soweit ersichtlich, bislang lediglich für den Fall entschieden, dass dem Führerscheinerwerb ein Entzug einer frühren Fahrerlaubnis vorangegangen ist (Urt. v. 26.06.2008, C-329/06 und C-343/06, Rs. Wiedemann und Funk; auch in dem Beschluss v. 28.09.2006, C-340/05, Rs. Kremer, wurde maßgeblich auf den Entzug, nicht auf eine ebenfalls vorliegende Versagung abgestellt). Es fragt sich daher, ob die in den Richtlinien nicht ausdrücklich erwähnte Versagung dem Entzug gleichsteht. Dabei fragt sich weiter, ob der Verstoß allein aufgrund von Angaben auf dem Führerschein und sonstigen vom Ausstellerstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen feststellbar sein muss, worauf das genannte Urteil des Gerichtshofes vom 26.06.2008 hindeutet, oder auch sonstige unzweifelhafte Erkenntnisse Berücksichtigung finden können, insbesondere etwaige Angaben des Führerscheininhabers selbst oder weitere sichere Erkenntnisse des Aufnahmestaates. Sofern letzteres zu verneinen sein sollte, fragt sich, ob Informationen auch dann im Sinne der Rechsprechung des Gerichtshofes vom Ausstellerstaat herrühren, wenn sie nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar in Form einer auf solche Informationen gestützten Mitteilung Dritter, insbesondere der Botschaft des Aufnahmestaates im Ausstellerstaat, übermittelt wurden. Die nationale Regelung des § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV n. F. würde bei unionsrechtlicher Zulässigkeit von der Kammer in diesem Sinne ausgelegt. Schließlich fragt sich für die Anwendung des § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV, ob die Berufung auf die Regelungen der Richtlinien missbräuchlich und damit unbeachtlich ist, wenn zwar die formalen Voraussetzungen für den Erwerb eines Führerscheins im Ausstellerstaat gewahrt wurden, jedoch feststeht, dass der Aufenthalt allein dem Führerscheinerwerb und keinen weiteren vom Unionsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten des AEUV und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, geschützten Zwecken dient (Führerscheintourismus), die Richtlinien der Anwendung nationaler die Anerkennung versagender Bestimmungen in diesen Fällen also nicht entgegenstehen. Es ist der vorlegenden Kammer aufgrund der deutschen Strafprozessordnung nicht möglich, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung vor Vorlage an den Gerichtshof abschließend zu klären, da die Hauptverhandlung nach einer Entscheidung des Gerichtshofes ohne Bindung an frühere Feststellungen zu wiederholen sein wird. Die Entscheidung kann hier auf den Seiten des Hessenrechts im Volltext abgerufen werden. Copyright © 2010 by Anwalt bloggt J. Sokolowski