Rechtsanwalt Joachim Sokolowski

Fachanwaltskanzlei Sokolowski
63263, Neu-Isenburg
Rechtsgebiete
Strafrecht Sozialrecht
24.03.2012

Die selbe Tat?

Das OLG Celle hat sich in seinem Beschluss vom 09.02.2012 – 32 HEs 1/12 – mit dem Begriff derselben Tat i.S.d. § 121 Abs 1 StPO befasst und festgestellt, dass alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind, unter diesen Begriff fallen.

Entsteht im weiteren Verlauf der Ermittlungen ein dringender Tatverdacht wegen einer anderen Tat, beginnt die Frist des § 121 StPO zu dem Zeitpunkt, an dem sich bei ordnungsgemäßer Ermittlungstätigkeit der dringende Tatverdacht und somit die Möglichkeit einer Haftbefehlserweiterung erstmals ergeben hat. Dies gilt aber nur, wenn die weitere Tat, um die der Haftbefehl ergänzt wird, auch für sich allein den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigt.

In den Entscheidungsgründen hat das Gericht hierzu u.a. Folgendes festgestellt:

Das Oberlandesgericht ist gemäß § 121 Abs. 1 StPO nur dann zur Entscheidung berufen, wenn Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ über sechs Monate hinaus vollzogen werden soll. Der Begriff „derselben Tat“ wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich verstanden. Die inzwischen wohl überwiegende Auffassung vertritt den sogenannten „erweiterten Tatbegriff“. Danach fallen unter den Begriff „derselben Tat“ alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (so OLG Koblenz, NStZ-RR 2001, 152 Rdnr. 9; OLG Stuttgart, StV 2008, 85 Rdnr. 6; Karlsruher Kommentar StPO Schultheis, 6. Aufl., § 121 Rdnr. 10 m. w. N.). Dieser Auffassung hat sich auch der Senat bereits angeschlossen (Beschluss vom 22.11.2010, 32 HEs 6/10). Er hält an dieser Auslegung des Tatbegriffs aus § 121 Abs. 1 StPO fest.

Die gegenteilige Auffassung, welche den Tatbegriff gemäß § 121 Abs. 1 StPO verfahrensbezogen auslegt (OLG Köln, NStZ-RR 1998, 181 f., OLG Koblenz, NStZ-RR 2001, 124 m. w. N.), führt dazu, dass die Haftzeiten aus dem früheren Haftbefehl und aus dem erweiterten Haftbefehl zusammengerechnet werden müssten, soweit die Haftbefehle im selben Verfahren oder in verbindungsreifen Verfahren erlassen worden sind. Neu bekannt gewordene Taten, die ihrerseits den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigen, wären dann aber innerhalb der seit dem ersten Haftbefehl laufenden Sechs-Monatsfrist kaum noch aufzuklären und anzuklagen, geschweige denn einer Hauptverhandlung zuzuführen. Zudem hinge die Weiterbehandlung der neuen Haftsache weitgehend vom Zufall ab, da sich neue Vorwürfe sowohl im selben Verfahren als auch in völlig getrennt geführten Verfahren ergeben können. Ein zwingender sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung von Haftverfahren erschließt sich nicht (so auch OLG Koblenz, NStZ-RR 2001, 152, Rdnr. 25 f.). Auch die Unterscheidung nach Ermittlungskomplexen, welche die Ermittlungsrichtung bestimmt haben (so OLG Bremen, NStZ-RR 1997, 334, 335, KG Berlin, Beschluss vom 28.02.2005, 1 HEs 11/05, Rn. 7 f.), liefert kein brauchbares Abgrenzungskriterium.

b) Die Auffassung, wonach die Fristberechnung nach §§ 121, 122 StPO unter Zugrundelegung der letzten bekannt gewordenen Tat erfolgt, die in den Haftbefehl aufgenommen wurde, bedarf im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht jedes Angeklagten und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit allerdings der Einschränkung.
aa) Nur als selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es nicht zu missbräuchlichen, sog. “Reservehaltungen” von Tatvorwürfen kommen darf, um die Frist des § 121 StPO künstlich zu verlängern (s. zur einhelligen Auffassung nur Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. § 121 Rn. 12 m. w. N.).
bb) Zur Berechnung des Fristbeginns darf auch nicht auf den Erlasszeitpunkt des neuen oder erweiterten Haftbefehls abgestellt werden, sondern auf den Zeitpunkt, an dem sich bei ordnungsgemäßer Ermittlungstätigkeit der dringende Tatverdacht und somit die Möglichkeit einer Haftbefehlserweiterung erstmals ergeben hat (ebenso OLG Koblenz, a. a. O.; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2004, 125, Rnr. 15 KK-Schultheis, a. a. O., m. w. N.).

cc) Schließlich muss die weitere Tat, um die der Haftbefehl ergänzt wird, auch für sich allein den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigen, um eine Schlechterstellung des Angeklagten im Hinblick auf die gesetzlichen Voraussetzungen der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO zu vermeiden. Denn für einen Haftbefehl nur wegen der zuletzt genannten Tat liefe wiederum die Sechsmonatsfrist nach § 121 Abs. 1 StPO, sodass das Freiheitsgrundrecht eines Angeklagten durch die vom Senat angewendete Fristberechnung nicht nachteilig berührt wird.

c) Diese Anforderungen sind beim Angeklagten J. erfüllt. In dem neu gefassten Haftbefehl des Landgerichts Stade gegen ihn vom 12.01.2012 war erstmals u. a. die Tat Nr. 2 der Anklage aufgenommen worden. Dabei geht es um einen Einbruch in ein Bekleidungsgeschäft in W. in der Nacht zum 16.02.2011. Wie sich aus der zugehörigen Fallakte ergibt, sind die Ermittlungen wegen dieses Vorwurfs zunächst gegen zwei andere Beschuldigte geführt worden. In einem öffentlichen Mülleimer nahe dem Tatort waren Handschuhe und ein Hebelwerkzeug aufgefunden worden. Die molekulargenetische Untersuchung der an diesen Handschuhen haftenden biologischen Spuren ist durch die damals noch sachbearbeitende Polizeidirektion Südwest-Sachsen bereits am 17.02.2011, also einen Tat nach dem Einbruch, in Auftrag gegeben worden (Fallakte 2011/02/16, Bl. 235). Erst als sich im Laufe der Ermittlungen der Anfangsverdacht einer Beteiligung des Angeklagten J. ergab, wurde der Untersuchungsauftrag auf dessen DNA-Daten ausgeweitet (Fallakte Bl. 254). Das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität L. dazu lag den Ermittlungsbehörden erst am 24.10.2011 vor (Fallakte, Bl. 332). In diesem Gutachten wird der Angeklagte J. als Hauptverursacher der genannten biologischen Spur bezeichnet. Damit bestand erst zu diesem Zeitpunkt ein dringender Tatverdacht gegen den Angeklagten J. auch wegen der Tat vom 16.02.2011, sodass die Frist zur Haftprüfung nach § 121 Abs. 1 StPO erst am 24.10.2011 begann. Der Sechsmonatszeitraum nach §§ 121, 122 StPO endet danach erst am 24.04.2012, sodass eine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten J. derzeit noch nicht ansteht.

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